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ITALIEN/357: Folterskandal von Vollzugsbeamten in Gefängnissen erschüttert Italien (Gerhard Feldbauer)


Folterskandal von Vollzugsbeamten in Gefängnissen erschüttert Italien

Insassen mussten Spießruten laufen

von Gerhard Feldbauer, 8. Juli 2021


In den italienischen Medien nehmen die Schlagzeilen über einen Folterskandal von Vollzugsbeamten am 6. April vergangenen Jahres im Gefängnis "Francesco Uccella" der Kleinstadt Santa Maria Capua Vetere bei Neapel in Kampanien kein Ende. Am 5. April 2020 war es dort während des ersten Lockdowns der Corona-Pandemie nach einem positiven Covid-19-Fall in einer Abteilung zu Protesten gegen völlig unzureichende Schutzmaßnahmen und die hygienischen Bedingungen gekommen. Es fehlten Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel. Für die nötige Abstandswahrung gab es keinen Platz. Insassen schlugen mit Gegenständen und dem Essgeschirr gegen die Zellentüren und Gitterstäbe. Freigänger weigerten sich, in ihre Zellen zurückzukehren. Die Proteste ließen schon am Abend desselben Tages nach.

Obwohl es sich, wie Medien betonen, um "eine kleine Revolte" und "gewaltlose Reaktionen" handelte, ordnete der Direktor der Gefängnisverwaltung von Kampanien, Inspektor Antonio Fullone, am nächsten Tag ein Strafaktion an. Etwa 100 Polizisten einer Spezialeinheit, die nur "im Falle der äußersten Notwendigkeit und nur vorübergehend bei der Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit in den regionalen Justizvollzugsanstalten" eingesetzt werden durfte, fielen über die Insassen her. 130 der "rebellischen", aber vollkommen wehrlosen Gefangenen wurden geschlagen, gefoltert und gezwungen, "sich auszuziehen und niederzuknien".

Durch Anzeigen von Insassen wurden die skandalösen Vorfälle erst jetzt bekannt. Die Staatsanwaltschaft von Neapel leitete Ermittlungen ein. 52 Gefängnisbeamte wurden wegen des Verdachts der Misshandlung von Gefangenen verhaftet, 18 weitere befinden sich im Hausarrest, alle Beamten sind vom Dienst suspendiert, darunter auch Inspektor Antonio Fullone. Insgesamt wird gegen 144 Beamte ermittelt. Die EU-Kommission hat "eine unabhängige Untersuchung von den zuständigen italienischen Behörden über die Vorfälle in Santa Maria Capua in Vetere" angemahnt, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur ANSA. Die "Behörden müssen ihre Bürger unter allen Umständen schützen".

Die Zeitung Domani verbreitete ein sechs Minuten langes Video, das Beamte der Penitenziaria, der Gefängnispolizei, bei Gewaltszenen zeigt. Mit aufstandsbekämpfender Ausrüstung ausgestattete Polizisten, die Helme tragen, um nicht identifiziert zu werden, gehen mit Knüppeln auf die Häftlinge los. In den Aufnahmen ist der Spießrutenlauf der Insassen zu sehen. Einzeln oder in kleinen Gruppen müssen sie einen Gang passieren, während die Wärter von allen Seiten auf sie einprügeln. Andere Szene zeigen, wie sie mit dem Gesicht zur Wand knien und dann ebenfalls geschlagen und erniedrigt werden. Laut der Nachrichtenagentur ANSA wurde auch ein gehbehinderter Häftling im Rollstuhl namens Vincenzo Cacace nicht verschont.

Das Online-Portal Südtirol News erwähnt in seinem ausführlichen Bericht sichergestellte Chat-Einträge, in denen die Beamten mit ihren "Aktionen" prahlten. Laut dem Wiener Standard sollen Beamte in Whatsapp-Botschaften angekündigt haben: "Wir werden sie wie Kälber töten" und "Wir werden die Bestien zähmen". In den Ermittlungsakten ist von einem "Massaker", das vier Stunden gedauert haben soll, die Rede. Domani zitiert den Untersuchungsrichter Sergio Enea, der von einem "schrecklichen Schlachtfest" spricht, die "Szenen seien eines zivilisierten Landes unwürdig". Die Ermittlungen betreffen auch Ärzte, die verdächtigt werden, falsche Bescheinigungen ausgestellt zu haben, dass Aufseher bei den Zusammenstößen verletzt worden seien.

Die Proteste und das gewaltsame Reagieren der Gefängnisaufseher beschränkten sich nicht auf die Vollzugsanstalt "Francesco Uccella". Bereits im März 2020 hatte es in mehreren Gefängnissen Proteste gegeben, darunter am 8. März in Modena mit 13 Todesfällen. Das kommunistische Online-Portal Contropiano forderte die Justizbehörden auf, zu diesen bisher nicht untersuchten Vorfällen ebenfalls Ermittlungen aufzunehmen.

Den Hintergrund der immer wieder ausbrechenden Gefangenenrevolten bilden die Missstände in den italienischen Gefängnissen, die seit Jahren von der 1991 gegründeten Menschenrechtsorganisation Antigone enthüllt werden. Nach ihrem Bericht von Ende Februar 2020 gab es nach offiziellen Zahlen 61.230 Insassen in italienischen Gefängnissen, obwohl die offizielle Kapazität nur 50.931 beträgt. Italien hat, so der Bericht, "die zweitüberfülltesten Gefängnisse in Europa". Diese Zustände wurden auch im Gefängnis "Francesco Uccella" bei Ausbruch der Corona-Pandemie besonders sichtbar, wo die Häftlinge ohne Bettwäsche schlafen mussten, Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel fehlten und es für die nötige Abstandswahrung keinen Platz gab. Aus den Wasserhähnen kam gelb-braunes Wasser, was zu Dermatitis und Reizungen führt, berichtete das linke Manifesto.

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Quelle:
© 2021 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 3. August 2021

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