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STANDPUNKT/066: Politiker verstehen nur den "Druck der Straße" (Jürgen Heiducoff)


Politiker verstehen nur den "Druck der Straße" - unser Schweigen wird als Zustimmung ausgelegt!

von Jürgen Heiducoff, 24. April 2014
Huadian, Volksrepublik China



Ostern 2014 ist Geschichte. Die Teilnehmerzahlen bei den Ostermärschen widerspiegeln nicht den angestauten Frust der Deutschen. Die Unzufriedenheit der Menschen betrifft eine breites Spektrum von Problemen. Da ist nicht nur die Sorge um den Frieden.

In unserer individualisierten Gesellschaft werden Erwerbs- und Lebensgemeinschaften immer mehr zersplittert. Solidarität und Zusammenhalt verlieren an Bedeutung. Der andauernde Prozess der Umverteilung von Vermögen führte zu einer sozialen Polarisierung. Die Spareinlagen und Kapitalanlagen weniger, aber auch die Dispo - Verbindlichkeiten vieler steigen.

Auf der einen Seite steigt die Zahl der Beschäftigten zur Zeit wieder, aber einige können trotz Vollbeschäftigung ihren Alltag nicht finanzieren. Auf der anderen Seite werden Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt, fühlen sich überflüssig und nutzlos.

Die Belastungen im Erwerbsleben steigen. Psychische Überbelastung, Krankheit, Gleichgültigkeit, Depression sind die Folgen. Dagegen helfen auch gute Verdienste nicht.

Es besteht kaum Hoffnung auf grundlegende Veränderungen.

Die Machteliten agieren im Hintergrund. An Grundsatzentscheidungen wird die deutsche Bevölkerung kaum beteiligt. Die Menschen werden manipuliert, desinformiert, belogen, betrogen, permanent und flächendeckend überwacht und reglementiert.

Der Einzelne wird schnell zum wehrlosen Opfer im undurchdringlichen Gestrüpp der Regelungen und Gesetze, das selbst auf bestimmte Rechtsgebiete spezialisierte Juristen kaum mehr zu durchschauen vermögen.

Immer mehr Menschen - jeder für sich - erkennen dies. Gleichgesinnte kommunizieren im Internet, tauschen sich aus, machen sich gegenseitig Mut, suchen nach Auswegen. Die wenigsten artikulieren sich öffentlich. In den sozialen Netzwerken und in Kommentaren von Presseartikeln agieren fast alle anonym. Ihre Stimme ist durch die Eliten und durch die Politik nicht vernehmbar. Dieses Schweigen wird als Zustimmung zum System gewertet. So perfekt auch die Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten sind, die uns das Internet bietet - Politiker reagieren nur auf den "Druck der Straße" - auf die Aktionen von Massenbewegungen. Die Netzproteste der meist jungen Leute müssen zu Straßenprotesten werden. Wir brauchen eine neue gewaltfreie Bürgerbewegung.

Karl Marx wurde verstanden - besonders durch seine Gegner.

Marx schrieb 1844 in seiner "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie": " ... die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift."

Den Gegnern der Schaffung einer gerechten Gesellschaft ohne die Allmacht des Kapitals ist es gelungen, ihre eigenen Visionen und Vorstellungen in die Hirne der Menschen zu implantieren.

Die modernen Medientechnologien ermöglichen dies. Die Eliten verfügen über die erforderlichen finanziellen Mittel zu deren Beschaffung und Modernisierung. Zusätzlich werden alle Bürger per Gesetz zur Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien gezwungen.

Was tun? Jegliches Aktionspotential ist weitgehend neutralisiert.

Die Arbeiterbewegung ist ein historischer Begriff. Die Gewerkschaften verbrauchen sich an Nebensächlichkeiten. Wo ist die Studentenbewegung an unseren Universitäten und Hochschulen? Die Zeiten der großen politischen Streiks und die Massenaufmärsche der Friedensbewegung sind längst vorbei. Die Wiederbelebung all dieser Bewegungen wäre wünschenswert, ist aber illusorisch.

Da ist schon der Wunsch verständlich, eine neue Bewegung zu schaffen, die neben den herkömmlichen allgemeinen Losungen die Grundübel unserer Zeit definiert: die Allmacht des Kapitals, der Banken und Konzerne. Es bedarf einer Kraft, die sich die vernichtende qualifizierte Kritik des Weltherrschaftsstreben der USA zutraut. Die Hauptursachen für die Kriege der Gegenwart sowie die Strukturen und Kräfte, die von Kriegen profitieren, müssen überzeugend entlarvt werden.

Da gibt es seit wenigen Wochen einer Neuauflage der gewaltfreien Montagsdemonstrationen und eine "Friedensbewegung 2014" in vielen deutschen Städten. Die Themen gehen weit über das bisherige Themenspektrum der Friedensbewegung hinaus. Es entsteht der Eindruck, da werde ein gesellschaftlicher Konsens möglich - an den etablierten Parteien, an Regierung und Parlament vorbei. Dies ist der Versuch der Übertragung der Netzkritik auf die Straßen, in die reale Welt, in die Öffentlichkeit. Der Neuanfang einer neuen Bewegung? Vorsicht ist dennoch geboten: Trittbrettfahrer können sich Zugang verschaffen; das Vertrauen der Anhänger missbrauchen. Jeder sollte genau hinsehen, ob dies vielleicht eine Sackgasse ist. Dieser neue Ansatz darf nicht von "Verschwörungstheorien" zersetzt und aufgelöst werden.

Ich bin überzeugt, dass unsere Menschen die Kompetenz haben, vorsichtig und richtig urteilen. Die Bürger sind mündig, auch wenn der Bundespräsident ihnen während seiner Rede am 1. April in der Schweiz ein eingeschränktes Urteilsvermögen bescheinigte, indem er sagte: "Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen" (Spiegel online 01.04.14).

Immer mehr Menschen betrachten zurecht den Bundestag nicht als ihre Interessenvertretung. In zu vielen Einzelfragen wurde in der jüngsten Vergangenheit im Parlament mit anderen Mehrheiten entschieden, als dies die Bevölkerung laut Umfragen getan hätte. Referenden würden oft zu anderen politische Entscheidungen führen. Aber die sind nun mal auf Bundesebene nicht vorgesehen - aus gutem Grund.

Trotz alledem oder gerade deshalb: Erheben wir unsere Stimme! Öffentlich! Kollektiv! Das sind unsere Waffen im gewaltfreien Widerstand!

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Quelle:
© 2014 by Jürgen Heiducoff
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2014