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AKZENTE/090: Die Romane Dan Browns ... (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 11/2005

Scharlatanerie oder neue Religion? Die Romane Dan Browns als Herausforderung für Kirche und Theologie

Von Joachim Valentin


Mit Phantasy-Literatur à la Harry Potter, populären Historienromanen und dem postfeministischen Beziehungsroman hat sich ein neues Literatur-Genre etabliert, das vor allem eine gehobene mittlere Bildungsschicht, bestimmte Sehnsüchte und Erwartungen anspricht. Die größten Erfolge feiern hier die Bücher von Dan Brown. Kirche und Theologie sollten sich mit diesem Phänomen offen und kritisch auseinandersetzen.


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Kaum zehn Jahre liegen die Warnungen selbst ernannter Kulturwächter zurück, die alteuropäisch-bürgerliche Kultur des Lesens drohe zu verschwinden und damit ein Medium, das in besondere Weise die Phantasie und Gestaltungskraft ihrer Konsumenten fördere. Angeführt von dem US-amerikanischen Medientheoretiker Neil Postman erklärten sie, Privatfernsehen, Computerspiele und neuerdings das Internet seien eine zu übermächtige, letztlich zur Verdummung ganzer Generationen führende Konkurrenz. Steigende Auflagenzahlen und die immer unübersichtlicher werdende Flut von Buchneuerscheinungen strafen diese Prognose Lügen. Neuere Untersuchungen zeigen vielmehr, dass die für den "Medienkonsum" (und damit auch für die Buchlektüre) insgesamt aufgewendete Zeit mit jedem neu eingeführten Medium wächst.

Unbestritten ist allerdings ein Wandel der Lesekultur. Zwischen Arzt-, Liebes- und Kriminalromanen und anderer Trivialliteratur einerseits und der klassischen Hochliteratur andererseits, die sich grob gesprochen aus einem bürgerlichen Bildungskanon von der "Göttlichen Komödie" bis zur "Blechtrommel" und formal experimentellen Neuerscheinungen speist, hat sich mit Phantasy- Literatur à la Harry Potter, populären Historienromanen und dem postfeministischen Beziehungsroman ein neues Genre etabliert. Als Zielgruppe spricht es primär jene gehobene mittlere Bildungsschicht an, welche nach wie vor den Verlagen große Verkaufserfolge beschert.

Die größten Erfolge feiern hier die Bücher des ehemaligen High-School-Lehrers Dan Brown, dem es seit beinahe einer Dekade gelingt, in den USA und weltweit einen Bestseller nach dem andern zu landen. Unterstützt von seiner Gattin, einer promovierten Kunsthistorikerin, komponiert er Romane, die wohl am ehesten dem Genre des Thrillers zuzuordnen sind. Ihr Strickmuster und die gewählten Ingredienzen sind so einheitlich wie wirkungsvoll: Wir finden unterhaltsam Konglomerate aus Verschwörungskrimi, Volkshochschulkurs, bisweilen gewürzt mit etwas Kirchenkritik. Charakteristisch ist vor allem die Verflechtung von Aktualität und historischen Bezügen.

Der Rückgriff auf Umberto Ecos Erfolgsrezept

Die beiden letzten und mit Abstand erfolgreichsten Romane "Angels and Demons", USA 2000 (deutsch: `Illuminati', 2003), und "The Da Vinci Code", USA 2003 (deutsch: `Sakrileg', 2004) bieten dabei - anders als die eher im säkularen Milieu angesiedelten frühen Werke "Digital Fortress", 1998 (deutsch: Diabolus, 2005 ) und Meteor, USA 2001 (deutsch: 2003) - die Fiktion einer Reise in die Vergangenheit eines lebendigen europäischen Christentums.

`Illuminati' startet im Genfer Kernforschungszentrum CERN. Ein hochdekorierter Wissenschaftler wird grausam ermordet - der gedungene Mörder wollte ihm ein Geheimnis abpressen, dessen stückweise Enthüllung von nun an die Romanhandlung vorantreibt. Dabei spielt der Symbolologe Dr. Robert Langdon eine entscheidende Rolle. Eskortiert von der Tochter des Mordopfers, stößt er im Vatikan auf eine groß angelegte Erpressungsmaschinerie, die - inszeniert von der angeblich altehrwürdigen Geheimgesellschaft der `Illuminati' - ihre ehemaligen Erzfeinde, die katholische Kirche, aber mit ihr auch ganz Rom zu vernichten droht. Im Verlauf der dramatischen Ereignisse, bei denen unter anderem einige gerade zum Konklave versammelten Kardinäle zu Tode kommen, stellt sich der idealistische, aber irregeleitete Camerlengo als eigentlicher Drahtzieher heraus. Die Katastrophe kann in letzter Minute vereitelt werden.

'Sakrileg' ist strukturell sehr ähnlich aufgebaut, nur dass Robert Langdon, der sich zum Serienheld Browns zu mausern scheint, nun den "eigentlichen Wurzeln des Heiligen Grals" auf der Spur ist. Angeregt von einem mysteriösen Mord im Louvre, stößt Langdon auf die Liebesbeziehung Jesu zu Maria Magdalena. Aus dieser entsprang ein alternatives, seit dem Konzil von Nicaea aber erfolgreich unterdrücktes Christentum, dem unter anderem das Geschlecht der Merowinger entstammt, und in dessen Mittelpunkt die Heilige Hochzeit zwischen Mann und Frau als religiöses Urereignis steht - symbolisiert durch ein Hexagramm oder eben den Gral.

Kennzeichnend für Browns Arbeitsweise ist die Adaptation des von dem italienischen Sprachwissenschaftler und Erfolgsautor Umberto Eco hinlänglich bekanntem Verfahren, unter Verwendung nachprüfbarer historischer, architektonischer und kunstgeschichtlicher Fakten eine gleichwohl fiktionale Handlung zu konstruieren. Diese kommt der historischen oder zeitgenössischen Realität gerade nahe genug, um für wirklich gehalten zu werden. Eine Aufhebung des Dualismus zwischen Realität und Fiktion also, die in gewisser Weise in jedem Roman vorliegt, jedoch seit sie von Umberto Eco in mehrfacher Hinsicht zur Perfektion getrieben wurde, unter dem Etikett postmodern vielfältig Nachahmer gefunden hat.

Umberto Eco war nicht ohne Grund vor seiner Karriere als Romancier und Essayist als exzellenter Kenner mittelalterlicher Literatur und als Semiotiker hervorgetreten. Seine Romane "Der Name der Rose" und - in besonderer Weise - "Das Foucaultsche Pendel", in deren Spur sich Dan Brown implizit bewegt, können als narrative Reflexion dieses Zueinanders von Realität und Fiktion im zeitgenössischen Roman gelesen werden. Allerdings fällt eben jenes reflexive Element bei Dan Brown weitgehend aus: Eine `Illuminati' voran gestellte Bemerkung, die tatsächliche Existenz der beschriebenen Kunstwerke und Bauten, aber auch Browns Selbstkommentare auf seiner Homepage www.danbrown.com und www.dan-brown.de scheinen den fiktionalen Charakter seiner Romane eher zu verschleiern.

Vor allem in den USA, aber auch in Italien und neuerdings auch in Deutschland entzündete sich der Protest aus höchsten Kirchenkreisen genau daran. Man wittert hier vor allem die Gefahr, die mit geringer historischer Sorgfalt begründete Kirchenkritik Browns könne bei theologisch und historisch wenig gebildeten Lesern auf zu fruchtbaren Boden fallen. Und wer sich im Religionsunterricht der Oberstufe mit wesentlich auf Dan Brown gegründeten "kirchenhistorischen" Referaten konfrontiert sieht, wird solche Kritik auch nicht einfach in den Wind schlagen. Dabei sollte jedoch wohl eher die Genre- und Lesekompetenz der Schüler und Schülerinnen gestärkt als der Autor gescholten, gar die Lektüre kirchenamtlich verboten werden. Umberto Eco selbst stellte sich mit Verweis auf klar vorhandene Fiktionssignale in den Romanen Browns schützend vor seinen trivialliterarischen Kollegen.

Auch neuere Literaturtheorien, die besonderen Wert auf die Ablösung eines konkurrierenden Verhältnisses zwischen Romanfiktion und Alltagsrealität durch ein relationales legen, verweisen auf die entscheidende Wahl des Vorzeichens vor der Klammer, der literarischen Gattung also. Handelt es sich um einen historischen beziehungsweise theologischen Text oder um einen "erdachten Roman". Interessanter ist allerdings die Frage, inwiefern nicht bereits der bürgerliche Roman des 18. Jahrhundert die dahin schwindende alteuropäische Religion zumindest in ihren narrativen Elementen aber auch in der allgemeinen Sinnerwartung und ihrer kanonischen und damit kulturprägenden Wirkung ersetzt hat.

Solche Überlegungen, die allerdings weit über eine Analyse der Romane Dan Browns hinausgehen müssten, harrten noch einer ausgearbeiteten Theorie der Literatur als Religion. Um eine zeitgenössische Form des Bildungsromans mit vielen Stilelementen des späten 19. Jahrhunderts aber handelt es sich jedenfalls auch bei Dan Browns Werken und ihre religionsphänomenologische Relevanz ist bei genauerem Hinsehen unbestreitbar.

Eine Lektüre der beiden letzten Romane Dan Browns unter dieser Hinsicht darf zunächst getrost dem Schriftsteller und Kulturkritiker Martin Mosebach folgen, der Anfang Juli in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung konstatierte: "Die Kenntnisse von der Religion sind auch bei den Gebildeten vielfach gegen Null gesunken. Was allenfalls noch verbreitet ist, sind vulgarisierte Aufklärungsfetzen. Heute weiß jeder Theologiestudent, dass Jesus nicht der Sohn Gottes sei; jedes Kind erfährt im Religionsunterricht, gleich welcher Konfession, dass Jesus nicht der Sohn der Jungfrau und nicht von den Toten auferstanden sei." (6. Juli 2005).

Ein Phänomen verkappter Religion?

Was die von Mosebach übertriebene religiöse Unkenntnis allerdings flankieren muss, um den Erfolg Dan Browns zu erklären, ist eine seit Beginn des 19. Jahrhunderts ebenfalls mit antiklerikaler Aufklärung einhergehende Neigung zur Heilssuche außerhalb der Kirchen: Ein Gemisch aus Esoterik, alternativer Medizin und Erlebnismystik, das sich nicht etwa nur der angeblich zwergenhaften Statur heutiger kirchlicher Verkündigung und Lehrautorität verdankt, sondern als volkstümliches Nebenprodukt der religionskritischen und (natur-)wissenschaftsfreundlichen Aufklärung und eines seit der Moderne weit verbreiteten tiefen Misstrauens gegenüber organisierter staatskirchenähnlicher christlicher Religion betrachtet werden muss.

Oftmals kann solcher Religionskritizismus aber angesichts des allgemeinmenschlichen Bedürfnisses, die Leerstellen des eigenen aufgeklärten Bewusstseins und Kontingenzen des Alltagserlebens zu füllen - vor allem Schicksalsschläge, Geburt und Tod - offenbar nicht bei der bloßen Negation stehen bleiben. Nachdem die Kirchenkritik den Rückweg dorthin versperrt, sind solchermaßen "verkappter Religion" damit Tür und Tor geöffnet. Um noch einmal das bekannte Chesterton-Bonmot zu bemühen: "Wer nicht an Gott glaubt, glaubt nicht an nichts, sondern an alles."

Gerade die Anknüpfungspunkte der fiktionalen Erzählung in der Realität, etwa die in `Sakrileg' erwähnte Glaspyramide im Louvre also, Leonardo da Vincis Gemälde ebendort, die Bernini- Architektur in Rom, die in `Illuminati' einen in sich stimmigen Initiationsweg in die Geheimgesellschaft quer durch die Ewige Stadt zu bilden scheint, der kundig und detailliert dargestellte Ordo eines Konklaves, das an einer Theorie der Antimaterie im gleichen Roman elegant entwickelte Modell einer Versöhnung von Naturwissenschaft und Religion mit Hilfe eines bestimmten, bis heute experimentell unbewiesenen Modells des Urknalls - all dies und einiges Andere dürften einen Großteil der Faszination der Romane Browns ausmachen: Jeder Tourist kann bereits nach einer kurzen Stadtrundfahrt in Paris oder Rom die "Richtigkeit" von Dan Browns weltanschaulichen Hypothesen feststellen.

Nicht unbeirrt an einem elitären Religionsbegriff festhalten

Bei den kritischen Rezensenten wie beim Publikum liegt allerdings der Fehlschluss vor, aus solchen Realitätspunkten den wissenschaftlichen Anspruch der Gesamtaussage schließen zu können. Der literarischen Gattung ungeachtet versuchen sie Brown in die Ecke des gut verdienenden Sensationsautors mit Verführungsqualitäten für die ungebildeten Massen abzuschieben und warnen vor der Lektüre, anstatt sich mit einem weit ausgreifenden Phänomen auseinanderzusetzen, dessen wuchtige Spitze die Verkaufserfolge von Browns Romanen darstellt. Gleichzeitig beweist ihre Abwehr die unbewusste oder bewusste Einsicht in die parareligiöse oder gar paratheologische Funktion, die Browns Romane für viele Leser- und Leserinnen erfüllt.

Browns "ursprüngliche" Intention wird angesichts seines großen Erfolges tatsächlich unerheblich - das sieht auch Martin Mosebach. Die Begeisterung von weltweit 45 Millionen, in Deutschland mehr als zwei Million Lesern allein für `Sakrileg', kann also nur als irrelevant zur Seite schieben, wer unbeirrt an einem elitären Religionsbegriff festhält, der Synkretismen, theologische Unstimmigkeiten und magisch Mirakulöses in den Orkus verdammt, ohne ihre enge Verknüpfung mit vitalen Funktionen des Religiösen zu würdigen. Muss es uns denn verwundern, wenn heute, nach einer vor allem mit den Mitteln des Intellekts vollzogenen Bereinigung christlicher Glaubenskosmen, deren ehemals integrierte Elemente im Trivialroman wieder auftauchen?

Mit einer quasiwissenschaftlichen, auf jeden Fall aber umfassenden Theorie der Welt als Schöpfung, dem Wunderbaren und Sensationellen, diversen Verschwörungstheorien, einer integrativen Religiosität jenseits von Konfessions- und vielleicht gar Religionsgrenzen spült die Brownsche "Romankunst" Ingredienzien an die Oberfläche, deren Ausgrenzung aus dem Religionsdiskurs im Rahmen eines differenziert ablaufenden Konfessionalisierungs- und Säkularisierungsprozesses seit Jahrhunderten im Gange ist. So erscheinen die Romane Browns als Spitze des Eisberges einer Dialektik der Aufklärung, die vermutlich bereits bei der prophetischen Kultkritik ihren Anfang nahm.

Sehnsucht nach entmystifizierten Geheimnissen

Formal vermischt Dan Brown darüber hinaus eine spezielle Topik eines Verborgenen, dessen Entbergung neue unerwartete Wendungen generiert und so eine Kette von ineinander verborgenen Geheimnissen erzeugt. Wir kennen diese Taktik von einschlägigen Computerspielen, die das Motiv der Schatzsuche mit den Mitteln des Genres vielfältig variieren. Die endgültige "Offenbarung" am Ende der Romane ruft bei vielen Lesern allerdings - glaubt man diversen Internet-Foren - eher Enttäuschung hervor. Das Verschwinden des Mysteriums aus der modernen Medienwelt, die jedes gewünschte Bild zu jeder Zeit an jedem Ort zu reproduzieren in der Lage zu sein verspricht und damit die weit zurückreichende Erosion des Geheimnisses vollendet, scheint eine ganz eigentümlich neue Sehnsucht nach entmystifizierten Geheimnissen hervorzubringen.

Die panoptische Moderne selbst wird inzwischen offenbar von einer Sehnsucht nach dem ganz Anderen verzehrt, von dem widersinnig wirkenden Begehren nämlich nach einer Finsternis, der das allzu helle Licht endlich zu weichen hätte. Bezeichnenderweise entstammt dieses Geheimnis bei Dan Brown vorzugsweise den beiden heiklen Generalthemen des Abendlandes: Sexualität und Macht. In `Illuminati' geht es um eine Lösung des Machtkampfes zwischen Religion und Wissenschaft mithilfe einer avancierten Theorie des Urknalls, in `Meteor' um den Kampf um die Macht in den unilateralen USA. Die unterschwellige sexuelle Anziehung zwischen den beiden Protagonisten zieht sich durch alle Bände und in `Sakrileg' schließlich kulminiert die Thematik auf dem verführerischen Feld von Jesu Leib und stilisiert die fiktive Leidenschaft des Erlösers zur Wurzel abendländischen Herrschaftswissens.

Die behauptete Homosexualität Leonardo da Vincis und der Machtanspruch des fälschlich als vor Morden nicht zurückschreckenden Geheimorden eingeführten Opus Dei fügen sich ins Gesamtbild einer von irdischen Interessen angetriebenen katholischen Kirche, die nur allzu gut USA-typischen Vorurteilen gegenüber der europäischsten Fassung des Christentums entspricht. Eine überraschende Enttarnung des Hauptverdächtigen pünktlich zu Beginn des letzten Romandrittels, und das Ende der prägnant durchgestalteten Kapitel mit Cliffhangern tragen ebenfalls ihr Scherflein zur Spannungssteigerung und Aufmerksamkeitslenkung bei.

Einen weiteren Anteil der Faszination macht sicher auch Browns offensiver Umgang mit dem verbreiteten Bedürfnis nach Bildung aus - einem aktuell hoch im Kurs stehenden symbolischen Kapital unserer Informationsgesellschaften. Dabei wird der Leser in Browns Bildungsromanen auf einer großen Zahl aktueller Themenfelder ausführlich mit Informationen versorgt: Das Zueinander von Naturwissenschaft und Religion ebenso wie Fakten der Kunst- und Kirchengeschichte, Philologie, Symbologie, US-amerikanische Politik, Computertechnik.

Problematisch erscheint dabei allerdings zweierlei: Erstens setzt die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion hier den mündigen Leser voraus. Bildung gerät darüber hinaus Dan Brown ganz im Sinne des Bestsellers von Dietrich Schwanitz und der erfolgreichen prime time shows à la "Wer wird Millionär?" zu zusammenhanglos und damit nicht selten falsch platzierten Appetithäppchen unter dem Motto "Hätten Sie's gewusst?".

All das darf jedoch nicht davon abhalten, Dan Browns Romane und ihren großen Erfolg als Lackmustest zu verwenden: für die Relevanz der Themen, die gerade im "globalen religiösen Dorf" verhandelt werden. Vielen Theologen und Christen wird `Illuminati' eher zusagen als `Sakrileg', doch im Prinzip verbindet beide ihr Charakter einer fiktionalen Verschmelzung von Historie und Gegenwart, von bei breiten Mehrheiten offenbar als ungelöst empfundenen theologischen Problemen wie der theologischen Relevanz der Geschlechter-Frage, der Gottessohnschaft Christi, der Institution Kirche und ihrer Ausschlussmechanismen oder dem Zueinander von Naturwissenschaft und Theologie.

Brown schafft hier einen eigenen religiösen Kosmos, für den er sich freilich ausführlich auf dem Feld des Esoterischen bedient, der aber an den literarischen Höhepunkten durchaus anschlussfähig bleibt an zeitgenössische theologische wie individualspirituelle Fragen. Nicht zuletzt ist hier auf die Inspiration Browns durch radikalfeministische Literatur vor allem Mary Dailys aber auch auf seine Anleihe bei populären Verschwörungstheorien (Henry Lincoln, Michael Baigent, Richard Leigh [Der Heilige Gral und seine Erben, Lübbe 20041) und typisch evangelikale antikatholische Vorurteile hinzuweisen. Darüber hinaus gelingt es Brown vor allem in `Illuminati', ernsthafte Fragestellungen aus dem Kontext des Konfliktes zwischen naturwissenschaftlichen und religiösen Paradigmen zu operationalisieren, die er nicht ohne gute Gründe als konstitutiv für die aktuelle Situation von Kirche und Glauben in Europa hält.

Nicht jeder theologische Traktat eignet sich vielleicht für eine Verpackung im schillernden Boomgenre des Thrillers oder Kriminalromans. Doch wie die Aufmerksamkeit des Lesers (der Leserin) neu zu gewinnen wäre, diese Frage darf angesichts eines leidenschaftlichen Plädoyers schon gestellt werden, wie es der als Bösewicht enttarnte Camerlengo auf dem Höhepunkt von `Illuminati' vor den erstarrt schweigenden Kardinälen und - medial vermittelt - der gesamten Weltöffentlichkeit hält (mit deutlichen Anklänge an Kardinal Christoph Schönborns Plädoyer gegen einen Alleinvertretungsanspruch der Evolutionslehre):

"Sie haben nicht gewonnen, weil sie Antworten geliefert hätten. Sie haben gewonnen, weil Sie die menschliche Gesellschaft radikal verändert haben, dass die Wahrheiten, die wir einst als leuchtende Wegweise begriffen haben, heute als unzutreffend dastehen. (...) Sie verkünden, dass die kleinste Änderung in der Gravitation oder dem Gewicht eines Atoms unser Universum zu einem leblosen Nebel gemacht hätte (...) und doch können sie die Hand Gottes darin nicht sehen? (...) Sind wir spirituell bankrott gegangen, dass wir lieber an eine mathematische Unmöglichkeit glauben als an eine Macht, die größer ist als wir?"
('Illuminati', 477 ff.)

Dieses und andere von Brown seismographisch erschlossene Problemfelder auf ihr Fragepotential abzuklopfen, die historischen Fehler und inneren Inkonsistenzen offen zu legen und mit der Position von Kirche und Theologie zu konfrontieren, könnte Aufgabe einer erfolgreichen und im besten Sinne des Wortes zeitgenössischen Schul- und Bildungsarbeit sein, wie sie vereinzelt auch mit Blick auf Dan Browns Romane bereits geschieht (http://www.karl-leisner-jugend.de/Sakrileg.htm).


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Joachim Valentin (geb. 1965) promovierte mit einer Arbeit über Jacques Derrida und arbeitete seit 1998 als Wissenschaftlicher Assistent am Arbeitsbereich Religionsgeschichte der katholisch theologischen Fakultät Freiburg. 2004 Habilitation in Fundamentaltheologie und Religionsgeschichte. Seit Oktober 2005 leitet er das im Aufbau befindliche Katholische Zentrum "Haus am Dom" in Frankfurt am Main.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
59. Jahrgang, Heft 11, November 2005, S. 563-567
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