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AUTOREN/047: Verdrängt, dann vergessen - Paul Heyse (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 13 vom 28. März 2014
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Verdrängt, dann vergessen - Paul Heyse
Zum 100. Todestag des Literatur-Nobelpreisträgers Paul Heyse, wer war das?

von Rüdiger Bernhardt



Es ist still geworden um den Schriftsteller, der zu den erfolgreichsten und produktivsten in Deutschland zählt - etwa 170 Novellen, 80 Dramen, acht Romane - die besonders vernachlässigt wurden -, Lyrik, Übersetzungen usw. -, der als Glückskind der Literatur gilt, der 1854 von König Maximilian II. von Bayern nach München geholt wurde, ihm aber auch widersprach und sich 1868 vom Hof löste, der berechtigt als Epigone der Klassik gilt, aber auch bedeutende Werke schuf und ein respektabler Nachfolger der Klassiker ist. Mancher erinnert sich, dass Heyse 1910 der erste deutsche Nobelpreisträger für Literatur war, 1912 bekam ihn Gerhart Hauptmann. Gegensätzlicher konnten die Träger nicht sein. Der Nobelpreis 1902 an den Historiker Theodor Mommsen wurde für dessen "Römische Geschichte" vergeben, der 1908 an den Philosophen Rudolf Eucken. Heyse erhielt ihn für eine "von Idealismus durchleuchtete Kunst".

Dieser Idealismus ist vielschichtig. Literaturinteressierte kennen Heyses "Falkentheorie", die zur Kenntnis von Novellenstrukturen gehört. Sie geht zurück auf Boccaccios "Decameron": In einer der Novellen opfert ein Liebender seiner Angebeteten seinen Jagdfalken als Mahlzeit, weil er nichts anderes mehr besitzt. Sie erhört ihn danach. Heyse forderte für jede Novelle einen "Falken", das "Spezifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet".

An Heyse zu erinnern in einer sozialistischen Zeitung, warum? Grund wäre sein literarisches Werk, nicht in seiner Gesamtheit, aber in Teilen des Novellen- und Romanschaffens wie "Kinder der Welt". Erinnernswert ist auch, wie sich der politische Umgang mit Literatur verfolgen lässt.

Heyses Idealismus richtete sich auf Formvollendung, hatte aber auch kosmopolitische Züge, die aus dem klassischen Erbe stammen und sich in seiner Weltoffenheit und Italienbeziehung ausdrücken. Sein europäisches Denken machte ihn nach 1890 für die Bourgeoisie verdächtig:. Für nationalistisches Pathos hatte er, der andere Länder wie das eigene achtete, kein Verständnis. Als das wilhelminische Kaiserreich immer militanter wurde, geriet Heyse mit seiner überholten bürgerlichen Redlichkeit ins Abseits, zumal sein Idealismus zunehmend soziale Züge bekommen hatte. Während des Sozialistengesetzes unterstützte er die bayrischen Sozialdemokraten, 1887 machte er sich für ein Heine-Denkmal stark. 1892 war er gegen Antisemitismus und Zensur - es war die Zeit des "Weber"-Verbotes; 1900 trat er gegen die Lex Heinze auf, ein Gesetz, mit dem der Staat der Kunst bei Verstoß gegen das "Scham- und Sittlichkeitsgefühl" Maulkorb und Zügel anlegen wollte. Den ihm 1910 verliehenen Adel verwendete er aus sozialer Überzeugung nie. Seine Kritik an bayerischer und preußischer Kulturpolitik wurde in den neunziger Jahren immer schärfer. Dass Frauen in seinen Dichtungen selbstständig handelten, eine unkonventionelle Liebe lebten, an der sie oft scheiterten, und eine Freiheit verteidigten, die ihnen gesellschaftlich verwehrt wurde, ist aktuell.

Die bürgerliche Literaturkritik verbreitete um 1900, Heyse lege nichts Neues vor, wiederhole sich - was teils der Fall war - und habe nicht nur seinen Höhepunkt überschritten, sondern auch das Ende seiner Wirksamkeit erreicht. Das Urteil - auch Tucholsky trug es ohne Kenntnis Heysescher Werke weiter - nahm andere Urteile wie das von Georg Brandes nicht wahr und wirkt ungeprüft bis heute nach; kleinlichkleinteilige Stiluntersuchungen seiner Texte treten an die Stelle kenntnisreicher Aufarbeitung. Es gibt keine die Persönlichkeit betrachtende, wertende und historisch ordnende aktuelle Biografie; Briefe warten auf Sichtung. Der Kulturpolitiker Heyse ist bis heute unbekannt. Dass Heyse von den jungen Naturalisten, vor allem aus München, abgelehnt wurde, muss differenziert werden; die Kritik setzte spät ein - um 1880 jubelte man ihm zu - und ging auf Heyses beherrschende Rolle im literarischen Prozess zurück. Seine Darstellungen großer Gefühle fand Zustimmung; nur wenige verurteilten ihn, manche sahen ihn an der Seite Theodor Storms, Gottfried Kellers und Theodor Fontanes. Heyse selbst polemisierte gegen Naturalistisches in seinem Roman "Merlin" (1892), versuchte aber auch, ihre Programmatik zu verarbeiten. Die naturalistische Kritik an Heyse war ähnlich der an Goethe und Schiller geübten, es wurde nicht die literarische Bedeutung der Dichter in Frage gestellt, sondern die von der Kunstkritik einseitig propagierte Vorbildlichkeit und Starre der verkündeten Werte, die nicht mehr mit der aktuellen Realität übereinstimmten.

Dass er aus dem bürgerlichen Literatur-Kanon verdrängt wurde, hatte jedoch noch einen anderen Grund: Heyse war mit einer jüdischen Herkunft belastet. Er wurde 1830 als Sohn eines Universitätsprofessors und einer Mutter aus einer bedeutenden jüdischen Familie geboren; sie war mit den Mendelssohn-Bartholdys verwandt. Jüdische Salons waren Heyses Bildungsstätte; er stand in seiner Autobiografie "Jugenderinnerungen und Bekenntnisse" (1900) nachdrücklich zu dieser geistig-literarischen Bildung. Das machte ihn im antisemitisch orientierten Deutschen Reich verdächtig und lud zum Verdrängen ein. Der naturalistisch auftretende Karl Bleibtreu hatte ihn "als literarischen Streber" mit "rabbinerhafter Spitzfindigkeit" bezeichnet. Einen Höhepunkt erreichte die Aburteilung im Dritten Reich. Man bediente sich seines historischen Schauspiels "Kolberg" (1868), in dem es um den Kampf gegen napoleonische Fremdherrschaft ging, das im Kaiserreich von 1871 allerdings nationalistisch genutzt wurde, und entwickelte daraus 1944 den üblen Durchhalte- und Propagandafilm "Kolberg", wobei auf Heyses Vorlage verschämt verwiesen wurde. Gleichzeitig kam zu der Verdrängung des Autors Heyse die Verurteilung eines Dichters, der jüdischer Herkunft war: "... ein kleiner Bürger mit den Gelüsten und dem Stadtviertelrundblick eines solchen, der die Formgabe eines hochgezüchteten Philologen hatte" (Nadler, 1938). Das klang nach Getto und Abnormität.

Der marxistische Kritiker Franz Mehring hatte dagegen frühzeitig Heyses zerrissene Persönlichkeit umrissen. Für Mehring stand Heyse "in erster Reihe der lebenden Dichter", sein Trauerspiel "Ehrenschulden" (1896) sei "vortrefflich gearbeitet", Heyse verfüge über "eine glänzende Form" und sei "reich an geistreichen ... Gedanken", "klug" und "ehrlich" im Gegensatz zu anderen "Poeten der Bourgeoisie". Seine Grenze bestehe darin, dass er die "Vorstellungen der herrschenden Klassen" nicht zu "durchbrechen" versuche, sondern er sich immer tiefer in ursprüngliche Werte vertiefe, die dann "in starrster Reinheit" erschienen.

1966 erschien in der DDR eine Auswahl der Novellen Paul Heyses unter dem Aspekt, Texte "von Standesvorurteilen und sozialer Ungerechtigkeit" zu vereinigen. Er traf sich in Erzählweise und Konflikt, mit den befreundeten Storm und Keller. In der Novelle "Jorinde", spielend zu Anfang des 19. Jahrhunderts, nimmt eine geheimnisvolle schöne Frau Rache für ihre proletarische Mutter, die zum Verzicht auf ihre Liebe gezwungen wurde, um die Ehre einer brüchigen bürgerlichen Familie zu erhalten. Das Leiden der Mutter rächt Jorinde an der wohlhabenden Familie und verzichtet dafür auf eigenes Glück. In der Novelle "Die Eselin", handelnd nach dem Krieg von 1870/71 und beiläufig jeglichen Heroismus in Frage stellend, werden sozial Benachteiligte zu Opfern selbstgefälliger Herrschaft - "Die Gegend ist wenig bevölkert, die Leute sehr arm."

Der Erzähler stellt die sittliche Weltordnung in Frage; Lösungen weiß er nicht, seine Opfer gehen unter, Untergang wird zur Erlösung. Betrachtet man Heyses Novellen und Romane genau, entwirft er einerseits Idealbilder bürgerlicher Verhältnisse, die mit der Wirklichkeit in Widerspruch geraten sind und den Dichter ratlos zurücklassen, aber immer wieder greift er zurück in die Renaissance und erinnert an die einstigen Ansprüche, andererseits war er den modernen Naturwissenschaften gegenüber aufgeschlossen, die im Naturalismus wirkten. Henrik Ibsen, der mit Heyse befreundet war, sah Parallelen zwischen der Determination des Menschen, die er thematisierte und die ihn zum bedeutenden kritischen Dramatiker der Welt werden ließen, und Heyses Roman "Kinder der Welt" (1873), in denen sozialdemokratisches Denken nachzulesen war. Ibsen hatte die Bekanntschaft mit Heyse in München, wo er wohnte, 1875 gesucht, verkehrte im "Krokodil", der literarischen Tafelrunde Münchens, und wurde von Heyse als "wunderbarer Mann" gepriesen. Ibsens "Nora (Ein Puppenheim)" wurde von Heyse als "Meisterstück" gewürdigt, dem die Deutschen nichts Ähnliches an die Seite zu setzen hätten. Den Verkehr zwischen beiden behinderte Ibsens schärfer werdende Gesellschaftskritik, der "Spitalpoesie" Ibsens - das zielte auf Ibsens "Gespenster" - sah sich Heyse mit seinem auf Ausgleich bedachtem Konfliktbewusstsein hilflos ausgesetzt. Auch Turgenjew und Dostojewski wirkten auf Heyse.

Heyse war ein produktiver Schriftsteller; vieles davon ist vergessen, vieles ist zu Unrecht vergessen wie z. B. das Epigramm: "Bist du schon gut, weil du gläubig bist?//Der Teufel ist sicher kein Atheist."

Vor einhundert Jahren, am 2. April 1914, starb Paul Heyse. Er erlebte den Ersten Weltkrieg nicht mehr; dass die von ihm vertretene Idealität zu Ende ging, sein Bild der gebildeten Bürgerlichkeit im imperialen Machtstreben der kapitalistischen Führungsmächte wie eine Seifenblase platzte und zur Farce wurde, hatte er gespürt. Sein Werk wurde ein kulturhistorisches Dokument, das an die Ideale des Bürgertums erinnerte, die im 19. Jahrhundert verraten und verleugnet wurden. Deshalb griff Heyse so oft auf die Renaissance zurück und erinnerte an die deutsche Klassik. Aber die Bourgeoisie wollte nicht erinnert werden. Sich seiner zu erinnern bedeutet, Methoden der historischen Verdrängung in der bürgerlichen Geschichtsschreibung kennenzulernen und nach gerechten Urteilen zu suchen.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 46. Jahrgang, Nr. 13 vom 28. März 2014, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2014