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AKZENTE/113: Ein Blick in die russische Gegenwartsliteratur (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2008

Vom Leben schreiben, ohne vom Schreiben leben zu können
Ein Blick in die russische Gegenwartsliteratur

Von Jens Sparschuh


Im Frühsommer, wenn die Stadt am Finnischen Meerbusen aus ihrem Winterschlaf erwacht, verwandelt sich der Newski-Prospekt in einen Laufsteg: Die Schönen des russischen Reiches stöckeln ihn hochhackig ab, erhobenen Hauptes passieren sie die Ehrenformation der baff staunenden Männer. In den Parks explodiert das Grün, die Luft ist leicht und hell, dunkel wird es bis spät in die Nacht nicht. Die weißen Nächte lassen die Wirklichkeit transzendieren. Im Mai ist Petersburg ein kurzer Traum vom ewigen Leben. Ein guter Ort, eine gute Zeit, um über Literatur zu sprechen - oder nicht doch zu schön, um wahr zu sein?


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Vom 25. bis 29. Mai trafen sich - auf Initiative von Daniil Granin und Günter Grass - im Petersburger Goethe-Institut russische und deutsche Autoren zu Arbeitsgesprächen. Noch vor einigen Jahren schien es, als hätte die neue Generation russischer Schriftsteller mit der sowjetischen Vergangenheit auch gleich die gesamte russische Literaturtradition entsorgt. Manch einer dieser Texte las sich, als sei er in einer Manufaktur - unter Verwendung bewährter folkloristischer Bestandteile wie Wodka, russische Seele, Birken - eigens für den Export hergestellt worden.

Die sechs Autoren, die von russischer Seite am Petersburger Treffen 2008 teilnahmen, beziehen sich indes ganz selbstverständlich auf genuin nationale Erzähltraditionen - seien es die offiziellen Klassiker (Gogol), die halboffiziellen (Bulgakow) oder die, über lange Zeit, "inoffiziellen" (Charms). Vielleicht liegt es daran, dass Russland sich allmählich wieder seiner selbst besinnt. Der neue Wohlstand, gespeist aus dem märchenhaften Öl- und Gasreichtum, hat den Russen in den letzten Jahren ihr nationales Selbstbewusstsein zurückgegeben; am Ende der Jelzin-Ära (1999) war es auf einem bis dahin nicht gekannten Tiefpunkt. Der äußere Zerfall des russischen Großreiches korrespondierte mit dem Zerfall staatlicher Institutionen im Innern. Löhne wurden nur noch sporadisch gezahlt.


Russland zahlt einen hohen Preis

Vor diesem Hintergrund ist die Zustimmung für Putin - selbst bei kritischen Intellektuellen - kaum verwunderlich. Sein Konzept einer "gelenkten Demokratie" mutet ohne Frage postsozialistisch an. Um aber die Oligarchen, die übrigens auch nicht lupenrein vom marktwirtschaftlichen Himmel gefallen waren, sondern größtenteils der alten KPdSU- und Komsomol-Nomenklatura entstammten, zu verschrecken, war es ein probates Mittel: Ende des letzten Jahrhunderts hätten sie beinahe das ganze Land als Beute unter sich aufgeteilt.

Der Preis, den Russland für diese "gelenkte Demokratie" zu zahlen hat, ist allerdings hoch: Inzwischen werden fast alle wichtigen - heutzutage: elektronischen - Medien mehr oder weniger staatlich kontrolliert. Und wenn doch irgendwo das kleine, verlorene Häuflein der Menschenrechtler auftaucht und für Demokratie und Meinungsfreiheit demonstriert, findet das medial kaum statt; es kommt aber auch bei vielen Leuten auf der Straße schlecht an: Demokratie ist in deren Erinnerung noch immer verbunden mit Chaos, wirtschaftlichem Ruin, teilweise sogar mit Hunger.

In diesem postrevolutionären Durcheinander kann man leicht den Überblick verlieren, so wie jene alte Dame in einem Antiquitätengeschäft am Newski: "Was ist für Sie wertvoll?" will sie von der Verkäuferin, die ihre Urenkelin sein könnte, wissen. "Alles, was alt ist. Bücher, Geschirr, Möbel. Am besten vorrevolutionäre Epoche." Kopfschüttelnd nickt die alte Dame: "Ja, was für eine Revolution denn nun schon wieder?"

Um jenseits der offiziellen Propaganda oder journalistischer Stippvisiten westlicher Beobachter etwas über die Wirklichkeit im Lande zu erfahren, ist ein Blick in die russische Gegenwartsliteratur wichtiger denn je.

Die Voraussetzungen, unter denen die russischen und deutschen Autoren, die sich in Petersburg trafen, leben und arbeiten, könnten unterschiedlicher kaum sein: Die deutschen Autoren kommen aus einem wiedervereinigten Land, die russischen Autoren haben gerade die Erfahrung eines zerfallenen Großreiches hinter sich (Einer der Autoren, E. Prilepin, war als Soldat in Tschetschenien.). Während man in Deutschland über den großen Epochenumbruch fast schon aus einer historischen Distanz schreiben kann, fehlt den russischen Autoren dieser Abstand, sie stecken noch immer mitten in diesen Veränderungen. Das macht ihr Schreiben direkter, ohne dass es dadurch, in einem platten Sinne, "realistischer" würde. Im Gegenteil: Vielleicht, weil alles noch ein Spiel mit offenem Ausgang ist, ist ihr Zugang oft spielerischer, experimenteller. Eine große Formenvielfalt ist zu bestaunen: Märchenhaftes und Fantastisches gibt es (nicht, wohlgemerkt, verkürzt zu fantasy!), und dem guten alten inneren Monolog wird, als ob der nicht schon genügen würde, ein "innerer Dialog" an die Seite gestellt.


Im Grenzbereich zwischen verschiedenen Wirklichkeiten

Ob diese Autoren vom Schreiben leben können, ist zweifelhaft. Ganz ohne Zweifel aber können sie vom Leben schreiben - und zwar von einem Leben, das sich nicht nur auf die privaten vier Wände beschränkt. Ein Text etwa wie der von Tatjana Moskvina (geb. 1958) wäre in Deutschland kaum denkbar! Ein Pamphlet - der neuen Welt entgegengeschleudert, zärtlich und wütend. So einen Ton kann man sich vielleicht bei einem zottelbärtigen Wanderprediger im alten Moskowiterland vorstellen, der von Dorf zu Dorf zieht, vom Reich der "ehemaligen Menschen" spricht und in seiner Predigt die ganze Welt (Himmel und Hölle inklusive!) in den zornigen Blick nimmt.

Muris Weg, in dem tatsächlich ein sprechender Kater vorkommt, von Ilja Bojaschow (geb. 1961), erinnert zwar an E. T. A. Hoffmanns Kater Murr, allein mit diesem literaturgeschichtlichen Verweis kommt man dieser vertrackten Reiseerzählung durch unseren nicht minder vertrackten Kontinent (hier speziell: den Balkan) keineswegs bei. Der bereits erwähnte Ewgeni Prilepin (geb. 1975) schildert, wie ein Terrorverdächtiger vom allgegenwärtigen Geheimdienst verfolgt wird und ihm dabei der wahnhafte Gedanke in den Sinn kommt, man könne vielleicht irgendwo in der alten Rus untertauchen, zum Beispiel bei seinem Großvater, im Schwarzerde-Gouvernement. Der Spaziergang durch Petersburg, von dem Pawel Krussanow (geb. 1961) erzählt, beginnt hingegen ganz unspektakulär. Doch, Schritt für Schritt, verlassen wir diese Welt und gelangen in eine sonderbar bevölkerte Parallelwelt. Das Erstaunliche daran: Man merkt kaum, wo die Grenze verläuft.

Ebenfalls im Grenzbereich zwischen unterschiedlichen Wirklichkeiten bewegt sich Sergej Nosov (geb. 1957). Gar nicht so lange her, da gab es in Russland Märkte, wo man buchstäblich alles kaufen konnte: Unterröcke, antiquarische Bücher, DVDs, eingeweckte Pilze, Veilchensträuße oder, zum Beispiel, eine funktionstüchtige Kalaschnikoff. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Nosovs Ich-Erzähler ein äußerst seltsames Objekt zum Kauf angeboten wird. Kaum jemand im heutigen Russland zweifelt noch daran, dass im Schneewittchensarg des Lenin-Mausoleums längst eine Kopie liegt - die Frage ist nur: Wo ist das Original abgeblieben? In Nosovs parabelhafter Erzählung liegt es, unweit des Petersburger Heumarktes, in einer Wohnung auf dem Küchentisch. Eigentlich sollte es für eine Million über das finnische Eis ins Ausland gebracht werden. Aber dieser Deal hatte nicht geklappt. So wechselt Lenins Korpus also für lächerliche 300 Rubel - Gegenwert: immerhin zwei Flaschen Wodka - seinen Besitzer. Doch wohin damit? Das ist gar nicht schwer. "... überall wird doch gegraben, die ganze Stadt ist aufgerissen." Schließlich beerdigt Nosovs Ich-Erzähler den Unsterblichen. Falls nun hier ein Geschäftshaus entstehen sollte, wird es "eine Leiche im Keller" haben.

Scheinbar völlig überdreht geht es bei Dimitrij Gortschew (geb. 1963) zu. Alexander Wasiljewitsch muss ein Passbild machen lassen. Als das Bild fertig ist, sieht er darauf zu seinem Entsetzen eine Frau mit scheußlicher Dauerwelle. Von nun an, ob er es will oder nicht, ist er eine Frau. Ein Oberst a.D. hält um ihre/seine Hand an. Da aber die Männlichkeit des Obristen wegen dessen früherer Dienstzeit auf einem Atomversuchsgelände gelitten hat, steht dem Eheglück, das nicht mehr auf eine harte Probe gestellt werden muss, nichts im Wege. Das ist einerseits ein witziger Seitenblick auf unsere mediale Bilderwelt, die uns, 0b wir es wollen oder nicht, verwandelt. Wer das jedoch lediglich als ausgedachte Groteske liest, sollte den Anzeigenteil des Petersburger Geschäftsblatts vom 29.5.08 aufschlagen. Dort erblickte er zwei russische Frauengesichter. Ein "phänotypologisches Institut" bietet seine Dienste an, um nach einer "patentierten europäischen Technologie" (gemeint ist Lavaters Physiognomik aus dem 18. Jahrhundert!), anhand von Nase, Mund und Augenbrauen zu entscheiden, wer von den beiden am ehesten für den Job einer Buchhalterin geeignet ist. Derlei fantastische Auswüchse des frisch aufgeblühten Kapitalismus verwandeln einen absurden Text wie den von Gortschew unversehens in einen realistischen.

Tröstlich immerhin zu wissen, dass auch der Kapitalismus - kraft innewohnender Mechanismen - die Fähigkeit hat, sich selbst auszubremsen. Russland gilt als einer der vitalsten Automärkte. Noch vor ein paar Jahren konnte es vorkommen, dass stolze BMW-, Audi- oder Mercedes-Besitzer mit finsterer Bojarenmiene Jagd auf Fußgänger machten, die in ihr Hoheitsgebiet, die Straße, eingedrungen waren: Die gerieten ins Fadenkreuz silbern blitzender Mercedes-Sterne. Heute steht der Verkehr am Rand eines Kollapses. Zwar wird man noch immer mit finsterer Bojahrenmiene angestarrt, doch deren Besitzer sitzen in ihren Nobelschlitten - zwischen denen man nun gefahrlos die Straßenseite wechseln kann - längst im Dauerstau fest.

"Nichts Schöneres gibt es als den Newski-Prospekt", so beginnt Gogols Erzählung über diesen traumhaften Boulevard. Doch am Ende, ganze fünfzig Buchseiten später, heißt es: "Er lügt zu jeder Zeit, der Newski-Prospekt." - Und die Wahrheit? Die liegt irgendwo in der Mitte. Oder eben: Sie flaniert, wie eingangs erwähnt, hochhackig auf und ab und sucht per Mobiltelefon einen Anschluss.


Jens Sparschuh (* 1955) ist seit seiner Promotion in Philosophie als Autor von Romanen, Hörspielen, Kinderbüchern und Gedichten tätig. 2007 erschien bei Kiepenheuer und Witsch: Schwarze Dame.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2008, S. 77-79
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2008