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AUTOREN/044: Zum 150. Geburtstag Gerhart Hauptmanns am 15. November 2012 (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 45 vom 9. November 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Er beschrieb drängende Probleme und forderte auf nach Lösungen zu suchen
Zum 150. Geburtstag Gerhart Hauptmanns am 15. November 2012

von Rüdiger Bernhardt



Vor 150 Jahren wurde Gerhart Hauptmann im schlesischen Salzbrunn geboren, vor 100 Jahren bekam er den Literaturnobelpreis, vor 80 Jahren wurde sein siebzigster Geburtstag und Goethes 100. Todestag in Deutschland gemeinsam begangen. Mit Goethe wurde Hauptmann oft verglichen; auf die Ähnlichkeit legte er Wert.

Nicht diese Ähnlichkeit hat sein Werk bis heute in großen Teilen lebendig gehalten. Nur Anekdoten wurden weitergegeben. Folgenreicher ist, dass seine Dramatik neben der Brechts am wirkungsvollsten im 20. Jahrhundert war.

Das ergibt eine gewisse Logik: Während Brecht ein Theater schuf, das gesellschaftliche Veränderungen anstrebte und die Dramaturgie des epischen Theaters entwickelte, galt Hauptmanns Interesse Konflikten, Zuständen, denen der Mensch ausgesetzt war und die er in immer neuen Konstellationen ausstellte, die immer neue Lösungen erforderlich machten. Brecht sah bei Hauptmann Elemente des epischen Theaters: Er habe für "die neuen Stoffe ... keine andere Form" gefunden als die epische, die er aufgegeben habe, als man ihn für "undramatisch" hielt.

Neben Dramen begeistern Novellen Hauptmanns wie "Bahnwärter Thiel", "Der Ketzer von Soana" und "Mignon" bis heute, sind teils Schulstoff. Einige Romane gelten als Prophezeiungen von Zeitereignissen: 1912 wurde in "Atlantis" fast kolportagehaft ein Schiffsuntergang bei einer Atlantikquerung beschrieben, wenige Wochen nach dem Erscheinen des Romans ging die "Titanic" unter.

Fragment blieb der Roman "Der neue Christophorus", an dem der Dichter bis zu seinem Tode am 6. Juni 1946 arbeitete. Er gehört zu den Epochenromanen, wie sie um 1940 von Hermann Hesse, Hermann Broch und in Thomas Manns "Doktor Faustus" geschrieben wurden. Es waren ausgreifende Panoramen, durch die mehr Ideen als ein roter Faden führten. Hauptmann beschrieb in einem 1942 entstandenen Kapitel die Gefahren der Atombombe. Andere Zusammenhänge zwischen Zeitgeschichte und literarischem Werk finden sich bei Hauptmann in großer Zahl. Dennoch rührt sein dauerhafter Ruhm von der Präsenz seiner Stücke auf den Bühnen her.

Gerhart Hauptmann gehört zu den wirkungsvollsten Dichtern Deutschlands. Die Dramen "Das Friedensfest", "Die Weber", "Der Biberpelz", "Die Ratten" und "Rose Bernd" stehen im ständigen Repertoire der Theater. "Die versunkene Glocke" und "Hanneles Himmelfahrt" waren grandiose Erfolge des Dichters. Den Spitzenplatz in der Verbreitung nimmt aber Hauptmanns "Novellistische Studie" "Bahnwärter Thiel" ein, die beim Reclam-Verlag mit 3,7 Millionen verkauften Exemplaren seit 1948 zu den Top Ten des Verlages gehört.

In den letzten Jahren hat das Interesse für Gerhart Hauptmanns Werke zugenommen; selbst "Vor Sonnenaufgang", bei der spektakulären Uraufführung 1889 kam es zu Tumulten im Theater und ein Gynäkologe drohte eine Geburtszange auf die Bühne zu werfen, hat wieder Aufmerksamkeit gefunden. "Einsame Menschen" gehört zu den beliebtesten Stücken des Dichters, aber auch "Michael Kramer" und "Vor Sonnenuntergang" finden sich in den Spielplänen des letzten Jahrzehnts, auf den Bühnen von Berlin über München, Bern und Zürich bis Wien, aber auch in Freiberg und Döbeln, Zittau und Jena, Aalen, Mainz und Rendsburg. Die Spielzeit 2011/12 brachte 29 Inszenierungen Hauptmannscher Stücke, darunter zehn Inszenierungen der "Ratten". Das Jubiläumsjahr 2012 bringt zusätzlich Stücke zurück: Das Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau führte am 25. Februar 2012 die selten gespielte "Winterballade" auf, das Theater Vorpommern widmete sich der fast unbekannten "dramatischen Phantasie" "Der weiße Heiland".

Der Grund für das ständig vorhandene und in jüngster Zeit erneut zunehmende Interesse liegt in der Qualität seiner Werke, die von einer dauerhaften Aktualität und Grundsätzlichkeit der Themen und Konflikte begleitet wird, wie sie kaum ein anderer Autor aufweist. Gerhart Hauptmann war ein Dichter der Inspiration; Theoretisches war seine Sache nicht. Als er 1889 zum berühmten Naturalisten aufstieg, waren die theoretischen Programme vorhanden, teilweise verwirklicht und warteten in der Dramatik auf ihre Verwirklichung. Als die "Weber" 1892/93 Verbote auslösten und das Stück auch im Reichstag diskutiert wurde, war das Sozialistengesetz gefallen und das Proletariat hatte zu neuer Selbstbewusstheit gefunden, die man in den Webern fand. Das Stück wurde so gelesen. Dabei war Hauptmann kein Sozialdemokrat, auch wenn er in Karikaturen mit der sozialdemokratischen Ballonmütze gezeichnet wurde.

Während er vielen Menschen als Vorkämpfer einer sozialkritischen Literatur erschien, manche ihn für revolutionär hielten, entzog er sich solchen Bestimmungen: Als er bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm von einem Journalisten des "Social-Demokraten" auf die Sozialkritik in den "Webern" angesprochen wurde, leugnete er sie; der Journalist teilte seinen Lesern mit: "Der Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann ist offensichtlich nicht genau derselbe wie der Autor von 'Vor Sonnenaufgang' und 'Die Weber'." Das ist zu verallgemeinern: Hauptmann legte sich mit keiner Macht an und stellte sich jeder zur Verfügung, denn er sah in jeder Macht gestaltgewordenes Schicksal. Daraus forderte Kritik heraus. Das betraf seine patriotisch begründete Begeisterung für den Ersten Weltkrieg und vor allem seine Zurückhaltung im Faschismus, die auch Zugeständnisse und Bekenntnisse enthielt, die Freunde und Bekannte, die ins Exil gegangen waren, zur Abkehr von ihm trieben. Aber Werke des Dichters waren von Problemschärfe geprägt, denn die Inspiration des Künstlers siegte über den Sachverstand des Zeitgenossen. Unter dieser Voraussetzung bekamen etliche überzeitliche literarische Bedeutung. Manche, wie der "Bahnwärter Thiel", waren so wirkungsmächtig, dass sich Generationen nicht diesem einfachen kleinen Beamten entziehen konnten, dessen Lebensglück schicksalhaft zerstört wird, der sich deshalb als Werkzeug des Schicksals begreift und selbst zerstört. Einige Werke brachten grundsätzliche gesellschaftliche Probleme auf die Bühne; sie machten Konflikte fassbar, ließen aber Lösungen aus.

Gerhart Hauptmann erfasste zeitübergreifende Konflikte, ohne Entscheidungen zu bieten. Die mussten die Zuschauer für jeden einzelnen Fall in jeder Zeit neu finden; der Dichter hielt den Konflikt lebendig. Er konnte sich dabei auch auf sein großes Vorbild Henrik Ibsen berufen, dessen Wahlspruch war: "Mein Amt ist fragen, nicht Bescheid zu geben." Durch die naturalistische Theorie, nur vollständige Ausschnitte aus der Wirklichkeit zu bieten, wurde er unterstützt. Ein Beispiel sind "Die Weber", deren Aufstand im 4. Akt siegt, um mit dem Tod des alten Webers Hilse im 5. Akt zu enden; jeder Zuschauer wusste, dass der Aufstand niedergeschlagen worden war. In den "Webern" erinnert der Schmied Wittig an die Französische Revolution von 1789, deren Forderungen "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" Freiheit sozial bestimmen; Freiheit ohne Gleichheit und Gerechtigkeit bleibt abstrakt, bedeutungslos und Geschwätz. Wer bei der Forderung nach Freiheit die soziale Gerechtigkeit vernachlässigt, fällt geistig in Absolutismus und Mittelalter zurück, gibt die geistigen Positionen der Philosophie von Kant bis Marx preis. Das ist bis heute so geblieben, Hauptmanns "Weber" stellen den Zusammenhang von 1789 bis in die Gegenwart her, weisen auf die immer noch nicht gelösten Probleme hin.

Das "Nu jaja! - Nu nee nee!" des Webers Ansorge, einer der berühmten Aussprüche in Hauptmanns Werk, ist die Kurzfassung von Hauptmanns Weltsicht, in der Gegensätze erfasst, als Einheit konstatiert und als Zustand analysiert werden. Bei ihm gibt es nicht Ja oder Nein, sondern Ja und Nein. Das brachte den Kompromiss als Lebensform. Künstlerisch entstanden wirkungsvolle offene Schlüsse. Dadurch bleiben Konflikte so lange präsent, solange sie das gesellschaftliche Leben erschüttern. Deshalb wurden die "Weber" zwei Mal verboten, 1892/93 im wilhelminischen Kaiserreich und 2004 in der Bundesrepublik.

Veränderte Produktionsverhältnisse haben unmenschlichen Folgen; es weist die Gegenwart der Vergangenheit aus. So wie im 19. Jahrhundert die Weber ihre Arbeit durch die Industrialisierung Europas verloren, weil eine hochentwickelte Industrie handwerkliche Tätigkeiten verdrängte, so gehen heute Arbeitsplätze durch die hochentwickelte Automatisierung im Bunde mit der Globalisierung verloren. 2013 will man am Theater Plauen/Zwickau die "Weber" inszenieren, im Blick die Insolvenz des Druckmaschinenbauers Manroland. Das Beispiel der "Weber" ist nach wie vor gültig.

In "Der weiße Heiland" (1920), jetzt wieder auf die Bühne gebracht, treffen gegensätzliche Kulturen aufeinander, das Mexiko des Azteken-Herrschers Montezuma und das christliche Spanien, aus dem die Eroberer kommen. Daraus entsteht ein Gegensatz, den der Kritiker Alfred Kerr auf die Maxime brachte: "Sein Wilder ist ein Christ, seine Christen sind Wilde." Nicht zum Ausgleich von Kulturen kommt es, sondern zu Verbrechen und Massakern: "...ein Volk von fremden Räubern,/weiß und mördrisch wie Dämonen,/über unsere Grenzen einbricht", klagt Montezuma. Das wenig bekannte Stück Hauptmanns ist aktuell: Kriege vernichten im Zeichen von Demokratie und christlich-westlicher Zivilisation andere Kulturen und morden unschuldige Menschen. Die Inszenierung am Theater Vorpommern ließ die Presse "USSoldaten im Irak und auch die Folterbilder von Abu Ghuraib" assoziieren.

Afghanistan, Libyen und Syrien fallen ein. In Hauptmanns Stück siegt keiner und der todkranke Montezuma ruft mit letzter Kraft zum Verderben der Fremden, der Christen auf: "Raubgesindel! Fort! Vertilgt das/Ungeziefer von der Erde!" Statt Frieden hat die christliche Zivilisation Vernichtung gebracht, Unterstützung der Opposition bedeutete die Eroberung von Rohstoffen und Einflusssphären.

Nach 1945 wurde Hauptmanns "Rose Bernd" (1903) aufgeführt. Hauptmanns dramaturgische Methode war auch hier ein Grund. Rose Bernd, die ihr uneheliches Kind getötet hatte, wurde von Hauptmann, der im Alter immer nachdrücklicher an ein beherrschendes Schicksal glaubte, eine eigene Entscheidung abgesprochen.

Die Aktualität des Stückes entstand daraus, dass trotz der finsteren, düsteren, an Verbrechen reichen Abläufe Hauptmann die Täterin bemitleidete - Mitleid war eines der großen ihm nachgesagten Gefühle; es wurden alle beteiligt, ob Täter oder Opfer, ein Gesichtspunkt nach 1945: Deshalb bemühten sich Johannes R. Becher und die sowjetische Besatzungsmacht um Hauptmann und gewannen ihn für den Ehrenvorsitz des neugegründeten Kulturbundes. Er, der als Mensch manchmal versagt hatte und oft Opportunist war, hatte als Dichter Bleibendes geschaffen.

Wo man mit den Deutschen, die den Faschismus gestützt hatten und keine Widerständler waren, den Neuaufbau beginnen musste, war ein Gerhart Hauptmann, dessen Irrtümer nie die soziale Präzision seiner Werke in Frage gestellt hatte, eine Gestalt, auf die man sich verständigen konnte. Selbst seine späte "Atridentetralogie" (1941 ff.), die im Schicksal alle Macht sah und sich nationaler Größe verschrieben hatte, wurde nach dem Krieg als Widerstandsstück gelesen und von Erwin Piscator 1962 so inszeniert. Und Thomas Mann hatte den Dichter bereits in seiner Rede "Von deutscher Republik" (1922) als einen "Volkskönig wahrhaft" bezeichnet.


Unser Autor hat mehrere Bücher über Gerhart Hauptmann veröffentlicht, darunter: Gerhart Hauptmann. Eine Biografie (Fischerhude: Verlag Atelier im Bauernhaus, 2007) und Hiddensee. Auf den Spuren von Gerhart Hauptmann (Hamburg: Ellert & Richter Verlag, 2012).

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, Nr. 45 vom 9. November 2012, Seite 13
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2012