Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Lektionen, die wir aus der Krise in Chile lernen können
Von Marianella Kloka, 18.11.2019
Aufnahme einer Performance während eines Marsches am Morgen des 12.
November 2019 in Santiago de Chile
Bild: © Marianella Kloka
Was können Griechenland und der Rest der Welt aus der neoliberalen Politik und dem harschen Umgang mit Menschenrechten in Chile lernen?
Erstens erkennen, dass ein Volk nicht unbedingt schläft, nur weil es nicht sofort reagiert. In den letzten 30 Jahren war Chile ein "Laboratorium für die Umsetzung neoliberaler Politik". Warum? Ganz einfach, weil es einige der in der Verfassung verankerten Gesetze so zulassen. Unter der Regierung von Pinochet wurde die Verfassung nach den Vorgaben der Chicago Boys umgesetzt. Seitdem hat es keine nachfolgende Regierung gewagt, die Verfassung zu ändern.
Die Leute gingen auf die Straße, als ein Tropfen das Fass zum Überlaufen brachte. Sie riefen: "Wir sind nicht über die 30 Pesos mehr für ein U-Bahn-Ticket empört - die vierte Preiserhöhung in diesem Jahr. Wir sind über die letzten 30 Jahre empört, die wir Eure Politik nun schon ertragen müssen." Bei jedem Protest singen die Menschen nun im Takt: "Chile ist aufgewacht, aufgewacht, aufgewacht!"
Zweitens, und das ist insbesondere für diejenigen wichtig, welche die junge Generation verunglimpfen und sie als gleichgültig und ziellos betrachten: Die Menschen, die zuerst auf die Straßen gingen und die heute immer noch auf den Straßen von Chile sind, sind jung, sowohl Frauen als auch Männer. An allen Protesten, sei es von Gewerkschaften oder von allen organisiert, bei denen nur die chilenischen und die Mapuche Flaggen getragen werden, beteiligen sich größtenteils junge Menschen und es kommen immer neue Teilnehmende dazu. Wer jetzt noch glaubt, die jüngere Generation sei gleichgültig, ist wahrscheinlich kurzsichtig und braucht eine Brille.
Der dritte Punkt betrifft die politischen Maßnahmen, die wir in unseren Ländern nicht zulassen dürfen. Warum trieb dieses Maßnahmenpaket, das in Chile eingeführt wurde, die Menschen auf Kosten der positiven Wirtschaftsindikatoren auf die Straßen?
Der vierte Punkt betrifft die allumfassende Frage der Menschenrechte und der sozialen Rechte. Die Art und Weise, wie die Mapuche und alle weniger "Weißen", wie Einwanderer aus Peru, Ecuador oder Venezuela, behandelt werden, verschärft die sozialen Spannungen, schafft Menschen zweiter und dritter Klasse und ebnet den Weg für das Anschwellen rassistischer und faschistischer Stimmen. Gleiches geschieht bei der Verweigerung von Rechten wie dem Recht auf Abtreibung, der Freiheit, über das eigene Geschlecht und den eigenen Körper zu bestimmen, dem Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe und dem Recht auf Sterbehilfe.
Fünftens ist es interessant, wie schnell Menschen (unterschiedlichen Alters) aktiv werden können. Wir denken meist, dass es Jahre dauert, bis etwas ins Unbewusste von Menschen vordringt. Zwei typische Beispiele können das verdeutlichen. Vor dem Ausbruch der Proteste war im öffentlichen Diskurs keine Rede von "verfassungsgebender Versammlung" und von "Würde". Fast auf magische Weise sind diese heute zu den Grundanforderungen in Chile geworden. Dies sind die ersten Begriffe im Wörterbuch der "neuen Sensibilität": Diese scheint unkompliziert zu sein, sie basiert auf gesundem Menschenverstand und ist abgeleitet von etwas Tieferem, etwas Unerklärlichem und doch Anziehendem, wie einem größeren, gemeinsamen Ziel.
Eine eingehendere Überprüfung der chilenischen Verfassung und der derzeitigen Krise wird zu weiteren Schlussfolgerungen führen, welche "neoliberalen" Rezepte wir definitiv vermeiden sollten und welche konservativen Stimmen aufhören sollten, uns zu verführen. Mit all der Erfahrung, die wir als Menschheit in verschiedenen Systemen gesammelt haben, können wir intelligentere Strategien anwenden, die weder vom überzentralisierten Staat noch von Wirtschaftsunternehmen beherrscht werden. Es gibt Vorschläge und Modelle für Markt- und Volkswirtschaften, die das Wohlergehen des Menschen als zentralen Wert betrachten und die vorschlagen, den freien Markt sowie Wirtschaftsunternehmen zu regulieren sowie Wissen und Innovation zum Wohle der Welt auszutauschen. Diese Modelle gewinnen im kollektiven Bewusstsein immer mehr an Boden.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Laura
Schlaphorst aus dem ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam
erstellt.
Marianella Kloka ist eine 47jährige Griechin mit Lebensmittelpunkt in Athen. Seit 1990 ist sie Mitglied der Humanistischen Bewegung und außerdem Gründungsmitglied der Organisation "Welt ohne Krieg und Gewalt" in Griechenland. Aktuell arbeitet sie als Menschenrechtsreferentin in der NGO PRAKSIS.
Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de
veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2019
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