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AKZENTE/100: Literarische Übersetzerfiguren (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum 1/07 - Universität Bayreuth

Grenzgänger zwischen Vermittlung und Verrat.
Eine Betrachtung literarischer Übersetzer- und Dolmetscherfiguren

Von Christine Wilhelm (Romanistik)


Im Zuge des postmodernen Interesses an Vermittlung gewinnt der Übersetzer an Bedeutung innerhalb der wissenschaftlichen Diskurse, und er tritt vermehrt im Figurenpersonal literarischer Texte auf. Aufgrund seines janusköpfigen Wesens stellt er gerade für Diskurse über Grenzen und Grenzüberschreitungen eine attraktive (Denk-)Figur dar: Er oszilliert entweder als utopischer Vermittler oder unheimlicher Verräter zwischen dem Eigenen und dem Fremden, kann den transkulturellen Dialog sowohl ermöglichen als auch hemmen und Machtstrukturen sowohl unterwandern als auch bestärken. Er auf den sich einerseits die Forderung nach bedingungsloser Treue richtet, ist andererseits der 'traduttore, traditore', wie ein italienisches Sprichwort sagt. Im skizzierten Spannungsfeld von Vermittlung und Verrat bzw. Wahrheit und Lüge liegt das besondere ästhetische Potential des Übersetzers. Vor diesem Hintergrund ergeben sich Fragen wie: Welche Funktion hat der Übersetzer als literarische Figur in der 'histoire' und im 'discours' eines Textes inne? Wie wird das ästhetische Potential des Übersetzers in literarischen Texten kreativ verarbeitet und weitergedacht? Bleibt der Übersetzer in den binären Strukturen von Vermittlung und Verrat verhaftet oder macht die Literatur von ihrer Fähigkeit Gebrauch, Gegensätze neu zu verhandeln und 'Dritte Räume' zu entwerfen? Antworten finden sich z. B. in Italo Calvinos Roman 'Se una notte d'inverno un viaggiatore, in dem der Übersetzer Ermes Marana, ein notorischer Lügner und Fälscher, letztlich die Wahrheit des Autors repräsentiert, oder in Jorge Luis Borges' Erzählung 'Tema del traidor y del héroe', in der der Übersetzer Nolan das Geheimnis, das er verschlüsselt, verrät.


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Quelle:
spektrum 1/07, Seite 19
Herausgeber: Der Präsident der Universität Bayreuth
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"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2007