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AKZENTE/144: Literatur auf der Spur - Literarische Ausflüge in Durban/Kwazulu-Natal (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 1, Januar/Februar 2018

Literatur auf der Spur
Literarische Ausflüge in Durban/Kwazulu-Natal

von Gisela Feurle


Am Indischen Ozean gelegen ist Durban ein bedeutender Hafen und gleichzeitig ein gern besuchter Badeort. Von vielen Reisenden wird Durban häufig mit Strand, Sonne und Surfen assoziiert. Manche erinnern sich vielleicht auch an die gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des African National Congress (ANC) und der Inkatha in KwaZulu-Natal Anfang der 1990er-Jahre. Wenige verbinden Durban mit Literatur. Dies kann sich nun ändern, denn seit November 2017 ist Durban "Unesco City of Literature".


Als erste Stadt auf dem afrikanischen Kontinent erhielt Durban diese Auszeichnung. Die Auswahl fand im Kontext: des Unesco-Programms "Creative Cities" statt, in Deutschland ist Heidelberg seit 2014 Unesco-Literaturstadt. Warum fiel die Wahl auf Durban? Die pulsierende Hafenmetropole weist eine ganz besondere gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt auf, geprägt vor allem durch die lokale, Zulu-sprachige Bevölkerung sowie die indischen und europäischen Einflüsse ganz unterschiedlicher Einwanderergruppen im 19. und 20. Jahrhundert. Diese Vielfalt kennzeichnet auch die reichhaltige Literatur zahlreicher Autorinnen und Autoren der Stadt und der Region. Es gibt eine lebendige literarische Szene, mehrere renommierte Literatur-Festivals und inspirierende Programme von Bibliotheken. All das waren Gründe für die Auswahl als City of Literature.


Literary Tourism - das besondere Projekt

Zu Durbans Literaturszene gehört auch das KZN Literary Tourism-Projekt an der Universität KwaZulu-Natal, es ist in seiner Art einzigartig in Südafrika. 2002 wurde es von der Anglistikprofessorin Lindy Stiebel begründet. Zusammen mit Studien- und Forschungsgruppen entwickelte sie den "literarischen Tourismus", ein Ansatz, der über eine bereichernde Lektüre von literarischen Texten des bereisten Landes hinausgeht. Die "literarischen Ausflüge" verbinden Schriftstellerinnen und Schriftsteller und deren Werke mit Orten. Diese Verbindung kann sich z.B. auf die Schauplätze eines Romans beziehen, auf Wege der Figuren in einer Erzählung. Literarischer Tourismus interessiert sich dafür, wie Orte das Schreiben beeinflussen, und zugleich auch dafür, wie das Schreiben Orte schafft. Literarisches Reisen ermöglicht ein besseres Kennenlernen und tieferes Verstehen sowohl der Literatur als auch der besuchten Orte, es bereichert die (Literatur-) Lesenden und die Reisenden.

Die Webseite "Literary Tourism" bietet acht virtuelle und reale "Literary Trails" in Durban und der Provinz KwaZulu-Natal an, sie sind auch als Flyer und Broschüren erschienen. Zudem enthält die Webseite ein großes Online-Archiv mit Biographien und Informationen zu mehr als 160 Autorinnen und Autoren der Region sowie eine literarische Landkarte. Vor allem in der ersten Phase dieses öffentlichen Bildungsprojektes gab es eine enge Kooperation mit örtlichen Tourismuseinrichtungen. Sie umfasste die Bereitstellung von Materialien und die Fortbildung von Tour Guides.


Die deutschsprachige "Tochter!"

Gerade im richtigen Moment, kurz vor der Ernennung Durbans zur Unesco City of Literature, ist eine deutsche "Tochter" des Projekts dazu gekommen: die Webseite "Literarische Ausflüge in Durban/KwaZulu-Natal". Sie ist ein Angebot für Menschen aus dem deutschsprachigen Raum mit Interesse an südafrikanischer Literatur, an Südafrika und an Reisen in diese Region; ein Angebot auch für Lehrerinnen und Lehrer, für Projekte zum globalen Lernen und Kulturinteressierte in der Entwicklungszusammenarbeit. Die Webseite entstand auch vor dem Hintergrund, dass literarische Texte aus Südafrika auf dem deutschen Buchmarkt eher marginal sind - mit etlichen prominenten Ausnahmen natürlich. Sie macht die einzigartige Geschichte und breitgefächerte Literatur Durbans und seiner Umgebung für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich und regt an, durch und mit Literatur besondere Einblicke zu gewinnen.

Die auf der Webseite angebotenen "Ausflüge" führen - real oder virtuell - zu einer Vielzahl von Orten und Wegen in und um Durban. Im "Gepäck" sind jeweils kurze Vorstellungen der Orte, der Autorinnen und Autoren, die dort lebten, die diese Orte in ihren Werken als Schauplatz wählten oder anderweitig thematisierten. Viele ins Deutsche übersetzte Kostproben aus literarischen Texten laden zum Eintauchen und Entdecken ein. Gerade letzteres ist ein besonderes Element der deutschsprachigen Seite. Neu ist auch eine historisch-politische Einführung "Literatur & Geschichte" zur Einordnung der Autorinnen und Autoren und ihrer Werke.


Literatur auf der Spur: Einige Beispiele

Ein Rundgang führt in das "indische" Grey Street-Viertel in Durban (Grey Street heißt jetzt Dr. Yusuf Dadoo Street). Er führt über Straßen, Plätze und Märkte, die Schauplätze in zahlreichen literarischen Texten sind und die oft auch politische Orte des Widerstands gegen rassistische Diskriminierung waren. In diesem Viertel hatten sich viele Inder angesiedelt, nachdem sie aus der sklavenähnlichen Vertragsarbeit auf den Zuckerrohrplantagen, die von den britischen Kolonialisten Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, freikamen. Aziz Hassim erzählt in "Lotus People" über dieses Stadtviertel, die sogenannte Casbah, das lebendig und multikulturell war, der Apartheid zum Trotz: "In wenigen Minuten waren sie zurück auf der Straße, an der Ecke der Commercial und Grey Street. Schließlich blieb Jake stehen und zündete sich eine Zigarette an. 'Die Casbah ist eine andere Welt, Sam. Ein anderes Land. Wenn du dich auskennst, kann dich keine Armee von Cops finden...'"

Auf dem Ausflug Inanda/INK im Großraum Durban folgt man den Spuren Mahatma Gandhis am Ort des von ihm errichteten Zentrums Phoenix - heute ein Museum - und erfährt Spannendes aus seiner Autobiographie: Seine erste Erfahrung rassistischer Diskriminierung als junger Rechtsanwalt, die ihn veranlasste, in Südafrika zu bleiben, wo er letztlich 21 Jahre wirkte (1893-1914). Nahebei liegt das dicht besiedelte, von Arbeitslosigkeit und prekären Lebensbedingungen geprägte Wohngebiet KwaMashu; Einblicke in Leben und Atmosphäre dieses und anderer Townships können wir im Roman "Young Blood" des jungen Autors Sifiso Mzobe gewinnen.

An Durbans Strand und Promenade nimmt man das heutige multi-kulturelle lebendige Treiben auf besondere Weise wahr, wenn man in Lewis Nkosis klassischem Roman "Weiße Schatten" gelesen hat, der zur Zeit der Apartheid am Strand spielt, dem Paradebeispiel für die rassistische Trennung nach Hautfarben:

"Ach ja, ich habe oft darüber nachgedacht (wie ja die meisten Männer sich zu besinnen pflegen, wenn es bereits zu spät und das Spiel verloren ist), wie wohl mein Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht an jenem heißen Oktobertag an den Strand gegangen oder wenn ich, einmal dort, in sicherem Abstand auf meiner Seite des Strandes geblieben wäre, anstatt mich so nah zu jenem Abschnitt zu wagen, der als BADEZONE - NUR FÜR WEISSE bekannt ist. Würde ich in einer Gefängniszelle schmachten, auf den Tod durch Erhängen wartend, oder würde ich meinem Lebenswunsch gefolgt sein, der erste wahrhaft große afrikanische Autor meines Landes zu werden - eine Zukunft, die so viele meiner Freunde und Lehrer voller Zuversicht für mich vorausgesagt hatten?"

Auch der Hafen von Durban verändert sich, wenn man ihn als Schauplatz des Krimis "Lass die Toten" ruhen von Malla Nunn erlebt. Dieser spielt, wie die ganze, auch auf Deutsch erschienene, Krimireihe der jungen Autorin aus Swasiland, im Apartheid-Südafrika der 1950er-Jahre.

Der Ausflug Nordküste führt in die Gegend, wo Anfang des 19. Jahrhunderts der berühmte Zulu-Herrscher Shaka wirkte und in den 1950er/60er-Jahren Chief Albert Luthuli, damaliger Präsident des African National Congress (ANC). Der Ausflug führt mitten durch die Zuckerrohrplantagen, wo vor gut hundert Jahren die durch Verträge gebundenen indischen Arbeiterinnen und Arbeiter schufteten, und durch Ortschaften mit kunstvollen Hindu-Tempeln, die von der indisch-südafrikanischen Geschichte und Gegenwart zeugen. Auf all dies schauen wir mit anderen Augen nach der Vertiefung in Passagen aus Thomas Mofolos Roman "Chaka Zulu", dem ersten historischen Roman in den Literaturen Afrikas, 1926 auf SeSotho erschienen, 1953/1988/2000 auf Deutsch veröffentlicht. Oder wenn wir ausgewählte Passagen aus Albert Luthulis Autobiographie "Mein Land, mein Leben" dieses unbeugsamen Kämpfers gegen die Apartheid lesen, der 1960 den Friedensnobelpreis erhielt. Auch Aziz Hassims Roman "The Revenge of Kali" verändert den Blick, denn die Suche des Protagonisten nach seiner indisch-südafrikanischen Identität führt zurück in die Zeit der Vertragsarbeit.

So verlockt die Webseite virtuell und real zu spannenden, bedrückenden und erhellenden Ausflügen in Durban und seine Umgebung und in die dortige Literatur. Eine Literatur, die individuelle Perspektiven und differenzierte Facetten der südafrikanischen Gesellschaft erfahrbar macht, die unterhält und Genuss bereitet.

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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
46. Jahrgang, Nr. 1, Januar/Februar 2018, S. 35-36
Herausgeber: informationsstelle südliches afrika e.V. (issa)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2018

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