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REZENSION/053: Grit Lemke - Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror (SB)


Grit Lemke

Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror

von Christiane Baumann


Hoywoy und DADA - Krieg, Terror und Anarchie. Grit Lemkes Buch Kinder von Hoy über Aufstieg und Fall der sächsischen Neubaustadt Hoyerswerda

Grit Lemkes Prolog führt den Leser in die DDR-Zeit und in die sozialistische Musterstadt Hoyerswerda mit ihrer ganz eigenen Terminologie von WK (Wohnkomplex) und Kaufhalle bis Intershop. Es ist die "nullte Stunde" (7) im Planetarium. Weltall, Erde, Mensch, das Buch, das tausende DDR-Jugendliche anlässlich ihrer Jugendweihe erhielten, wird später genannt. Der Mensch, betrachtet als Teil des Universums und eingebettet in einen "ewigen Kreislauf" (13), befindet sich gefühlt auf dem Weg zum Kommunismus: "Alles schien möglich zu sein: Strom aus Kohle machen, eine Stadt aus dem Heideboden stampfen und die Sterne in die Stadt holen." (11) Das "Versprechen", das sich an das neu erbaute Gaskombinat "Schwarze Pumpe" und an die sozialistische Neubaustadt Hoyerswerda knüpfte, lautete: eine "frohe Zukunft" für alle (9). Auf dieses Versprechen bauten die Kinder von Hoy, so der Kurzname der kinderreichsten Stadt der DDR. Mit dem Anschluss an die Bundesrepublik zerplatzte es wie eine Seifenblase. Arbeitslosigkeit und Abwanderung prägten die Stadt nach 1989 - mit fatalen Folgen. Das sächsische Hoyerswerda wurde im September 1991 nach den rechtsradikalen Ausschreitungen und Anschlägen auf Vertragsarbeiter- und Flüchtlingswohnheime in der öffentlichen Wahrnehmung ein Hort der Neonazi-Szene und zum Inbegriff von Ausländerfeindlichkeit. Lemke geht dem nach, rekapituliert akribisch die Ereignisse, fragt nach den Ursachen und rechnet mit "Halb- und Viertelwahrheiten" (199) bundesdeutscher Leitmedien ab. Sie setzt ihre Dokumentation der Geschichte der Stadt von der Grundsteinlegung 1955 bis zur Gegenwart und ihre kollektive Biografie der zwischen 1961 und 1972 geborenen Kinder von Hoyerswerda dagegen. In authentischen Interviews entsteht die Oral-History einer Generation, der die sozialistische Neubaustadt ihren Stempel aufdrückte.

Grit Lemke, die 1965 in Spremberg geboren wurde und in Hoyerswerda aufwuchs, gehört selbst zu dieser Generation. Nach ihrer Ausbildung zur Baufacharbeiterin, studierte sie Kulturwissenschaft, Ethnologie und Literaturwissenschaft in Leipzig. Heute ist sie als Autorin erfolgreich. Mit ihrem Dokumentarfilm Gundermann Revier wurde sie 2019 für den Grimme-Preis nominiert. Der DDR-Liedermacher Gerd Gundermann war in Hoyerswerda eine kulturelle Instanz. Lemkes Kinder von Hoy erzählt, wie er als Persönlichkeit und mit seinen Songs Kunst und Kultur der Stadt prägte. Für die junge Generation wurde Gundermann gewissermaßen zur kulturellen Leitfigur. Mit Songs wie Hoywoy gab er dem Lebensgefühl der Menschen in der Neubaustadt eine Stimme.

Lemkes Buch räumt mit Vorurteilen und einseitigen Sichtweisen auf. Das immer wieder zelebrierte Schreckgespenst der sozialistischen Neubaustadt erfährt eine Korrektur. Im kollektiven Erzählen der Kinder von Hoy schält sich sukzessive das gemeinschaftliche Miteinander als der Faktor heraus, der ihr Zusammenleben prägte. Die Sozialisierung in einer "Stadtfamilie" bedeutete: "E i n e Kittelschürze ist a l l e Kittelschürzen" (23). Ob in der Hochhausgemeinschaft, im Kinderferienlager, in der Betriebsbungalowsiedlung, bei Subbotniks oder bei der Samstagsarbeit für das NAW (Nationales Aufbauwerk): Es wurde "alles geteilt" (211). Und während immer neue Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden schossen, begann sich im Umfeld der Weltfestspiele 1973 in der Energie- und Bergarbeiterstadt eine Kulturlandschaft zu entwickeln. Nicht zufällig sucht Lemke den Bezug zu Brigitte Reimanns Roman Franziska Linkerhand (1974). Rebellierte Reimann, die 1960 nach Hoyerswerda zog, in ihrem Roman gegen die seelen- und kulturlose Neubaustadt und gegen "die grauenhafte Gleichgültigkeit der Häuserfabrikanten", so wandelte sich Hoyerswerda seit Ende der 1970er Jahre zu einer Stadt, in der Kultur als Alltag gelebt wurde. Wenn Reimanns Romanheldin, die Architektin Franziska, die Stadt "als kostbarste Erfindung der Zivilisation" betrachtet, die "als Vermittlerin von Kultur nur hinter der Sprache" zurückstehe, so dokumentiert Kinder von Hoy, wie dieser Anspruch schließlich in Hoyerswerda eingelöst wurde.

All jene, die den Bitterfelder Weg als gescheitertes Politprojekt der DDR betrachten, belehrt Lemkes Buch eines Besseren. Es zeigt, wie sich in der Arbeiterstadt Hoyerswerda sukzessive ein reiches kulturelles Leben entfaltete: von der FDJ-Singebewegung, über die Liedermacher- und Volkskunstszene mit Betriebsorchestern und Lesezirkeln bis hin zur Undergroundkultur, die die offiziell verfolgte politische Linie unterlief. Die Jugend traf sich im "Laden", der eigentlich der FDJ-Jugendklub war und zur Nische jugendlicher Selbstverwirklichung avancierte. Aus dem FDJ-Singeklub mit Gundermann wurde dessen "Brigade Feuerstein". Später entstand der FMP-Klub, die Kleinkunstbühne "Feuerstein, Musik und Palast". Die Alltagskultur in Hoy war so bunt, wie sie heute im kleinstädtischen Milieu undenkbar ist. "Wir ham 'ne ziemlich breite Kulturausbildung gehabt", (100) so der Tenor der Interviews. Dazu gehörte eine ausgeprägte Lesekultur, die selbst den Schriftsteller Heiner Müller überraschte. Es gab spezielle Theaterabos, die Interessierte busseweise zu Aufführungen nach Cottbus und Berlin brachten, die Musikfesttage und vieles mehr. Das Herzstück bildete das Kulturhaus, das "Haus der Berg- und Energiearbeiter", ein Zuschussgeschäft, das ohne Gastronomie allein 125 Mitarbeiter zählte und alle denkbaren Gewerke unter einem Dach vereinte: vom Dekorateur und Theatermaler bis zum Schlosser und Tischler. War Pumpe der "größte Kohle verarbeitende Industriekomplex der Welt", so zog die Stadt Hoyerswerda dreißig Jahre nach ihrer Gründung nach: Es wurde "Kultur produziert" (98). Da gab es 1986 im "FMP" sogar DADA und die Kumpelstadt hieß plötzlich "HOYERSWERDADA". Die Kinder von Hoy artikulierten ihren Protest gegen die politische Doktrin und die omnipräsente Stasi: "Es hat aber für uns gar keine Rolle gespielt. Überhaupt kein bisschen. Weder als Misstrauen noch als Angst" (109). Eine Gratwanderung waren diese subversiven kulturellen Aktionen dennoch. Allerdings gelingt es den Kindern von Hoy mit ihrer Protestkultur immer weniger, Sinn herzustellen. Schließlich war "nur das Ende übrig geblieben (116). Im Herbst 1989 enden "die Drähte des Fortschritts" in der "Wendeschleife" (125), womit Lemke auf Lutz Seilers Erfolgsroman Kruso (2015) Bezug nimmt, der ebenfalls das Ende der DDR thematisiert.

Wie in Seilers Kruso wird in Lemkes kollektiver Biografie die Arbeit zur zentralen Kategorie. Durchgängig im Fokus ist die Verbindung zur Arbeitswelt in der Neubaustadt Hoyerswerda, deren Herz das Gaskombinat "Schwarze Pumpe" bildete, dessen "Rhythmus von Früh-, Spät- und Nachtschicht" (7) das gesamte Alltagsleben bestimmte. Damit wird Lemkes Buch unweigerlich zum Dokument einer inzwischen verschwundenen Arbeitswelt. Nach der "Wende" verloren 20.000 Frauen und Männer in Hoyerswerda ihre Arbeit: "Nun lernen wir, dass die Welt sich teilt in solche, die Arbeit nehmen, und andere, die sie geben. Und die ohne". Arbeit wird zur neuen "Währung" (135). Entlassung heißt nun "Personalanpassung" (136). Statt Kunst und Kultur beherrschen Verkaufsveranstaltungen und Wühltische den Alltag. Es ist eine "Wendeschleife ohne Wende" (214).

Lemke beschreibt eindrucksvoll, wie 1989 ein Macht-Vakuum entsteht, das der alte Staat nicht mehr ausfüllt und die BRD als neuer Staat nicht auszufüllen vermag. Die "gesetzlose Zeit" (198) ist in Hoyerswerda bestimmt von Massenentlassungen, vom Erodieren der sozialen und kulturellen Infrastruktur, von einer unter den Jugendlichen grassierenden geistigen Orientierungslosigkeit, vom Verlust des alten Wertekanons, gegen den man sich organisieren oder positionieren konnte, vom Wegbrechen der kulturellen Nischen und von der Verabschiedung der Idee einer besseren Zukunft. Es entsteht ein hochexplosives Klima. Die tiefgreifenden sozialen Probleme entladen sich schließlich an den Außenseitern der Gesellschaft: ausländischen Vertragsarbeitern, Flüchtlingen, linken Jugendlichen. Lemkes Befunde korrespondieren mit ähnlichen Beschreibungen in Manja Präkels Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß (2017) und in Lukas Rietzschels Mit der Faust in die Welt schlagen (2018), die zeigen, dass rechte Gewalt zuerst ein soziales Problem ist. Anarchie und Terror halten nach 1989 Einzug in Hoyerswerda, das über Nacht zum Anlaufpunkt der Neonazis aus dem Bundesgebiet und der Berliner Antifa-Szene wird. Der "Krieg" (175), der auf den Straßen von Hoyerswerda tobt, wird mit einem weltpolitischen Ereignis, dem Golfkrieg, der im Januar 1991 begann, enggeführt. Mikro- und Makrokosmos, denen mit Profitstreben und -maximierung die gleichen sozialen Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, prallen aufeinander. Sich dieser Wahrheit bewusst zu sein, ist vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges wichtiger denn je. Die Kinder von Hoy, aufgewachsen in einem Land, "das keinen Krieg geführt" hatte, begreifen, dass auch das jetzt anders wird" (146). Deutschland unterstützte im Golfkrieg das von den USA angeführte anti-irakische Bündnis, das die Wiederherstellung der Souveränität Kuwaits anstrebte und somit außerhalb des NATO-Gebietes agierte, indem es etwa ein Fünftel der Kriegskosten übernahm. Lemke blendet keineswegs aus, dass der "Krieg" in Hoy begann, "lange bevor man ihn offiziell registriert(e)" (164). Das Zusammenleben mit ausländischen Vertragsarbeitern war auch in der DDR nicht frei von Ressentiments und Vorurteilen. Fehlende Integration leistete latentem Rassismus Vorschub, der schließlich mit dem Erodieren des sozialen Zusammenhalts und sozialem Niedergang offen ausbrach.

Eingangs zitiert Lemke Harry Thürks 1957 erschienenen Erfolgsroman Die Stunde der toten Augen. Der Antikriegsroman fiel zunächst bei der DDR-Obrigkeit in Ungnade, weil er Kriegserfahrungen des Autors thematisierte, die der offiziellen Ideologie zuwiderliefen. Harry Thürk wird in Lemkes sonst akribischem Zitatverzeichnis nicht genannt. Auch ihrem Text ist ein ideologiekritisches Potenzial eingeschrieben, das im kollektiven, authentisch verbürgten Erzählen die Deutungshoheit über DDR-Geschichte und "Wendezeit" beansprucht und diese gegen den Mainstream bundesdeutscher Geschichtsschreibung setzt. Wer DDR-Geschichte hautnah kennenlernen und die 1990er Jahre im Osten Deutschlands verstehen will, dem sei Lemkes Buch dringend zur Lektüre empfohlen.

Grit Lemke
Kinder von Hoy
Freiheit, Glück und Terror
Berlin: Suhrkamp 2021
256 Seiten
16 Euro
ISBN: 978-3-518-47172-2

4. April 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 173 vom 9. April 2022


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