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AUTOREN/046: Zu Georg Büchners 200. Geburtstag am 17. Oktober 2013 (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 42 vom 18. Oktober 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

"Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt"

Zu Georg Büchners 200. Geburtstag am 17. Oktober 2013

von Rüdiger Bernhardt



2013 ist ein Jubiläumsjahr für Literatur, Musik und soziale Bewegungen; Richard Wagner und Giuseppe Verdi, Otto Ludwig und Friedrich Wilhelm Weber - dessen Epos "Dreizehnlinden" in Westfalen in Millionenauflage verbreitet ist -, Friedrich Hebbel und Søren Kierkegaard, Adolph Kolping und andere wurden vor zweihundert Jahren, im Jahr der Befreiungskriege und der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, geboren. Und auch Georg Büchner. Die Gegensätzlichkeit von parallelen Auffassungen wird an zwei Medizinern deutlich: Büchner als Radikaldemokrat und F. W. Weber als konservativer Dichter.

Büchners Leben war kurz: Geboren am 17. Oktober 1813, an einem Tag der Völkerschlacht, in Goddelau bei Darmstadt, starb er am 19. Februar 1837 in Zürich, im Exil. Was er in dem kurzen Leben leistete grenzt an Wunder und war Genialität: Er studierte Medizin, promovierte und wurde Privatdozent an der Universität Zürich; er engagierte sich als Revolutionär mit einer der berühmtesten politischen Flugschriften, dem "Hessischen Landboten". Er las umfänglich die Gegenwartsliteratur, übersetzte Werke Victor Hugos aus dem Französischen und führte einen umfangreichen Briefwechsel, der oft von programmatischer Bedeutung war. Er schrieb eines der berühmtesten Schauspiele über die Französische Revolution von 1789 mit "Dantons Tod" Er hinterließ das Fragment eines der frühesten und gleichzeitig wichtigsten sozialen Dramen unserer Literatur "Woyzeck" mit dem der Proletarier die deutsche Bühne betrat und ein neuer Dramentyp geschaffen wurde, das soziale Drama. Er versuchte sich als Psychoanalytiker, obwohl es die Disziplin noch nicht gab, mit der Novelle "Lenz" und er schuf "Leonce und Lena" womit er das Genre "Komödie" neu besetzte. Diese Werke haben Wissenschaftler und Theaterpraktiker, Politiker und Künstler und vor allem Leser und Zuschauer bis heute anhaltend beschäftigt und zu immer neuen Überlegungen und Interpretationen geführt, teils, süchtig nach Sensationen, auf Abwege führend, teils ästhetische und geistige, aber auch politische und soziale Prozesse beeinflussend.

Die Völkerschlacht änderte die europäischen Machtstrukturen. 1815 wurden durch den Wiener Kongress die feudalabsolutistischen Verhältnisse weitgehend restauriert. Parallel dazu begann die industrielle Revolution und die Arbeiterklasse samt ihren Organisationen entstand. Alles das wurde in den wenigen Werken Büchners thematisiert, wodurch sie nicht nur literarisch außergewöhnlich, sondern auch historisch von Bedeutung geworden sind. Dabei hatte das niemand dem Dichter an der Wiege gesungen. Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt war ein Kleinstaat, der zu Büchners Zeit ein rückständiges Agrarland war. Die sozialen Widersprüche brachen schroffer als in anderen Regionen auf. Trotz der Reaktion nach 1815 ließen sich nicht alle Fortschritte der bürgerlichen Revolution rückgängig machen. Die bürgerlichen Rechte aus dem Code civil und ein sichtbarer Fortschritt der bürgerlichen Demokratie in den Rheinbundstaaten blieben teilweise wirksam und beeinflussten Georg Büchner, in der schulischen Bildung setzte sich eine neuhumanistische und naturwissenschaftliche Thematik durch. Deshalb erschien die Julirevolution 1830 Georg Büchner als Fortsetzung des Kampfes um bürgerliche Rechte und Freiheiten. Er erlebte während seiner Studien in Straßburg (Wintersemester 1831/32 bis Sommersemester 1833) die Auseinandersetzungen in Frankreich: Die Studenten stritten über den Weg zu einer Republik. Die Vorstellungen galten dem amerikanischen, föderalistischen System, der französischen Verfassung von 1791, radikale Demokraten, zu denen Büchner gehörte, favorisierten die Jakobinerrepublik von 1793/94. Büchner und seine Freunde sollen sich "nur mit den Worten "Bon jour, citoyen!" (Guten Tag, Bürger) gegrüßt haben.

"Dantons Tod" (1835, vollständig erst 1879) war ein Stück dieser Zeit und thematisierte eine Revolution, deren Fortgang unklar war. Für den hingerichteten König fand sich nicht ein Wort des Mitleids, aber über die Wege zur Lösung der sozialen Widersprüche, die das Volk quälten, gab es gegensätzliche Vorstellungen, die sich ausschließend gegenüberstanden und beide scheiterten. Büchners Vorstellung war, dass die Rede von der Tugend der Revolution, wie sie Robespierre pflegte, dem Volk nichts zu essen brachte. Hier war der Schritt zu neuen Verteilungsprinzipien zu gehen, den Büchner ahnte. - Sein dramatisches Fragment "Woyzeck" war ein Gegenwartsstück und ist ein Lehrstück der sozialen Zerstörung eines Menschen und einer Familie geworden. Es ging auf einen Kriminalfall zurück: Der arbeitslose Friseur und Perückenmacher Johann Christian Woyzeck, 41 Jahre, erstach 1821 in Leipzig seine Geliebte, die 46-jährige Johanna Christiane Woost. Die Tat löste gerichtspsychiatrische Auseinandersetzungen über Schuldfähigkeit und soziale Ursachen der Verbrechen aus, die auch nach der Hinrichtung Woyzecks 1824 weitergeführt wurden. Das interessierte Büchner, der aus einer Medizinerfamilie stammte. Aber die Bedeutung des Stücks liegt vor allem in den sozialen Problemen, die in dieser Zuspitzung neu waren, und den abgeleiteten Fragestellungen. Die Wirkung war gewaltig, stellte sich aber erst spät ein, denn das Stück wurde 40 Jahre nach Büchners Tod bekannt, erstveröffentlicht in der naturalistischen Zeitschrift "Mehr Licht!", und 100 Jahre nach Büchners Geburt uraufgeführt. Seither gehört es zu den berühmtesten Werken der deutschen Literatur.

An Woyzeck vollzog sich soziale Deklassierung: Er sank sozial auf die unterste Stufe und war bei Büchner noch Plebejer und ansatzweise schon Proletarier, als Besitzloser rechtlos. Vom Vorgesetzten, dem Hauptmann, wird er moralisch disqualifiziert, vom Doktor im Menschenversuch missbraucht, von der Geliebten Marie betrogen, von ihrem Freier lächerlich gemacht. Für eine Ehe kann er die benötigte Mindestsumme nicht aufbringen. Insofern ist Woyzeck in seiner Handlungsfreiheit als Soldat und auch als Vater an unterster Stelle angesiedelt. Möglichkeiten des Widerstandes gibt es für ihn nicht, nur den Ausbruch in die Gewalttat. Mit Büchners "Woyzeck" rückte der sozial Entwurzelte ins Zentrum des theatralischen Geschehens. Er wird zur Hauptperson einer Handlung, die er selbst nicht bestimmen kann. Ein grandioser künstlerischer Einfall, der zudem mit eindringlichen szenischen - dem neuartigen Stationenstück - und vielfältigen sprachlichen Mitteln umgesetzt wurde.

"Woyzeck" wurde zur Revolutionierung der künstlerischen Traditionen, Methoden und Gegenstände. Die Gesellschaftskritik Büchners richtete sich auf die ungerechten Verteilungsprinzipien der Gesellschaft, für ihn im Widerspruch von Arm und Reich, Hütten und Palästen ("Hessischer Landbote") gegenwärtig.

Mit dem beginnenden Naturalismus um 1875, zuerst betrieben durch Karl Emil Franzos, begann die Rezeption des Woyzeck, die 1920 einen ersten und mit Alban Bergs Oper "Wozzek" 1925 einen weiteren Höhepunkt erreichte. Bertolt Brecht, auf dessen episches Theater Büchner Einfluss hatte, hielt "Woyzeck" für eines der stärksten Werke der deutschen Literatur. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann eine Phase der Rezeption, die durch weitere Forschungen und die Massenmedien unterstützt wurde. Die Beschäftigung mit dem Werk Büchners ist umfangreich und wissenschaftlich vorbildlich Der Georg-Büchner-Preis (seit 1923) bekam 1951 eine neue Qualität und gilt als höchste deutsche Auszeichnung für Literatur. Trotzdem ist auf die herausragende politische Rolle des Dichters immer wieder hinzuweisen, um sie nicht im Ästhetischen aufgehen zu lassen.

Von der Julirevolution 1830 aus datiert ein loser Zusammenschluss deutscher Schriftsteller, die der Literatur eine verstärkte politische und gesellschaftliche Wirkung geben wollten. Zu diesem Jungen Deutschland zählte man u. a. Heinrich Heine, Ludwig Börne und Karl Gutzkow, der Büchner einen Pfad in die Literatur bahnte und an den er 1835 den Brief schrieb, aus dem die Überschrift zu diesem Artikel stammt. Büchner, dessen Schriften den Mächtigen als unsittlich galten, wollte nicht dazu gerechnet werden, seine Ansichten waren radikaler. Er warf dem Jungen Deutschland "völliges Misskennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse" vor und forderte stattdessen die Fokussierung auf das unterdrückte Volk und die sozialen Gegensätze. Seine politischen Vorstellungen und Ziele wurden, trotz abschwächender Eingriffe des Theologen Dr. Friedrich Ludwig Weidig, im "Hessischen Landboten" (1834) deutlich. Büchner wollte den vierten Stand über einen revolutionären Umsturz an die Macht bringen. Das Motto des "Hessischen Landboten" "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" war ernst gemeint. Für Büchner war eine Revolution erfolgreich, wenn die Armen gegen die Reichen gesiegt hatten. "Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die natürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen" (Brief an die Familie von 1833), wollte er nicht akzeptieren, sondern verändern.

Dazu gehörte für ihn auch, dem Volk zu verdeutlichen, dass es "im Loch" steckt und das nicht einmal mehr merkt. Das war sein Vorsatz, erfüllt sah er ihn nicht und aktuell ist er bis heute. Büchners philosophische und politische Ansichten waren radikaldemokratisch und berührten frühsozialistische Anschauungen. Sein gesellschaftliches Konzept war seinen Zeitgenossen voraus. - Sein Jubiläum ist für einige Anlass, dieses Bild von Werk und Dichter zu zerstören und aus dem Revolutionär einen auf Erlösung hoffenden Christen zu machen: Hermann Kurzkes gut lesbare "Geschichte eines Genies Georg Büchner" (2013) ist dabei vorsichtig und mehr schöne Dichtung als wissenschaftliche Darstellung, Matthias Matusseks unsäglicher Artikel "Heiliger Rebell" (Spiegel 2013, Nr. 40) versucht dagegen einen vernichtenden Rundumschlag, der bis zu Brecht, Kurt Barthel (KuBa) und anderen "stalinistischen Apologeten" reicht. Weil es in Büchners Werk christliche Motive gibt, will er ihn für das eigene fundamentalistische katholische Weltbild "retten" und diffamiert die Büchner-Forschung wegen ihres "Arbeiterkampf-Jargons". Er "übersieht" dabei, dass Gestalten wie Büchners Woyzeck und andere zu ihrer Zeit keine andere Bildungsmöglichkeit als die kirchliche erlebten, kaum ein anderes Werk als die Bibel kannten, aber trotzdem - oder auch deshalb - sozial deklassiert und entmenschlicht wurden.

In einer dreijährigen Schaffensperiode und mit wenigen Texten schuf Georg Büchner ein Gesamtwerk mit einer Utopie, die von den Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit getragen wurde, die Revolution von 1830 reflektierte und vorausweisend die Verteilung der gesellschaftlichen Mittel zum programmatischen Zentrum hatte, dem Büchner sozial praktizierbare Konturen geben wollte, ein Vorhaben, in dem schon die Widersprüche des sich imperial entwickelnden Kapitalismus aufschienen.


Rüdiger Bernhardt hat mehrere Kommentare zu Werken Georg Büchners veröffentlicht, zuletzt erschienen als Band 235 der Königs Erläuterungen (C. Bange Verlag) "Dantons Tod" (2011) und in der gleichen Reihe als Band 315 "Woyzeck" (2013, 3. Auflage).

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 42 vom 18. Oktober 2013, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2013