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AKZENTE/122: Literaturwissenschaftliche Blicke auf die Liebe (Uni Bielefeld)


BI.research 36.2010
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Die Liebe ist eine Himmelsmacht - ich warn' Dich!"
Literaturwissenschaftliche Blicke auf ein unerschöpfliches Thema

Von Dr. Hans-Martin Kruckis


Für die Literatur und ihre Erforschung, sagt der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Martin von Koppenfels, ist die Liebe deshalb so interessant, weil sie einen so starken symbolischen Anteil hat, so überschießend Fiktionen und Phantasmen produziert. "Kein anderer Affekt ist so symbolabhängig wie die Liebe. Liebe ist eine Zeichenpassion. Sie treibt die Handykosten ins Unermessliche und bringt die stummsten Leute zum Reden. Als Symbolgenerator bringt sie uns dazu, Bäume anzuritzen und unersetzliche Kulturdenkmäler vollzuschmieren." Grundtext aller Liebestheorien ist für ihn Platons "Symposium": "Das 'Symposium' ist der erste philosophische Text, der ernst macht mit der These, dass Kommunikationsprozesse erotisch aufgeladen sind. Die Teilnehmer des Symposiums halten Reden zum Lob des Eros, und der Witz dabei ist, dass dieses Reden selbst eine erotische Praxis ist, ein Rivalisieren, Werben und Verführen. Indem bei dieser Zusammenkunft homosexueller Männer diskursiv über Liebe gesprochen wird, wird also auch diskursiv geliebt." Und es handelt sich um einen komischen Diskurs. Dass Liebe kein tragisches, sondern ein komisches Gefühl sein könnte, widerspricht modernen Vorstellungen ganz und gar, "weil wir durch die Tradition der christlichen Liebespassion hindurchgegangen sind und dann durch die romantische Vorstellung von der tragischen Liebe, die zumindest zum Teil eine säkularisierte Version der christlichen Liebespassion ist." Der Diskurs des "Symposiums" steht deutlich in Beziehung zur Komödie. Einer der wichtigsten Teilnehmer ist der große Komödiendichter Aristophanes. Ganz so fremd ist uns ist das dies aber doch wieder nicht: "Die Hälfte der Hollywood-Produktionen besteht aus Liebeskomödien. Wir haben also noch immer eine intuitive Vorstellung davon, dass Liebe ein Gegenstand von unendlich komischen Verwicklungen sein kann." Koppenfels ist über sein Interesse an der Psychoanalyse zu Platons Text gelangt. Es gebe eine spannende psychoanalytische Rezeption dieses Textes. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan habe sogar versucht, Sokrates, den Hauptredner des "Symposiums", als Vorgänger der Psychoanalyse zu installieren.


Flauberts Romane: Desillusionierung der romantischen Liebe

Ein anderes Forschungsgebiet des Literaturwissenschaftlers sind die Romane Gustave Flauberts (1821-1880), die sich polemisch auf das Idealbild der leidenschaftlichen romantischen Liebe beziehen, wie sie die Literatur nach 1800 (in Frankreich zum Beispiel Stendhal) präsentiert. Die biographische Pointe sei dabei, dass Flauberts Jugendwerk selbst geprägt ist von der Stendhalschen Programmatik des romantischen Ausnahmehelden, der versucht sich über eine große Leidenschaft den Sinn des Lebens zu erkämpfen. "Die Schärfe, mit der er sich gegen romantische Vorstellungen wendet, war in seiner Zeit radikal und schockierend." In "Madame Bovary" von 1857 führt Flaubert vor, wie die Titelfigur als glühende Verehrerin romantischer Liebesliteratur an einer falschen Übertragung von Literatur auf Leben scheitert. Sie macht ernst mit Literatur und versucht, die gelesenen Liebesromane wörtlich zu nehmen und ihr eigenes Leben darauf auszurichten. Das geht auf schreckliche Weise schief und endet im Selbstmord: "'Madame Bovary' ist ein grausames antiromantisches Buch, weil es eine Realität schildert, aus der das Begehren keinen Ausweg findet." "Bovarisme" sei im 19. Jahrhundert sogar als psychologischer Begriff verwendet worden und meinte ein Sichverlieren in Phantasmen und Illusionen. Flaubert, so Koppenfels, war ein großer illusionsloser Psychologe, radikaler als die meisten seiner Schriftsteller-Zeitgenossen. Seine Figuren würden von ihm regelrecht seziert. Dieser fast wissenschaftlich ernste "ärztliche" Blick, den Koppenfels in seinem Buch "Immune Erzähler" grundlegend analysiert, sei ein wichtiges Leitmotiv der Romanpoetik geworden - in Deutschland unter anderem bei Thomas Mann, etwa im "Zauberberg". Mit Flaubert bewege man sich auf einen psychoanalytischen Blick auf die Liebe zu. "Er hat uns gezwungen, komplizierter über Liebe zu denken, und das mit einem sehr deutlich pessimistischen Begriff von ihr - aber dennoch sind alle Romane von Flaubert Liebesromane!" Auch "L' Éducation sentimentale" von 1869, in der der Held Frédéric Moreau nicht einmal mehr tragisch scheitert wie Madame Bovary. Stattdessen dominieren Peinlichkeit, "Gefühlsschwund", Apathie und Lächerlichkeit. "Moreau ist frühes Beispiel für den Verlierer als Romanheld." Trotz allem: Die Liebe ist für Koppenfels einer der Punkte, wo die Menschen in einer modernen, durchverwalteten Gesellschaft auf Unverfügbares stoßen, etwas, das sich in die Wirtschafts- und Sozialordnung nicht voll einfügt: "Liebe ist unökonomisch und in diesem Sinne unvernünftig, und das Liebesbedürfnis ist kein Konsumbedürfnis. Lacan sagt: Liebe ist geben, was man nicht hat - jemandem, der es nicht will." Und er führt noch eines seiner Lieblingszitate aus "Mutter Courage" an: "Die Liebe ist eine Himmelsmacht - ich warn' Dich!"


Shakespeare: Auftakt zu modernen Liebeskonzepten?

Koppenfels' Kollegen Prof. Dr. Friedmar Apel fasziniert Shakespeares erstaunliche Modernität, auch was dessen Blick auf die Liebe angeht, und er verweist auf den amerikanischen Literaturwissenschaftler Harold Bloom, der behauptet, Shakespeare habe die Individualität und damit den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft erst "erfunden". Das sei eine "steile" These, aber wenn man mit ihr vor allem "Romeo und Julia" lese - "das" Liebesdrama überhaupt -, sehe man, dass dort die Liebe "wie von selbst" in Gegensatz zur Gesellschaft gerate. Interessant sei dabei, wie die traditionelle barocke Rhetorik und Bildlichkeit umgewandelt wird zu Einsichten über die grundsätzliche Widersprüchlichkeit der Liebe: "Vor allem Romeo reflektiert, wie Liebe, von Antagonismen durchzogen, ihr eigenes Widerspiel ist." Dass dies schon der Auftakt zu den Strukturen des romantischen Liebeskonzeptes ist, würde Friedmar Apel "aus Gründen der literaturgeschichtlichen Reinheit" zwar nicht sagen, "aber 'Romeo und Julia' ist von den Romantikern so gelesen worden. Das Liebeskonzept bei Shakespeare ist allerdings viel weiter gefasst, viel sinnlicher, viel fleischlicher als bei den Romantikern. Derbheiten wie offen angesprochene Sexualität fallen in den romantischen Übersetzungen weg. Bei Shakespeare redet Julia kaum kaschiert vom männlichem Geschlechtsteil, bei den Schlegels wird das alles in ein entsinnlichtes Liebeskonzept überführt." Nicht überraschend, dass es auch die quasi-religiöse romantische Überhöhung der Liebe bei Shakespeare nicht gibt: "Stattdessen taucht Liebe in verdinglichten gesellschaftlichen Zusammenhängen auf. Geld, Fleisch und Liebe hängen bei Shakespeare eng zusammen. Das ist ein Liebeskonzept, das offener, widersprüchlich und alles andere als idealistisch ist!"


Liebe in der Gegenwartsliteratur

Und wie sieht es in der Gegenwartsliteratur aus? Kann nach mehr als 100 Jahren desillusionierender Einsichten überhaupt noch sinnvoll literarisch über Liebe geredet werden, ohne sich sofort in Klischees zu verstricken? Friedmar Apel ist da nicht allzu pessimistisch. Natürlich werde heute vielfach die Unmöglichkeit von Liebe beschworen. Extreme Erwartungen erzeugten auch extreme Enttäuschungen, aber trotzdem würden immer noch, wie bei Maxim Biller, Reservate von Intimität entworfen. Und im Übrigen: "Wenn wir alles, was am Liebesdiskurs trivial und kitschig ist, herausnehmen würden, würden wir schweigen, und das wäre für die Liebe auf Dauer tödlich. Das Jahrhunderte bewährte 'Ich liebe dich' zum Beispiel in der Popmusik auszusparen, würde eine unerträgliche Künstlichkeit des Liebesdiskurses erzeugen. In der postmodernen Literatur und Literaturtheorie hat man versucht, uns die ganze Sache zu entfremden und uns weiszumachen, dass wir Saug- und Pumpmaschinen seien, die ohne viele Gefühle andocken und wieder abdocken. Das will keiner lesen. Die postmoderne Literaturtheorie hat nicht nur ihre Wirkung auf den Leser, sondern auch auf die Autoren verfehlt. Die These von der Weltlosigkeit der Literatur stimmt schon lange nicht mehr. Inzwischen gibt es längst eine literarische Welle, wieder auf die Sichtbarkeit der Welt zurückzugehen." Michel Houellebecqs Welterfolg "Elementarteilchen" ist für Apel ein interessantes Beispiel für einen komplexen Umgang mit dem Thema Liebe in der Gegenwartsliteratur. Einerseits herrsche dort ein kalter Blick auf die Sache vor, andererseits sei die Desillusionierung, die der Protagonist für sich selbst konstatiert, aber jederzeit auflösbar. Einerseits kippe das Ganze ins Moralische, und andererseits komme mitten in die Desillusionierung hinein plötzlich das Liebesglück: "'Elementarteilchen' ist eine große Klage über den Verlust der Liebe und eine moralische Schrift gegen den Schindluder, der in liberaler Zeit mit ihr getrieben wird, und über den Verlust ihres Zaubers."


Aus Literatur lernen?

Lässt sich bei aller modernen Skepsis gegenüber zu kurzschlüssigen Modellen über die Wirkung von Kunst also heute noch aus der Literatur etwas über die Liebe lernen? "Wenn man es nicht als Handlungsanweisung versteht, auf jeden Fall, wobei unter einen erweiterten Literaturbegriff ja auch die immer stärker anwachsende Ratgeberliteratur fällt. Aber davon abgesehen: Für mich ist Literatur nach wie vor dasjenige Leitmedium, in dem wir lernen können, andere und uns selber zu verstehen. Sie führt uns Modelle des Verhaltens gegenüber dem andern vor und auch - wie immer symbolisch - alternative Handlungsmöglichkeiten und regt zur Selbstreflexion an. Ich würde sogar sagen, vor allem aus der Literatur kann man etwas über die Liebe lernen. Die Konkurrenz anderer Medien wird allerdings immer stärker. Viele Leute lernen aus Filmen oder aus der Popmusik. Aber die Grundlage zu Filmen, Serien etc. bleibt ja literarisch." In anderer Hinsicht meint auch Martin von Koppenfels, man komme nicht umhin, aus der Literatur etwas über Liebe zu lernen, schon "weil lesen selbst eine erotische Praxis ist, in dem Sinne, dass wir versuchen, uns mit literarischen Figuren zu identifizieren. Und Identifizierung ist nun einmal eine Form von Liebe. So kann eine intensive Beziehung zu einer Romanfigur entstehen. Und diese Beziehung verändert unser Ich, weil wir etwas von der Romanfigur aufnehmen."


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Quelle:
BI.research 36.2010, Seite 4-9
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2010