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MEMORIAL/084: Vor 43 Jahren wurde Nadja Kurtschenko von Hijackern ermordet (Gerhard Feldbauer)


Vor 43 Jahren wurde Nadja Kurtschenko von Hijackern ermordet

Die 19jährige Stewardess der Aeroflot war das Opfer der ersten Flugzeugentführung in der UdSSR

von Gerhard Feldbauer, 17. Oktober 2013



Ich stieß zufällig bei einer Sichtung meines Archivs auf die Notizen, die ich mir damals machte. An jenem 15. Oktober 1970 befanden wir uns auf dem Flughafen von Ulan Bator und warteten auf unsere Maschine zum Weiterflug nach Moskau. Wir kamen aus Hanoi, wo wir über drei Jahre als Korrespondenten der Nachrichtenagentur ADN der DDR über den Krieg der USA gegen Vietnam berichtet hatten. Auf der Rückreise hatten wir in der mongolischen Hauptstadt einen Zwischenaufenthalt eingelegt und einen Ausflug in die Steppe unternommen. Es war ein lauer Herbsttag, nur leicht bewölkt mit Temperaturen um etwa 15 Grad. Unter den Fluggästen, die meisten Urlauber und einige Dienstreisende, herrschte eine lockere Atmosphäre. Die Stimmung schlug schlagartig um, als bekannt wurde, dass zwei Hijacker eine AN-24 der Aeroflott der UdSSR entführt und dabei die Stewardess ermordet hatten. Mit Trauer, Zorn und Empörung reagierten die Reisenden auf diesen ersten derartigen Terrorakt in der UdSSR. Was war geschehen:

Die AN-24 mit Flugnummer 234 befand sich an diesem Tag mit 46 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern auf einem Flug von Suchumi in das georgische Batumi. Zehn Minuten nach dem Start bemächtigten der 46jähriger Litauer Pranas Brazinskas und sein erst 15jähriger Sohn Algirdas sich im Luftraum vor der Kaukasusküste der Maschine. Mit vorgehaltener Pistole verlangten die beiden Entführer von der 19jährigen Stewardess Nadeschda Kurtschenko, dem Piloten eine Nachricht mit der Forderung nach sofortigem Kurswechsel in Richtung Türkei zu überbringen. Als die Stewardess mit dem Ruf "Ein Überfall" die Piloten zu warnen versuchte, erschossen die skrupellosen Entführer sie sofort. Danach feuerte Pranas Brazinskas wild um sich, drang in das Cockpit ein und verletzte den Piloten, den Navigator und den Mechaniker lebensgefährlich. Nur der Co-Pilot konnte sich retten. Unter der Drohung der Banditen, auch ihn zu erschießen, und mit der Zündung einer Handgranate die Maschine zu sprengen, änderte er den Kurs und landete die Maschine nach türkischen Anweisungen auf der Militärbasis in Trapezunt.


Verehrt von den Menschen des Vielvölkerstaates

Der Leichnam der tapferen Nadja Kurtschenko, die kurz vor ihrer Hochzeit stand, wurde in Suchumi, der damaligen Hauptstadt der Abchasischen Autonomen Sowjetrepublik, feierlich unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Ihr wurde die Liebe der Menschen zuteil, die zu dieser Zeit in dem Vielvölkerstaat UdSSR freundschaftlich zusammenlebten, denen die heute geschürten kriegerischen Auseinandersetzungen und nationalistische Feindschaft fremd waren. Eine regelrechte Verehrung brachte ihr die begeisterungsfähige sowjetische Jugend, die ein Wladimir Majakowski mit geprägt hatte, entgegen. Nach Nadja Kurtschenko wurden Schulen benannt, ihren Namen trugen in der UdSSR ein Berg in Usbekistan, ein Tanker und im Universum sogar ein Asteroid.


Mildes Urteil für den Mörder

Ankara gab die Maschine und die Passagiere an die UdSSR zurück, verweigerte aber eine Auslieferung der Hijacker. Diese gaben sich, um politisches Asyl zu erhalten, als Mitglieder eines "Litauischen Widerstandes" aus. Das Nato-Mitglied Türkei ließ die Attentäter glimpflich davonkommen. Pranas Brazinskas, der allein geschossen hatte, wurde von einem türkischen Gericht zu der verhältnismäßig geringen Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, bereits nach vier Jahren amnestiert. Sein minderjähriger Sohn musste für zwei Jahre ins Gefängnis.

Bei Pranas Brazinskas handelte es sich um einen in Litauen zweimal vorbestraften Kriminellen. Wegen Amtsmissbrauch als Mitarbeiter im Handel war er 1950 zu einem Jahr Arbeitslager, 1960 als Leiter einer Verkaufsstelle wegen Diebstahls zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, im Rahmen einer Amnestie vorzeitig entlassen worden. Er beschaffte sich falsche Papiere und lebte danach in Usbekistan.


Washington verweigerte Auslieferung

Nach ihrer Haftentlassung ließen sich Vater Brazinska und Sohn in den USA nieder, wo sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und eine neue Identität erhielten. Wiederholte Auslieferungsersuchen Moskaus wies die Regierung in Washington zurück. Die früheren Hijacker gaben sich als Maler aus, lebten aber von einschlägigen Waffengeschäften. Im Februar 2002 erschlug Algirdas seinen inzwischen 77jährigen Vater. Zur Milde sah die Justiz der USA nun keinen Anlass und verurteilte den Totschläger zu sechszehn Jahren Gefängnis.

1990 rückte das Schicksal der mutigen Nadja Kurtschenko noch einmal in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Ihre Ruhestätte im Zentrum von Suchumi wurde durch reaktionäre Kräfte, die nach der Auflösung der UdSSR 1991 in Georgien an die Macht kamen, bedroht. Sie wurde deshalb auf den Friedhof in Glasow (Russland), wo sie die Schule besucht hatte, umgebettet.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2013