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ITALIEN/272: Oberstaatsanwalt Borrelli gestorben - Galionsfigur der legendären "Sauberen Hände" (Gerhard Feldbauer)


Oberstaatsanwalt Francesco Saverio Borrelli
Eine Galionsfigur der legendären "Sauberen Hände"

1.356 Staats- und Parteifunktionäre sowie Wirtschaftsmanager wurden hinter Schloß und Riegel gebracht

von Gerhard Feldbauer, 23. Juli 2019


Die italienischen Medien berichteten ausführlich über den am Sonnabend verstorbenen Mailänder Oberstaatsanwalt Francesco Saverio Borrelli, eine Galionsfigur der legendären "Mani pulite" (Sauberen Hände) der Mailänder Staatsanwälte, an deren Spitze er stand. Staatspräsident Mattarella würdigte ihn als Mann, der immer "dem Respekt der Gesetze" verpflichtet war und der "Republik in Treue gedient" habe.


Ermittlungen erfassten 6.000 Politiker

Die Gruppe deckte ab Februar 1992 die ungeheuerliche Korruptionspraxis der mit dem Partito Socialista (PSI) regierenden Democrazia Cristiana (DC) auf, was zum Zusammenbruch der Parteien führte. Zusammen mit seinem Kollegen Antonio Di Pietro stand er an der Spitze dieses Teams, das in der Öffentlichkeit als "Retter der Nation" vor Chaos und Korruption gefeiert wurde.

Die Ermittlungen erfassten etwa 6.000 Politiker, darunter ein Drittel der 945 Senatoren und Abgeordneten, ehemalige und im Amt befindliche Minister, in den Abruzzen die gesamte Regionalregierung, unzählige Bürgermeister, Stadt- und Provinzräte. Anfang 1993 saßen 1.356 Staats- und Parteifunktionäre sowie Wirtschaftsmanager in Haft. Ob es sich um Verkehrsbetriebe, Kliniken oder Bauunternehmen handelte, die Beschuldigten hatten für die Vergabe von Bau- und Beschaffungsaufträgen oder auch nur für behördliche Genehmigungen Milliardensummen an Bestechungsgeldern kassiert. In der Region Venedig kontrollierten zwei ehemalige Minister der DC und der PSI die Vergabe aller öffentlichen Aufträge und kassierten die entsprechenden Bestechungsgelder. Ebenso führten Manager der Staatskonzerne an ihre Parteiführungen, die ihnen diese Posten verschafft hatten, ihre Tangenten (zukommender Teil, Schmiergelder) ab. Von Tangenten abgeleitet hieß die Affäre "Tangentopoli". Es kam ans Licht, dass DC und ISP ihren Parteiapparat fast ausschließlich aus illegalen Einkünften finanzierten.


Auf Schweizer Konten lagerten Bestechungserträge von 30 Mrd. Dollar

Das Turiner Einaudi-Institut errechnete die Summe von jährlich zehn Milliarden Dollar gezahlter Schmiergelder. Das entsprach etwa dem damaligen jährlichen Haushaltsdefizit. Auf Schweizer Konten gelagerte Bestechungserträge wurden auf umgerechnet 30 Milliarden Dollar beziffert. Während der Voruntersuchungen beging über ein Dutzend der Beschuldigten Selbstmord, darunter der Präsident des Ferruzzi-Konzerns, Raul Gardini, und der frühere Chef der staatlichen ENI, Gabriele Cagliari. Beide hatten unter anderem eine etwa 400 Millionen Dollar umfassende Betrugsaffäre eingefädelt. Bei Gardini und einem hohen Regierungsbeamten Sergio Castellerai wurde vermutet, dass sie einem Mordanschlag zum Opfer fielen. Vom Geheimdienst SISDE wurde bekannt, dass er ebenfalls Dutzende Millionen Dollar an staatlichen Geldern veruntreut hatte.


Vatikan und P2 verwickelt

Obwohl die Mani pulite das nicht zum Gegenstand ihrer Anklagen machen konnten, kamen zwangsläufig die Verwicklungen des Vatikans in die ungeheuerlichen Betrugsaffären ans Licht. Es zeigte sich, dass die in den 70er und 80er Jahren enthüllten dubiosen Geschäfte, welche der Präsident der Vatikanbank IOR, Erzbischof Marcinkus, mit Finanzhaien wie dem Mafia-Vertrauten Michele Sindona und dem Banker der faschistischen Putschloge Propaganda Due (P2) Roberto Calvi tätigte, keineswegs der Vergangenheit angehörten. So hatte das IOR in einem Fall vom Ferruzzi-Konzern 75 Millionen DM an Schmiergeldern entgegengenommen und auf Konten in Luxemburg transferiert, wo sie italienischen Politikern zur Verfügung standen. Die Summe war als Staatsanleihe deklariert worden. Auch die Zahlung von 110 Millionen DM des Staatskonzerns Enimont an die Sozialisten war über das IOR gelaufen.


26 Jahre Gefängnis für Sozialistenchef Craxi

Gegen den Sozialistenchef Bettino Craxi eröffnete die Staatsanwaltschaft ab Dezember 1992 wegen Korruption, Hehlerei, illegaler Parteifinanzierung und anderer schwerwiegender Vergehen sechs Ermittlungsverfahren. In einem Fall wurde er wegen der Kassierung von 200 Millionen DM Bestechungsgeldern angeklagt. Erneut kamen seine Beziehungen zur P2 zur Sprache. Craxi hatte immer bestritten, in der Schweiz ein geheimes Nummernkonto zu unterhalten. Nun wurde bekannt, dass ein Parteifreund in seinem Auftrag Schmiergelder eingesammelt, besagtes Konto unter dem Code "Protezione" eingerichtet hatte, über das auch P2-Bankier Calvi Schmiergeldtransaktionen abwickelte. Craxi selbst hatte auf dieses Konto 600 Millionen Dollar transferiert. Als sich die Untersuchungen gegen den ehemaligen Regierungschef fünf Monate später auf 41 Korruptionsfälle erstreckten, floh er vor der Vollstreckung des Haftbefehls nach Tunesien. Zwischen 1994 und 1996 verhängten die Gerichte gegen ihn insgesamt 26 Jahre Gefängnis. Tunis verweigerte seine Auslieferung. Es war von riesigen Investitionen die Rede, die Craxi aus seinen Bestechungsgeldern in die Wirtschaft des Entwicklungslandes investiert haben sollte. Im Januar 2000 verstarb er in dem mondänen Badeort Hammamet. Vom Hamburger "Spiegel" (Nr. 52/1999) nach seiner Haltung zur Korruption befragt, hinterließ er das Bekenntnis: "Alle haben das getan, alle haben davon gewusst."

Das Jahr 1992, in dem die PSI ihren 100. Jahrestag feiern wollte, wurden für sie wegen der Korruptionsaffären zum Todesjahr. Die Zahl ihrer Mitglieder sank 1993 von 580.000 unter die Hunderttausend. Bei den Parlamentswahlen im März 1994 fiel die Partei, die noch im Frühjahr 1992 auf 13,6 Prozent gekommen war, auf 2,2 Prozent ab. Nicht besser erging es der DC. Um einem Versinken in der Bedeutungslosigkeit zu entgehen, verkündete sie im Juli 1993 eine Neugründung unter dem Namen Partito Popolare (Volkspartei). Obwohl es nicht viel mehr als eine Namensänderung war, gelang es der auf dem Katholizismus beruhenden Partei, von den 29,7 Prozent, die sie 1992 erreichte, 1994 dann 11,1 Prozent zu retten.


Faschistischer Medienmonopolist Berlusconi unter Hauptverdächtigen

Zu den am meisten der Korruption Verdächtigten gehörte der Medienmonopolist Silvio Berlusconi, dessen Imperium die P2, deren Dreierdirektorium er angehörte, finanziert hatte. Gegen ihn liefen mehrere Strafverfahren. Als er im Mai 1994 mit seiner ebenfalls von der P2 aufgebauten faschistischen Partei Forza Italia (FI) im Bündnis der Nachfolgerpartei Mussolinis MSI und der rassistischen (heute von Salvini geführten) Lega an die Regierung kam, sorgte er mit Dekreten dafür, dass die meisten der einsitzenden Politiker und Manager frei kamen bzw. laufende Ermittlungen eingestellt wurden. Mit der so genannten "Lex Berlusconi" verbot er Verfahren gegen sich. Erst nach seinem Fall 2011 konnten die Staatsanwälte die Ermittlungen wieder aufnehmen. Am 1. August 2013 wurde er in letzter Instanz wegen Korruption und Steuerhinterziehung in Millionenhöhe rechtskräftig zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2019

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