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AKZENTE/101: Fremdheit katholischer Literatur in Deutschland (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 5/2007

Die andere Kultur
Von der Fremdheit katholischer Literatur in Deutschland

Von Wolfgang Frühwald


Deutschlands Literatursprache ist evangelisch geprägt, so genannte katholische Literatur verfällt in der Regel dem Bildungsverdikt. Was zeichnet diese Werke aus, die sich vielfach am spanisch-portugiesischen Kulturraum orientieren? Wie unterscheiden sie sich vom Literaturschaffen, das im deutschen Sprachraum vorherrscht?


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Literatur aus dezidiert katholischem Geist verfällt in den protestantischen Ländern des Nordens und zumal in Deutschland dem Bildungsverdikt. In den Ländern deutscher Sprache hat sich die Hochsprache am Vorbild von Martin Luthers Bibelübersetzung entwickelt, entwickelte sich die Literatursprache unter dem Einfluss des evangelischen Pfarrhauses, der Bibellektüre, der Predigt, des Kirchenliedes. Katholische Literatur in deutscher Sprache war, noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein, stärker landschaftlich gebunden als die bürgerliche Höhenkammliteratur. Die Hochsprache katholischer Autoritäten (einschließlich der Bibel) war das Lateinische, kein deutscher Landschaftsdialekt. So blieb in katholischer Literatur auch lange jenes allegorisch-lehrhafte Element erhalten, das durch Luther aus der Bibelexegese vertrieben worden war, und von Susanna Schmidt in Friedrich Schlegels Poetologie als "spiritualistischer Realismus" gefunden wurde.

Noch 1854 konnte Jacob Grimm mit Überzeugung im Vorwort zum "Deutschen Wörterbuch" schreiben, dass "protestantische poesie und sprachbildung" gegenüber den "katholischen werken" eindeutig überlegen seien. Ins "Jahrhundertwerk" des Grimmschen Wörterbuches, das den ganzen deutschen Wortschatz in seinen Bedeutungsvarianten und semantischen Entwicklungen verzeichnen will, sind in die erste Auflage deshalb auch keine Zitate katholischer Autoren aufgenommen worden. Das aber bedeutet den Ausschluss der gesamten (auch deutschsprachigen) Jesuitenliteratur und zumal der österreichischen Literatur aus dem deutschen Bildungs- und Sprachkanon. Preußen galt als der Staat der Bildung, die deutsche Hochsprache schien ein protestantisches Idiom zu sein.


Eher die Völker als der einzelne Held

In Deutschland galt im 18. Jahrhundert die von Katholiken geschriebene Literatur als ungebildet und provinziell, während sich eine solche Literatur in der Weite der Romania in einen breiten Strom von Katholizität einfügte. Dieser weltliterarische Strom der Katholizität reicht (schon vorreformatorisch) von Dante und Petrarca über den Portugiesen Camoes, über die Spanier Cervantes und Calderón de la Barca bis zu dem Franzosen Paul Claudel, vielleicht sogar zu dem italienischen Agnostiker Umberto Eco und zur lateinamerikanischen Moderne. Im Mittelpunkt der herausragenden Werke dieser romanischen Literaturtradition stehen eher die Völker als der einzelne Held. Die Völker agieren (als Kollektiv) im großen Welttheater, mit Gott als dem Spielleiter, auf der Bühne der Zeiten, so dass Profangeschichte durchsichtig wird auf den Heilsweg des Menschen. Das ist keine Tradition von gestern; sie wird in der romantischen Wiederentdeckung frühneuzeitlicher Literatur an der Wende zum 19. Jahrhundert aktualisiert und reicht dann bis tief in die österreichische Moderne, über Franz Grillparzer zu Hugo von Hofmannsthal, Franz Werfel und anderen. Sie ist als Denkfigur auch in heutigen Auseinandersetzungen präsent, freilich im spanisch-portugiesischen Kulturraum stärker als in der Germania. Wenn Benedikt XVI. bei der öffentlichen Vorbereitung seiner Brasilienreise ausdrücklich der "schwarzen Legende" widerspricht, wonach die christliche Mission den indigenen Völkern Lateinamerikas ihre Identität genommen und sie der eigenen Kultur entfremdet habe, so steht er exakt in dieser bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Traditionslinie. Camoes hat in den 1572 erschienenen "Lusiadas", dem homerisch-vergilischen Epos der portugiesischen Eroberungen, die Verbreitung des christlichen Glaubens in der neuen Welt als die eigentlich weltverändernde Leistung seines Volkes dargestellt.

"In Wahrheit", sagte auch der Papst, "war die Begegnung [der vorkolumbianischen] Kulturen [mit] dem Glauben an Christus eine Antwort, die diese Kulturen in ihrem innersten Wesen erwartet hatten. (...) Diese Begegnung ist daher nicht zu verleugnen, sondern zu vertiefen. Sie hat die wahre Identität der lateinamerikanischen Völker geschaffen." Auch wenn sich der Papst damit gegen die Agitation nordamerikanischer Sekten wendet, die in den Ländern Lateinamerikas mit hohem Einsatz Fuß zu fassen versuchen, ist die Anknüpfung an die Rechtfertigungsdiskurse der 'conquistas' in der Tradition des 16. Jahrhunderts doch unverkennbar.

Die 'leyenda negra' ist freilich nicht nur eine konfessionspolemische Waffe im Kampf zwischen dem nordamerikanischen Protestantismus und dem lateinamerikanischen Katholizismus, sondern auch ein zentraler Streitpunkt bei der innerkatholischen Kontroverse um die Vermischung von Mission und Ausbeutung, um die Zwangsbekehrung, um die dem Heil hinderliche Grausamkeit der christlichen Eroberer. Die polemische Behauptung der Existenz einer "schwarzen Legende" soll sogar auf die Abwehr der gravierenden Vorwürfe zurückgehen, die der Dominikanerpater Bartolomé de Las Casas (1484-1566) aus eigener Anschauung in Predigten und Traktaten gegen die spanischen Eroberer, seine Landsleute, erhoben hat. Sein "Kurzgefasster Bericht über die Zerstörung der westindischen Länder" (aus dem Jahre 1542, 1990 von Hans Magnus Enzensberger im Insel-Verlag neu herausgegeben), ist ein erschütterndes und zugleich ein poetisches Zeugnis des innerkatholischen Protestes gegen Ausbeutung, Besitzgier, Versklavung und Völkermord.

Gabriela Mistral, die chilenische Nobelpreisträgerin, nannte Las Casas zurecht eine "Ehre für das Menschengeschlecht". Las Casas, den viele für einen Vorläufer der "Theologie der Befreiung" halten, war ein Heiliger; seine Predigten gegen die übermächtige Lobby der Siedler und die Methoden der Zwangsbekehrung aber waren erfolglos. In seinem ohnmächtigen "Kampf gegen Windmühlenflügel" galt er als ein gefährlicher Narr. Es ist durchaus glaubhaft, dass Cervantes für seinen zwischen 1605 und 1615 erschienenen Roman über Don Quijote de la Mancha, der auszog, um zur Ehre Gottes und seiner Geliebten, rechtlose Jungfrauen und Waisen zu beschützen, als Vorbild für den Titelhelden nicht (wie oft behauptet wird) Ignatius von Loyola genommen hat, sondern eben diesen Dominikanerpater, den Padre Bartolomé de Las Casas, den gedemütigten Bischof von Chiapas, der vermutlich ärmsten Diözese der damals bekannten Welt.

Es gibt für katholische Literatur in deutscher Sprache Erzählräume, die für sie charakteristischer sind als alle anderen Landschaften: die iberische Halbinsel und ihre Kolonien. Diese Länder sind (auch literarisch) die Kernländer der katholischen Welt. Sie waren es zumindest, ehe der Autoritätsverfall von Kirche und Hierarchie das Feld für die evangelikalen Sekten bereitet hat. Deutschsprachige Autoren, die sich durch die Wahl eines spanisch-portugiesischen Erzählraumes oder entsprechender Quellen und Übersetzungen dem breiten Strom der katholischen Romania einzufügen versuchen, bezahlen dafür in Deutschland mit Fremdheit gegenüber dem Lesepublikum.


Gründe für den Misserfolg katholischer Literatur

Der Misserfolg Reinhold Schneiders (1903-1958), der nur durch einen kurzen Boom seiner Schriften im Zweiten Weltkrieg und in der Frühphase des Kalten Krieges unterbrochen wurde, ist dafür charakteristisch. Auch hängt die nahezu völlige Missachtung des in Zürich lebenden Dürrenmatt-Schülers Hugo Loetscher (geb. 1929) in den Kerngebieten deutscher Sprache vermutlich damit zusammen, dass sein Werk an der uns, trotz Massentourismus und deutschen Siedlungen, noch immer fremden spanisch-portugiesischen Kulturwelt orientiert ist.

Als Schneider in "Las Casas vor Karl V." auf die Figur des Bartolomé de Las Casas stieß, wusste er von der Existenz von Konzentrationslagern und von der an Wucht ständig zunehmenden Verfolgung der deutschen Juden. Sein Roman (erschienen im Jahr der Reichspogromnacht) ist ein Buch des Widerstandes gegen Willkür und Gewalt, gegen den Ausschluss bestimmter, einst wohlgelittener Gruppen der deutschen Bevölkerung aus dem Rechtskreis des Lebens. Dass ein ganzes Volk - durch die Schuld seiner Führer - auf dem Wege war, das ewige Heil zu verspielen, weil es nicht Gott, sondern den Satan auf den Schultern trug und nun am täglich wachsenden Unrecht zu ersticken drohte, hat Schneider in aller Deutlichkeit gesagt. Seine Zeitgenossen haben diese Botschaft sehr wohl verstanden und seine Gedichte, seine Zeitkritiken, seine Meditationen immer wieder abgeschrieben und von Hand zu Hand weitergereicht.

Zu Recht hat dieser Autor ein Wort Calderóns als Motto seines Buches über Las Casas gewählt: "Christen, dieser ist der Zeuge, der vor künftigen Geschlechtern meine Rechtlichkeit bezeugt." Bis heute ist "Las Casas vor Karl V." ein lesenswertes Buch. Sein beschämender Ausschluss aus dem Kanon der Literaturkenntnis in Deutschland zeugt nicht gegen das Buch, sondern für die geringe Verbreitung solcher Kenntnisse unter den Gebildeten, kurz von der Fremdheit katholischer Literatur in Deutschland.


Neues Interesse an Körperlichkeit

Hugo Loetscher, dessen Vorfahren aus dem katholischen Kanton Luzern in das zwinglianische Zürich eingewandert sind und der sich seit 1965 regelmäßig, Jahr für Jahr, eine gewisse Zeit in Lateinamerika aufgehalten hat, versucht in der Geschichte "Der Sündenpriester" in seinem Roman "Die Papiere des Immunen" (1986) jenes Kernwort Jesu literarisch zu inszenieren, das dem Neuen Testament eingeschrieben ist: 'Metanoeite', das heißt "Denket um!" Georg - so heißt die Figur, über deren Leben berichtet wird - musste schon in der Schule Rede und Antwort stehen, weil er lieber die Geschichten des Alten Testamentes und ihre Skandale weitergedacht hat, als wie seine Schulkameraden die Heftchen über Rolf Torrings Abenteuer zu verschlingen.

Dabei ist diese Geschichte nicht ganz so sittsam, wie es sich katholische Leser vielleicht erwarten. Das gilt übrigens für die katholische Literatur der Moderne insgesamt. Arnold Stadler, Thomas Hürlimann und das neue literarische Interesse an Körperlichkeit sind heute dafür (ein emanzipatorischer) Beleg. Die deutschen Bischöfe haben diese schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erkennbare, auf Autonomie hin tendierende Entwicklung mit so großer Skepsis gesehen, dass sie in einem eigenen Hirtenwort zur katholischen Literatur der Gegenwart (1955) meinten, daran erinnern zu müssen, dass auch in der Literatur "die von Gott gesetzten, sittlichen und religiösen Maßstäbe unverrückt ihre Gültigkeit behalten. (...) So wenig wir einer frömmelnden Illusionsliteratur das Wort reden, so sehr möchten wir wünschen, dass unsere Literatur nicht nur die Diagnose der Zeit stellt, sondern auch mit zu ihrer Gesundung beiträgt".

Wie die nur zum internen Gebrauch bestimmten Anmerkungen des Hirtenwortes ausweisen, gilt diese Mahnung (wenige Jahre vor Erscheinen der "Blechtrommel" von Günter Grass, die solche Bedenken aus der Literatur hinweggefegt hat) Autoren und Kritikern des von Susanna Schmidt so benannten "katholischen Milieus". Sie galt nicht Gottfried Benn oder Bertolt Brecht oder Mitgliedern der "Gruppe 47", sondern George Bernanos, Paul Claudel, Elisabeth Langgässer (die unter solchen Verdächtigungen besonders zu leiden hatte), Gertrud von Le Fort, Heinrich Böll.

Hugo Loetschers Erzählung von 1986 nimmt das Matthäuswort ernst, wonach Jesus gekommen ist, die Sünder zur Buße zu rufen, nicht die Gerechten (Mt 9,13). So versucht sich Georg nach dem Abitur in der Klosterschule zunächst als Zuhälter, ehe er sich entschließt, Theologie zu studieren und sich in die Mission auf den Philippinen zu melden. Loetscher hat das Neue Testament in seiner Radikalität wörtlich genommen und den Umgang des Priesters mit den Sündern als jene Postfiguration von Jesu Leben abgebildet, die seit jeher die Literatur von der 'imitatio Christi' bestimmt. Die Umkehr des Sünders sowie die dezidierte Verkehrung der Normalität des Lebens durch das Evangelium sind für diesen Erzähler Kern der christlichen Botschaft.

Der romantische Dichter Achim von Arnim besuchte im November 1820 seinen Freund Clemens Brentano. Dieser lebte damals im westfälischen Dülmen, völlig versunken in Körperexperimente mit den spirituellen Talenten einer stigmatisierten Nonne namens Anna Katharina Emmerick. Durch seine Andachtsbücher hat Clemens Brentano diese Nonne weltberühmt gemacht, ihr aber zugleich ein Martyrium der Neugier und des Interesses aufgebürdet, da er gegen den Willen dieser Frau ihr Intimleben an eine voyeuristisch gesinnte Öffentlichkeit zerrte. Anna Katharina Emmerick ist 2004 von Johannes Paul II. seliggesprochen worden, nachdem die 16.000 eng beschriebenen Folioseiten, die Clemens Brentano über sie, ihre ekstatischen Zustände und ihre Visionen, geschrieben hat, als poetisch-phantastisch und poesie-durchwebt aus den Prozessmaterialien ausgeschieden worden waren. Die seit 1816 entstandenen und seit 1833 gedruckten Andachtsbücher Clemens Brentanos hatten gleichwohl eine Wirkung, wie sie Literatur nur selten beschieden ist.

Mel Gibson hat seinem skandalträchtigen Film "The Passion of the Christ" (2004) Clemens Brentanos "Bitteres Leiden" zugrundegelegt (vgl. HK, April 2004, 172 ff.). Friedrich Wilhelm Graf hat davon gesprochen, dass Gibsons "Körper-Christus (...) die Marktführerschaft über die vielen Kuschelgötter und Jesus-Softies auf den boomenden Religionsmärkten Nordamerikas" übernehmen wollte. Doch ist diese so hellsichtig als "Körper-Christus" benannte Filmgestalt, die im Grunde nur das schon von Brentano überrealistisch beschriebene Detail der Marter ins Bild setzt, eine sehr katholische, das heißt an Körperlichkeit, nicht an Individualität interessierte Jesusfigur. Gibsons Film ist in der detailgenauen Darstellung der Körperzerstörung ein Signal gegen Grausamkeit und Folter, die als eine Weltseuche heute auch die zivilisierten Völker der Erde ergriffen hat, aber auch ein Zeichen gegen Wiederholung und Reproduktion, gegen Klonierung und genetische Vorwegbestimmung, schließlich gegen den Wahn von Schönheit und Harmonie, der uns dazu verführt, das Gesicht zu "liften", den Leib zu verjüngen, zu verschönen, ihn zurechtzuschnitzen und oft genug schmerzhaft bis zur Unkenntlichkeit zu verändern.


Durch den Blick auf das Gattungsförmige den konkreten Menschen übersehen

Mel Gibson hat an dem extremen Beispiel der historizistisch verstandenen Passion Jesu die uns jäh überfallende (massenhafte) Zerstörung menschlicher Körper demonstriert und damit der weltweiten Tendenz zur Auflösung des einmaligen und einzigartigen, des je individuellen Leibes schockierend widersprochen. Gibsons Rückgriff auf die Visionen Anna Katharina Emmericks und der Maria von Agreda belegt dabei, dass er sich der langen katholischen Tradition bewusst ist, in die er sich dadurch stellt. Schon der Jesuitenpater Friedrich Spee von Langenfeld hat in einem mutigen Buch gegen die Hexenverfolgung, der 'Cautio Criminalis' (1631), literarisch die individuelle Körperlichkeit jener gefolterten Frauen wiederherzustellen versucht, die als Geschlechtswesen, weil sie Frauen waren, verfolgt, verurteilt, ertränkt und verbrannt wurden.

So bedeutsam die Andachtsbücher Clemens Brentanos auch sind, sie entstanden aus den der Nonne zugefügten Qualen, die durchaus an "Hexenjagden" erinnern, wie sie in der Moderne durch öffentliches Interesse täglich entstehen. Achim von Arnim, der nüchtern denkende Protestant, hat also seine Schwäger Christian und Clemens Brentano in dem abgelegenen westfälischen Städtchen besucht und in einem Brief an seine Frau Bettine eine klare und erschütternde Analyse dessen gegeben, was er dort erlebt hat. Er schrieb über die Qualen, welche die Neugier der an animalischem Magnetismus interessierten Brüder Brentano der leidenden Anna Katharina Emmerick zugefügt haben: "Es gibt vielleicht ein neues Martyrtum, in welchem die Leute nicht aus Hass, sondern bloß aus Wissbegierde, um zu sehen, was eine fromme Seele eigentlich sei, in Scheidewasser und Feuer gesteckt, lebendig anatomiert werden."


Autonomisierung des ästhetischen Bewusstseins

Neben den bürokratischen Schikanen, denen Anna Katharina Emmerick ausgesetzt war, war das dämonische Interesse an ihren besonderen Fähigkeiten, das Interesse an der erstaunlichen Wechselwirkung zwischen Meditation und Wachen, an Hierognosie, Körperelevation, Nahrungslosigkeit, Stigmatisation und ekstatischem Sprechen das durchaus moderne Martyrium der säkularisierten Nonne. Sie lag auf ihrem Krankenlager wie auf dem Seziertisch einer Anatomie, mit dem einen Unterschied, dass hier eine Seele seziert wurde, die sich in körperlichem Leiden blutend manifestierte. Es ist eine Gefahr des Katholizismus von Anfang an, durch den Blick auf das Gattungsförmige, auf den Menschen an sich, den konkreten Menschen in seiner Not zu übersehen. Auf der anderen Seite war der Katholizismus vielleicht gerade dadurch weniger anfällig für die Vergötzung des Blutes, der Herkunft, der Rasse.

Arnim, der mit einer katholischen Frau verheiratet war und die Kinder, Mädchen und Jungen, nach Geschlechtern getrennt, katholisch oder evangelisch hat erziehen lassen, hat einen sehr klaren Blick auf die kulturellen und sozialen Unterschiede seiner Zeit gewonnen. Auch ihm schien eine katholische Lebenskultur in der teilnehmenden Solidarität, im Glück der Anderen zu wurzeln. Er hat dabei nicht übersehen, was die aus der Säkularisation pietistischen Denkens und Fühlens gewonnene Sprachkraft der evangelischen Kultur geschaffen hatte, die Entdeckung und den Entwurf des humanen Individuums, den Starkult der Wortkunst, in deren Umkreis alle Werke des Menschen und der Natur, Sammlungen, Kunstwerke, Antiken, der Entwicklung einer gebildeten Individualität zu dienen hatten. Arnim kam im Dezember 1820 aus einem Land, in dem man bis vor kurzem noch nicht gewusst hatte, dass es außer Juden, Katholiken und Muslimen auch noch andere Menschen auf der Welt gab. Und er fuhr nach Weimar zu Goethe, der erst mit knapp 40 Jahren gelernt hatte, dass der Katholizismus eine durchaus nennenswerte und sehenswerte Kultur sein eigen nannte.

Die hier besonders schroff gezeichneten, konfessionell bedingten Kulturunterschiede in Deutschland wurden in dem Augenblick eingeebnet, als sich der deutsche Katholizismus (nach der Inferioritätsdebatte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert) gegen den Widerstand Roms einer der wichtigsten Strömungen der Modernisierung öffnete: der Autonomisierung des ästhetischen Bewusstseins.

Heute sind solche Kulturunterschiede vielleicht noch im Erlebnis unterschiedlicher Kirchenräume und Liturgien zu erfahren; in Literatur bedürfen sie der Interpretation. Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber sind sie mauerartig zwischen den Konfessionen und ihrer Literatur emporgestiegen. Als der Enthusiasmus der gemeinsamen "Erweckung" zu einem christlichen Leben entschwunden war, als die Mauern der dogmatischen Unterschiede nicht mehr so niedrig schienen, dass man leicht zwischen den Konfessionen hin und her springen konnte, begann ein neues konfessionelles Zeitalter. In ihm wurden bisherige Religionsgegensätze in Bildungsgegensätze übersetzt, ohne an antagonistischem Potenzial zu verlieren.

Für den Ton, in dem die Auseinandersetzungen jetzt geführt wurden, ist charakteristisch eine Äußerung von Joseph Görres, der im Streit um den Tod Friedrich Schlegels 1829 öffentlich erklärte, "die Eidgenossenschaft der großen Hansen" im Norden Deutschlands meine wohl noch immer, dass in Bayern ein Volk wohne, welches "umnebelt von Vorurteilen, stöckisch, geistig verrammelt und degradiert, unter der Leitung seiner Priester ein halbtierisches Leben" führe. Clemens Brentano hat das neue konfessionelle Zeitalter, zweckästhetisch argumentierend, mit heraufgeführt. Goethe hat aus autonomie-ästhetischer Haltung dem Konfessionalismus noch im Alter heftig widersprochen.

Es bedurfte langer und blutiger Auseinandersetzungen, unter anderem des Dreißigjährigen Krieges, bei dem rund ein Drittel der Menschen im Kerngebiet des Deutschen Reiches durch Seuchen, Krieg und Hexenverfolgung ihr Leben verloren, um das Bewusstsein von der mehrfachen Teilung des Christentums so zu festigen, dass Toleranz zwischen den Konfessionen (auch innerhalb des Protestantismus) möglich war. Toleranz bezieht sich seither auf den Menschen, den Einzelnen und auf dessen Autonomie, nicht auf die konfessionell unterschiedenen Inhalte von Glaubensbekenntnissen.


Die literarischen Haltungen der Konfessionen haben sich einander angenähert

Wer heute über "katholische Literatur" zu sprechen hat, gerät in die Gefahr, alte Wunden aufzureißen und jene Solidarität der Konfessionen zu übersehen, die im nationalsozialistischen Kirchenkampf unter dem Druck der gemeinsamen Verfolgung zustandegekommen ist. Diese Solidarität hat dazu geführt, dass nach 1945 die Christen auch versucht haben, in politischer Verantwortung für ein demokratisches Deutschland die noch in der Weimarer Republik deutlichen Konfessionsgrenzen bei der Parteienbildung zu überwinden. Die CDU wurde von evangelischen und katholischen Christen, auch unter Mithilfe ehemaliger Sozialdemokraten, etwa Gustav Radbruchs, gegründet.

Heute gibt es zwar noch ausgeprägte Kulturunterschiede zwischen dem nördlichen und dem südlichen Deutschland, die auf Konfessionsdifferenzen verweisen, sie sind jedoch kaum noch alltagsprägend. Die neuen Bundesländer sind - wenn man von einer dünnen, in den Städten freilich oftmals tonangebenden christlichen Schicht eines politisch engagierten Bürgertums absieht - nicht entkonfessionalisiert, sondern entchristlicht.

Wie sehr sich die literarischen Haltungen der Konfessionen einander angenähert haben, ist an der poetisch eindringlichen, aber ganz auf den modernen Einzelnen bezogenen Psalmenübersetzung des Katholiken Arnold Stadler im Vergleich zu der "Bibel in gerechter Sprache" zu erkennen. Diese aus der Mitte evangelischen Denkens hervorgegangene Bibelübersetzung ist einem Gruppendenken verpflichtet, das konfessionell nicht mehr adäquat beschrieben werden kann, jener political correctness, die wegen einer ("gerecht" genannten) dogmatischen Nivellierung auch vor Gewaltsamkeiten bei der Übersetzung nicht zurückschreckt. Sie reizt gerade deshalb zur Auseinandersetzung.

Mir scheint, dass sich evangelische und katholische Christen gemeinsam, noch stärker als bisher, mit Interesse jenen kulturellen und religiösen Strömungen aus einst fernliegenden Kulturkreisen stellen müssen, die auf breiter Front im Einwanderungsland Deutschland heute wirksam sind. Längst existieren bei uns Parallelgesellschaften, die sich auf religiöse Autonomie berufen und ihre eigenen hermetischen Texte lesen. Diese Parallelgesellschaften in eine sich gegenseitig nicht nur duldende, sondern in der Anerkennung und der Kenntnis von Differenz zusammengehörige Gesellschaft zu integrieren, ohne dabei in den nordamerikanischen Synkretismus zu verfallen, ist eine Aufgabe, die sich den Christen Deutschlands dringlich stellt. Die Erfahrungen ihrer langen antagonistischen Konfessionsgeschichte könnten ihnen dabei behilflich sein.


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Der Germanist Wolfgang Frühwald (geb. 1935) ist seit 1999 Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung. Bis zu seiner Emeritierung 2003 war er Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität München und von 1992 bis 1997 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Der Text basiert auf einem Vortrag, der an der Katholischen Akademie in Bayern gehalten wurde.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 5, Mai 2007, S. 243-248
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2007