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AUTOREN/053: Stephan Hermlin - Mann eines Endzustands (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2015

Mann eines Endzustands
Zum 100. Geburtstag von Stephan Hermlin

Von Hanjo Kesting


Als der Schriftsteller Fritz Rudolf Fries im Dezember 2014 in Petershagen starb, waren die Nachrufe auf ihn beherrscht von seinem Verhältnis zur DDR, besonders von dem Umstand, dass er in einer bestimmten Phase seines Lebens mit der Stasi angebändelt hatte. Fries, 1935 in Bilbao geboren, Sohn eines deutschen Vaters und einer spanischen Mutter, war in der DDR aufgewachsen, in der man sein erstes Buch, den großartigen Schelmenroman Der Weg nach Oobliadooh, Mitte der 60er Jahre nicht drucken wollte, sodass er durch die Vermittlung Uwe Johnsons bei Suhrkamp in Frankfurt erschien. Daraufhin verlor der Autor seine Stelle bei der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin, es dauerte einige Jahre bis er im Hinstorff Verlag Rostock eine publizistische Heimat fand.

Der Preis, den er dafür zahlen musste, war die besagte Zusammenarbeit mit der Stasi. Fries ließ sich wahrscheinlich in der Hoffnung auf sie ein, seine Auftraggeber an der Nase herumführen zu können, ungeachtet der von ihm selbst formulierten Einsicht, dass, wer mit dem Teufel isst, einen langen Löffel braucht. Er selbst war es, der seine "IM-Tätigkeit sieben Jahre nach dem Mauerfall offenlegte, ohne seinem Stolz ein Reuebekenntnis abzuverlangen. Obwohl später keine ernsthaft belastenden Mitteilungen ans Licht kamen, reichte das bloße Faktum der Stasi-Connection aus, Fries und sein bedeutendes literarisches Werk dauerhaft in den Schatten zu verbannen. Nur der Kritiker Helmut Böttiger widmete ihm einen respektvollen Nekrolog und nannte die Vergessenheit, in die er geraten war, "tragisch". Er schrieb: "Er war weitaus eher Opfer als Täter".

Weit mehr als Fries war und ist Stephan Hermlin, der vor 100 Jahren, am 13. April 1915 in Chemnitz geboren wurde, ein exemplarischer Fall für die Autoren der DDR - und unseren Umgang mit ihnen. Als bekennender Kommunist und später Erbe des Bildungsbürgertums hatte er großen Einfluss auf das Kulturleben seines Staates, zu dem er sich noch bekannte, als er bereits untergegangen war. Dabei war Hermlin in ästhetischen Fragen keineswegs staatskonform Anfang der 60er Jahre - die Literatur der DDR stand im Zeichen des "Bitterfelder Weges" und sollte positiv am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mitwirken - beschrieb er seine literarische Position mit den Worten: "In meinen Bücherregalen steht Musil neben Willi Bredel, Hofmannsthal neben Erich Weinert, Kafka neben Anna Seghers. Ich glaube nicht, dass mir der Blick auf den einen den Blick auf den anderen verlegt hat." Hermlin hat auch nie von dem Versuch abgelassen, der Kunst in seinem Land einen eigenen und autonomen Weg zu bahnen. So ermöglichte er im Dezember 1962, in den Räumen der Akademie in Ostberlin, einen Lyrikabend für junge Autoren, darunter auch Sarah Kirsch, der außer Kontrolle geriet, als Wolf Biermann sein Lied An die alten Genossen vortrug. Hermlin musste seine Position als Akademiesekretär der Sektion für Dichtung räumen. Trotzdem setzte er sich weiterhin für unbequeme Autoren ein und initiierte im November 1976 die Petition zugunsten des ausgebürgerten Wolf Biermann.

Stefan Heym hat die Vorgänge und Hermlins Rolle in seinem Buch Der Winter unsers Mißvergnügens beschrieben. "Hermlin", heißt es da, "zieht ein Papier aus der Tasche, sagt ein, zwei einleitende Sätze und verliest den Entwurf einer Erklärung, den er gestern Nacht geschrieben hat. Biermann, heißt es da, sei wohl ein unbequemer Dichter, aber ein sozialistischer Staat müsse eine solche Unbequemlichkeit gelassen und nachdenkend ertragen können... Dann wird Marx zitiert, die proletarische Revolution, die sich selber kritisieren müsse... Dann etwas über Verse, die sich als dauerhafter erweisen könnten als politische Konstellationen und zum Schluss: 'Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und fordern die Rücknahme der beschlossenen Maßnahmen.'" Das Treffen der Schriftsteller fand in Hermlins Haus in Berlin statt, in einem bescheidenen, beinahe asketischen Rahmen, denn der Autor gehörte nicht zu den Großverdienern. Heym vermerkt ausdrücklich, dass ihm keinerlei besondere finanzielle Förderung zuteil wurde. Und er zitiert Hermlins Satz, als ihm von den Mächtigen die Ausbürgerung angedroht wurde: "Dann werdet ihr an der Mauer endlich mal einen von vorn erschießen müssen."

Hermlin hat viele Publikationen ermöglicht und durchgesetzt, die mit den kulturpolitischen Doktrinen seines Staates nicht konform waren. Manchmal nutzte er seine Verbindung zu Erich Honecker, um sich für Schriftsteller zu verwenden, die in Ungnade gefallen und von der Stasi inhaftiert worden waren. Er war ein poeta doctus, ein gelehrte; Dichter, den es zutiefst schmerzte, dass die künstlerische Avantgarde der ersten Jahrhunderthälfte in der DDR verpönt war; dass ein Philosoph und Schriftsteller vom Range Nietzsches unter ideologischen Generalverdacht gestellt wurde, gebrandmarkt - nach einer Formel von Georg Lukács - als "Zerstörer der Vernunft". Hermlin widersprach: "Nietzsche ist ja nicht nur ein Zerstörer der Vernunft gewesen, sondern gewiss auch einer ihrer Erwecker, ein Ferment des Umsturzes." Und weiter: "Nietzsche existiert nicht in der DDR; ich halte das für einen Mangel, weil Sozialisten an keiner wesentlichen Gestalt vorbeigehen können."

Auf dem Schriftstellerkongress der DDR im Jahr 1978 reklamierte Hermlin das Recht der Fantasie: "Es ist das Vorrecht der Dichter, vernunftlos zu träumen. Es ist das Vorrecht der Vernünftigen, sie zu verlachen. Aber die Träume gehen weiter, unbeschadet des Gelächters, das um sie her erschallt; wir finden sie überall in der Weltkunst, sie spiegeln die Träume wider, die die unvernünftige und schutzlose Menschheit seit Jahrtausenden träumt und in denen sie Blumen im Winter sieht." Hermlin bekannte sich dazu, ein "spätbürgerlicher Schriftsteller" zu sein, und fügte hinzu: "Was könnte ich als Schriftsteller auch anderes sein?" Seine Rede trug den Titel "In den Kämpfen dieser Zeit". Er bekannte sich zu seinem Staat und war doch nie ganz zugehörig.

Komplementärfigur zu Ernst Jünger

Wer Hermlins Essayband Lektüre zur Hand nimmt, wird entdecken, dass seine besondere Vorliebe den Schwierigen und Entlegenen galt, Autoren wie Georg Trakl, Georg Heym, Else Lasker-Schüler, unter den Zeitgenossen, Johannes Bobrowski und Franz Fühmann oder auch Lyrikern wie Neruda, Majakowski und Éluard. An der Liste seiner Übersetzungen erkennt man seinen Eigensinn: Voltaires Candide hat er ebenso ins Deutsche übertragen wie Louis Aragons großen Roman Die Wertel der Reichen, Gedichte von Nâzim Hikmet, Attila József und Langston Hughes ebenso wie Pablo Neruda und immer wieder Paul Éluard. Der Surrealismus hat Hermlin so stark beeinflusst wie unter deutschen Autoren sonst nur noch Ernst Jünger. Und so kann man in Hermlin vielleicht eine etwas generationsverschobene Komplementärfigur zu Ernst Jünger sehen. Schon Günter Grass nannte ihn, bei einer Gedenkfeier im Berliner Ensemble, 1997 einen "deutschen Patrioten"und "linken Bismarckianer".

Es schien unstrittig, dass Hermlin ein antifaschistischer Widerstandskämpfer, zunächst im deutschen Untergrund, danach im Spanischen Bürgerkrieg und in der französischen Resistance, gewesen war - davon berichtet sein Erinnerungsbuch Abendlicht von 1979. Der Kritiker Karl Corino recherchierte die Fakten und stieß auf manche Ungereimtheit, sogar auf manchen Schwindel. Die Biografie des Dichters sei weit ruhmloser gewesen als in der Autobiografie behauptet; diese sei in wichtigen Teilen eine Fälschung: "Dichtung in eigener Sache". Diese Thesen füllten 1996 die Spalten der Feuilletons: "Im Dickicht der Lügen", titelte ein Nachrichtenmagazin, andere Blätter folgten. Deutsch-deutsche Querelen und Ost-West-Animositäten spielten in den Fall hinein.

Im Zentrum der Kontroverse stand die Frage, ob man Abendlicht tatsächlich als authentischen Lebensbericht lesen muss. Das Buch trägt keine Gattungsbezeichnung und ist keinem bestimmten Genre (Roman, Bericht, Autobiografie, Erinnerungen) zuzuordnen. Aber ein Brief Hermlins lässt sich zitieren, der die gegen ihn erhobenen Vorwürfe weitgehend entkräftet. Am 22. September 1977, noch vor Erscheinen des Buches, schrieb er an den Komponisten Tilo Medek, er habe "keine Erinnerungen"geschrieben, sondern "ein Stück belletristischer Prosa, Dichtung und Wahrheit auf meine Art".

"Man sah den Wegen am Abendlicht an, dass es Heimwege waren"; diesen Satz Robert Walsers stellte Hermlin seinem Buch voran. Er deutet an, dass Abendlicht ein Buch der Erinnerung, der Selbstvergewisserung, des resümierenden Rückblicks ist, dann auch ein Buch der Heimkehr zu sich selbst, zu den eigenen Ursprüngen, zur eigenen bürgerlichen Herkunft. Hier lässt sich zitieren, was Hermlin über den französischen Schriftsteller René de Chateaubriand schrieb, der nach gängiger Lesart ein politischer Reaktionär und romantischer Apologet des Christentums war. Hermlin hat ihn, fast im Sinn einer Selbstporträtähnlichkeit, anders gelesen: "Die Modernität des Werks", schrieb er, "beruht in seinem Lebensgefühl. Bereits hier haben wir eine Suche nach der verlorenen Zeit. Dann ist da das Bewusstsein seines Verfassers, der Mann eines Endzustands zu sein in dem unendlichen, unaufhaltsamen Vorwärtsstürzen des Neuen."


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschienen seine Bücher Augenblicke mit Jean Améry (Wallstein Verlag Göttingen) und Das Geheimnis der Sirenen. Bilder und andere Abenteuer (Wehrhahn Verlag Hannover).

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2015, S. 68 - 70
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2015

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