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MEMORIAL/087: Zwei Weihnachtsbotschaften von 1936 (Sozialismus)


Sozialismus Heft 12/2013

Zwei Weihnachtsbotschaften von 1936
Deutsche Volksfront gegen Hitler - mit anderem Blick auf Willy Brandt, Hermann Brill und Klaus Mann

von Jörg Wollenberg



Nach 1933 mehrfach verhaftet überlebte der Widerstandskämpfer und unbeugsame Demokrat Hermann Louis Brill (1895-1959) als Gründer der illegalen "Deutschen Volksfront" von 1936 und Verfasser des "Buchenwalder Manifestes" von 1945 das Konzentrationslager Buchenwald. Brill hatte nach 1945 maßgeblichen Anteil an der Vorbereitung der Verfassungen für einzelne Länder wie Thüringen, Hessen und Bremen. Er gehörte zu den Vätern des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, nachdem er unmittelbar nach seiner Befreiung den "Bund demokratischer Sozialisten", die erste Einheitspartei der Arbeiterbewegung nach 1945, in Weimar gegründet hatte und von der US-Militärregierung zum Ministerpräsidenten Thüringens ernannt worden war. Ein Verfolgter der Nazi-Diktatur, der einer der ersten Opfer des Kalten Krieges wurde und bald in beiden deutschen Staaten in Vergessenheit geraten sollte. Ein Schicksal, das er mit zahlreichen Hitlergegnern aus den Reihen der politischen Zwischengruppen (KPO/SAP/ISK) wie auch mit Repräsentanten des deutschen Exils teilte. Dabei hatte Brill bereits 1946 im Heft 1 der "Wege zum Sozialismus" einen Nachdruck seiner umfangreichen und nach wie vor aktuellen Schriften aus dem Widerstand für eine Neuordnung Deutschlands vorgelegt: Gegen den Strom, Offenbach 1946 (Bollwerk-Verlag Karl Drott).

Klaus Mann, einer von den gleichfalls lange Vergessenen, traf am 11. Juni 1945 in amerikanischer Uniform in Weimar ein, um im Rahmen seiner Erkundungsreise für die US-Zeitungen mit dem Anti-Nazi-Komitee in Weimar Kontakt aufzunehmen. Anschließend fuhr der älteste Sohn von Thomas Mann mit Hermann Brill nach Buchenwald. Es ist davon auszugehen, dass Klaus Mann damals noch nicht wusste, dass Hermann Brill zur gleichen Zeit in Berlin die illegale Widerstandsgruppe "Deutsche Volksfront" gegründet hatte, als er selbst mit seinem Onkel Heinrich Mann und Willy Brandt am 21. Dezember 1936 den Aufruf der Deutschen Volksfront in Paris unterzeichnete. Am 20. Juni 1945 hielt Klaus Mann eine Rundfunkrede über den Verfasser des Buchenwalder Manifestes und skizziert darin die politischen Vorstellungen von Brill über den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands so: "Die alten politischen Gegensätze sollten vergessen sein. Im unterirdischen Kampf gegen das Nazi-Regime haben Kommunisten mit Sozialdemokraten und Katholiken zusammengearbeitet, so wie Konservative und Liberale in den Konzentrationslagern zusammen gelitten haben. In diesem Geist soll es weitergehen; nur so kann Deutschland wieder aufgebaut und eine deutsche Demokratie allmählich hergestellt werden." (Mann 1995: 87f.)

Freilich zerschlugen sich diese Hoffnungen schnell. Nachdem die Sowjets die Besatzungsherrschaft in Thüringen übernommen hatten, wurde der "Bund demokratischer Sozialisten" verboten und Brill als Leiter des Thüringischen Staatsministeriums auf Betreiben von Walter Ulbricht am 16. Juli 1945 abgesetzt. Zur Unperson im Osten erklärt, geriet er ebenfalls im Westen bald in Vergessenheit, vor allem, weil Brill auch nach 1945 immer und zuerst seinen politischen Überzeugungen und nicht einer Organisation oder Partei folgte. Bis heute kommt es immer wieder vor, dass das von ihm geprägte "Buchenwalder Manifest" vom 13. April 1945 mit dem "Schwur der Häftlinge von Buchenwald" vom 19. April 1945 gleichgesetzt oder verwechselt wird. Und während die Deutsche Volkfront in Paris Bestandteil der Erinnerung an den deutschen Widerstand wurde - schon wegen der prominenten Unterzeichner -, ist die Deutschen Volksfront in Berlin und ihr "Zehn-Punkte-Programm" bis heute nur wenigen bekannt. Das ist umso erstaunlicher, weil beide hoffnungsvollen Weihnachtsbotschaften des deutschen Widerstands zum gleichen Zeitpunkt am 21. Dezember 1936 in gegenseitiger Kenntnis entstanden.


Neu beginnen mit einem Einheitsbündnis nach dem Scheitern der Volksfrontbündnisse in Europa

Trotz aller Blockaden und Ausgrenzungen war es 1935/36 zu zahlreichen "Grenzüberschreitungen" gekommen. Auf dem letztlich gescheiterten Weg von der "Volksfront der Not" zur "Verwirklichung einer großen antifaschistischen Volksfront Europas" (Langkau-Alex 2004/05) entstand ein kompliziertes Geflecht von unterschiedlichen Initiativen. Dazu gehörten in Paris die von Hellmut von Gerlach geprägten Hilfskomitees für Verfolgte in Hitler-Deutschland und für in Frankreich lebende Emigranten ebenso wie das Asylrechts-Büro und die Friedensnobelpreiskampagne für Carl von Ossietzky, an der sich Willy Brandt federführend" beteiligte. Hinzuweisen ist auch auf den Koordinationsausschuss deutscher Gewerkschafter und die Presseorgane, das Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung wie auch die "Deutschen Informationen" der SAP-Gruppe um Walter Fabian, Paul Frölich und Willy Brandt als letzte Bastionen der Volksfront in Paris. Die Moskauer Prozesse und der umstrittene Austritt der KPD und SAP aus dem Volksfrontbündnis beendeten dieses Bündnis in Frankreich innerhalb eines Jahres. Ausgerechnet in dieser scheinbar ausweglosen, die Linke erneut spaltenden Situation rief eine Berliner Gruppe von Sozialisten und Kommunisten im Dezember 1936 dazu auf, "die Gefahr eines neuen Weltkrieges mit allen Mitteln zu bekämpfen" und die "demokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien und Gruppen Deutschlands zu einer Deutschen Volksfront" zu vereinen. Die programmatischen Forderungen und deren Begründung zeugen von der Intensität einer Diskussion, die diesem Aufruf vorangegangen sein muss. Wie kam diese Gruppe zusammen?

Die Berliner Gruppe um den Verleger Otto Brass und Brill setzte sich vornehmlich aus ehemaligen sozialdemokratischen Reichstags- und Landtagsabgeordneten und aus Funktionären der Gewerkschaften und Genossenschaften zusammen. Sie bestand gegenüber der SOPADE auf ihre Unabhängigkeit. Dasselbe galt für das Zentralkomitee der KPD, mit deren Mitgliedern im Berliner KP-Bezirk um Anton Ackermann Kontakt bestand. Sie bemängelten die "Emigrantenluft, die Erlebnisferne, die künstliche Konstruktion" des Pariser Aufrufs. Vergeblich baten sie Mitte Januar 1937 das Prager SOPADE-Büro um Unterstützung ihres Aufrufes. Dagegen sorgten Karl Frank (Paul Hagen) und andere Mitglieder des Auslandsbüros von "Neu Beginnen" in Prag für eine Veröffentlichung.

Die "Begründung eines deutschen Volksfront-Programms" geht 1936 davon aus, dass das soziale und politische System der deutschen Gesellschaft gänzlich zerstört sei. Was von den alten Parteien noch vorhanden sei, habe mit den früheren Organisationen nichts zu tun. Niemand, der von der früheren SPD heute noch aktiv ist, denke an die Wiederherstellung einer Partei der parlamentarischen und sozialen Reform und alle heute noch aktiven Kommunisten wollten kein Wiederaufleben des Bruderkampfes und des Putschismus. Eine Volksfront jenseits der auch ideologisch überlebten Parteien werde deshalb das Bündnis mit dem Bürgertum erschweren. Oppositionellen in monarchischen Kreisen, im ehemaligen Stahlhelm oder in Zentrumsgruppen wurde grundsätzlich die Fähigkeit abgesprochen, eventuell geeignete Bürgerliche für eine solche Volksfront zu repräsentieren. Und alles Pro-Hitlerische sei von vornherein fernzuhalten. Dazu zählten die der NSDAP angeschlossenen Verbände, der Staatsapparat, die Finanzoligarchie der Groß- und Privatbanken, der Schwerindustrie, ein Teil des Adels und der Wehrmacht. "Mit der Einbeziehung des Großgrundbesitzes und der Verstaatlichung der Banken (Frhr. V. Schroeder, Schacht, Reinhardt) und der Schwerindustrie (Fritz Thyssen), die Hitler finanziell den Weg an die Macht geöffnet haben, reißt man die Wurzeln der Diktatur aus." Das Rekrutierungsfeld einer Volksfront sei auch deshalb eingeschränkt, weil man lediglich auf Menschen "zwischen 30 und 50 Jahren" zurückgreifen könne. Die Jüngeren seien vom Nationalsozialismus vergiftet, die Älteren von den überkommenen Parteiideologien geprägt. Von ungeheurer Problematik sei auch der Stand der Frauenfrage. Um Missverständnisse zu verhindern, fügte Brill später hinzu: "Für die Schaffung einer neuen Lebensordnung ist die frühzeitige und richtige Eingliederung der Jugend undder Frauen in das gesellschaftliche Leben eines der größten Probleme Eine Politik, die ohne die Frauen gemacht wird, ist genauso unsinnig wie eine, die versuchen würde, gegen die Frauen zu arbeiten." (Brill 1947: 6)

In der "Begründung" wird ausdrücklich auf die langjährigen Genossen und Gewerkschafter verzichtet, die ihre frühere Tätigkeit in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) fortgesetzt hatten. Selbst Philipp Scheidemann hatte nach der Kapitulation von 1933 in seinen "Schriften aus dem Exil" gefordert: Das Verhalten des Rumpfvorstands der SPD und der Vorstände der Gewerkschaften sei 1933 "kläglich und zum Erbarmen gewesen" und "von den Führern, die in Deutschland bis zu ihrer Flucht 'tätig' gewesen sind", könne keiner "jemals wieder irgendwo in der Arbeiterführung führend tätig sein". Ihre "Versuche, einen modus vivendi mit Hitler zu finden", stünden "beispiellos da in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung" (Scheidemann 2002: 37ff.).


Die Folgen des Totschweigens der Berliner Forderungen nach 1945

Wie ist das nicht zur Kenntnis nehmen dieser Denkschrift aus dem faschistischen Deutschland heute zu erklären? Hatten doch selbst Vertreter des Exils wie Willy Brandt als getarnter norwegischer Student in Berlin Kontakt zur Gruppe im Herbst 1936 aufgenommen (vgl. Brandt 1989: 107ff.). Willy Brandt hatte mit der Berliner Gruppe schon vor 1933 den "geraden Weg der SPD in die Kapitulation" kritisiert und 1931 die Partei verlassen. Eine Partei, so Brill, die auf ihrer letzten Reichskonferenz vom 26 April 1933 immer noch der "Nation und dem Sozialismus" dienen wollte und deshalb am 17. Mai 1933 dem außenpolitischen Programm Hitlers zustimmte, der könne er nicht mehr angehören. So beschloss der ehemalige Landtags- und Reichstagsabgeordnete Brill, seine Partei zu verlassen. "Ich werde auch niemals mehr für die SPD arbeiten", schrieb er am 30. August 1933, weil seine Partei Ende Mai 1933 nicht einmal zur Selbstauflösung fähig war. "Ich bin und bleibe Sozialist. Sozialdemokrat bin ich für alle Zeiten gewesen", lautete sein am 31. Januar 1934 formuliertes Bekenntnis. Er setzte fortan im Widerstand wie nach der Verhaftung und der Verurteilung wegen der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens im Juli 1939 vor dem Volksgerichtshof zu zwölf Jahren Zuchthaus auch im KZ Buchenwald ab Dezember 1943 mit der Häftlingsnummer 21.358 und nach der Befreiung im April 1945 auf die Gründung einer neuen geeinten Arbeiterpartei jenseits der alten SPD und KPD. Im KZ-Buchenwald konnte Brill deshalb überleben, weil ihm KPD-Häftlinge dabei halfen, sich als Sanitäter in der Typhus-Quarantäne-Baracke zu verbergen. Federführend gründete er im Februar 1944 mit Sozialdemokraten (Ernst Thape, Benedikt Kautsky), Kommunisten (Walter Wolf) und Bürgerlichen (Werner Hilpert für die christlichen Demokraten) ein Volksfront-Komitee.

Dem schlossen sich französischen Sozialisten (Eugène Thomas) und Kommunisten (Marcel Paul) an, die mit anderen die "Plattform vom 1. Mai 1944" unterzeichneten. Das von Brill geleitete Volksfront-Komitee legte nach der Befreiung am 13. April 1945 das Buchenwalder Manifest "Für Frieden, Freiheit und Sozialismus" vor und veröffentlichte am 19. April 1945 Entschließungen zur demokratischen Neuordnung Deutschlands, die im Lager von Buchenwald ebenso "von der ersten Mitgliederversammlung der KPD wie auch von dem Manifest der demokratischen Sozialisten voll inhaltlich aufgenommen worden sind" (Brill 1946: 93).


"Den Grundgedanken der Demokratie, den Sozialismus retten"

Die Kraft und der Einfluss des Unverdrossenen reichte noch, um seinem seit 1936 immer wieder propagierten Ziel der "völligen Erneuerung des deutschen Volkes" wenigstens in Ansätzen zur Realität zu verhelfen. Brill setzte sich in Westdeutschland dafür ein, "aus einer zerrütteten Gesellschaft den Grundgedanken der Demokratie, den Sozialismus zu retten, und schließlich so aus einer erschütterten Welt eine bessere Welt aufzubauen". Dazu trug er zunächst in Hessen bei. Dann ab August 1948 als einer der geistigen Väter des Bonner Grundgesetzes unter den 30 Staatsrechtsgelehrten, die am Verfassungskonvent von Herrenchiemsee teilnahmen und den "Verfassungsentwurf" vorlegten, der am 23. Mai 1949 als "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" verabschiedet wurde. Dabei galt sein Hauptaugenmerk den Problemen, die schon 1936 die Forderungen des Zehn-Punkte-Programms ausmachten: dem Aufbau eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates mit gesicherten Bürger- und Menschenrechten, dem Ausbau der Selbstverwaltungsorgane und des Genossenschaftswesens wie auch der Notwendigkeit der Verstaatlichung der Banken, des Großgrundbesitzes, der Schwerindustrie und der Energiewirtschaft. Auch das Buchenwalder Manifest war von der Erwartung ausgegangen, dass Deutschland ein baldiges Mitglied der "Weltorganisation des Friedens" werden möge - bei gleichzeitiger Anerkennung seiner "schuldrechtlichen Verpflichtung der Wiedergutmachung der Schäden", die unter der NS-Diktatur im Ausland angerichtet worden waren.

Um diese Aufarbeitung systematisch voranzutreiben, initiierte Brill nach 1950 von Hessen aus als Bundestagsabgeordneter die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte in München. Und Brill plädierte für die Einrichtung von Lehrstühlen für die Wissenschaft von der Politik an den deutschen Universitäten. Diese Initiative verhalf seinen Freunden aus dem Widerstand um Eugen Kogon und Wolfgang Abendroth zu Rufen nach Darmstadt bzw. Marburg. Und sie erleichterte die von ihm geforderte Rückkehr der Emigranten von Fritz Bauer über Ernst Fraenkel bis zu Siegfried Landshut, Ossip K. Flechtheim und Franz L. Neumann, mit denen er u.a. vor 1933 in der Sozialistischen Heimvolkshochschule Tinz bei Gera zusammengearbeitet hatte.


Warum geriet Brills Programmplattform in Vergessenheit und was tat Brandt 1936 in Berlin?

Liegen die Ursachen dieses Verdrängens in beiden Teilen Deutschlands nicht nur bei seinen Gegnern im konservativen Lager und bei der KPD, sondern vielleicht auch bei seinen ehemaligen Freunden und Mitstreitern, die einst aus Enttäuschung über die Politik des Parteivorstands mit Brill die Sozialdemokratie verlassen hatten und 1945 auf eine sozialistische Einheitspartei setzten? Eine unabhängige Partei, nicht von oben verordnet, sondern die aus gemeinsamer Überzeugung entstehen und unter kritischer Aufarbeitung der Fehler von SPD und KPD gegründet werden sollte? Das betraf nicht nur seine alten Mitstreiter, die mit Brass, Zweiling und Walcher in die SBZ gingen, die sich bald dem Druck von Walter Ulbricht nicht gewachsen zeigten, die mit Anton Ackermanns "deutschem Weg zum Sozialismus" scheiterten und anschließend den von oben vorgegebenen Weg zur SED freiwillig oder widerstrebend mit beschreiten sollten. Auch mussten sich seine Freunde in den Westzonen nach dem Scheitern der Arbeiterinitiativen von unten für eine der beiden alten, von oben wiedergegründeten Arbeiterparteien entscheiden oder sich verweigern. Das betraf die Mitglieder der Zwischengruppen der Arbeiterbewegung, die als Verfechter der Einheitspartei lange zögerten, bevor sie sich wie Abendroth, Brill, Brenner und Brandt entschieden, einen Wiederaufnahmeantrag in der SPD zu stellen oder mit Willy Bleicher, Erich Söchtig, Karl Grönsfelder und Hans Mayer zur KPD zu gehen. Sie waren es auch, die vom Ausland aus die Kontakte zur Gruppe der deutschen Volksfront in Berlin aufrechterhalten hatten.

Schon deshalb ist es erstaunlich, wie ungenau nachträglich Erinnerungen an diese Zeit aus der Sicht einiger der Betroffenen bleiben, die den direkten Kontakt zur Brass-Brill-Gruppe zwischen 1935 und 1939 pflegten. Konkretisieren wir diesen Tatbestand an den Erinnerungen von Willy Brandt (1989: 107-114).

Die SAP-Auslandszentrale entsandte Willy Brandt Mitte September 1936 von Oslo über Paris für drei Monate nach Berlin - als Student getarnt mit einem norwegischen Pass auf dem Namen Gunnar Gaasland. Er nahm u.a. Kontakt zu Fritz Erler auf, der zur Gruppe "Neu Beginnen" und zur "Deutschen Volksfront"gehörte. Insgesamt konnte seine Parteigruppe (SAP) zu diesem Zeitpunkt noch auf 200 Mitglieder in "Metro", d.i. Berlin, zählen, wie er in seinem Bericht an den Parteivorstand der SAP notierte. Unter dem Berliner SAP-Decknamen "Martin" schrieb Brandt in dem mit "Marianne" unterzeichneten Brief vom November 1936: Die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit und Einheit in Berlin seien gut, weil alte Abgrenzungen bereits abgetragen wären. Stärkste Gruppe bleiben die KP-Anhänger. Wichtig aber sei, das organisatorische Wachstum der Einheit und die Aufrechterhaltung innerer Demokratie weiter zu fördern. Mit Überraschung nahm er zur Kenntnis, dass auch die Berliner Genossen von einer drohenden Kriegsgefahr ausgingen, sodass der "Kurs auf Flucht in den Krieg" keineswegs als "Emigrantenphantasien" abgetan werden könne. So Brandt als einer der vier Berliner Delegierten auf der "Kattowitzer Konferenz"der SAP, die zum Jahreswechsel 1936/37 in Mährisch-Ostrau stattfand.

In der "Marxistischen Tribüne" vom März 1937 fasst Willy Brandt die Erfahrungen der "illegalen Kampffront" in Berlin noch einmal zusammen, um diese an die SAP-Kader im Exil weiterzuvermitteln. Die "Nüchternheit" der illegalen Arbeit im Inland konfrontiert er mit der Warnung vor der Überbetonung von "Ismen" unter den Exilvertretern: "Denkt immer daran, dass für den einfachen Menschen das Leben nicht nur aus 'Ismen' besteht, sondern aus Essen, Schlafen, Fußballspielen, Kanarienvögeln, Schrebergarten und anderen schönen Dingen. Und vergesst nicht, dass es Lenin war, der verschlug, mit der Forderung nach 'Teewasser' Leben in den Betrieben auszulösen. Wir müssen lernen, nicht immer von der hohen Politik zu reden, sondern zu ihr den Weg durch das jeweilige Teewasser zu bahnen." (vgl. dazu Brandt 2000: 242-264)


Europäische Friedensziele der demokratischen Sozialisten nach wie vor aktuell

Ähnlich wie Brill und Abendroth setzte Brandt nach Ende des Krieges weiter auf die Einheitsfront. Gegen den "Fluch der Zersplitterung" argumentierte er ab Anfang Februar 1945 aus Anlass der von den Alliierten in Jalta beschlossenen Teilung Deutschlands in Besatzungszonen (Brandt 2000: 239). Folgt man den in der Berliner Ausgabe nicht vollständig abgedruckten Aufzeichnungen Willy Brandts vom 9. Februar 1945 zu den Folgen der Konferenz von Jalta, dann finden wir dort weitgehende inhaltliche Übereinstimmungen mit dem Zehn-Punkte-Programm und dem Buchenwalder Manifest von Brill (vgl. das im Vorspann zitierte Brandt-Dokument aus Peter Weiss' Notizbuch). Und noch am 7. November 1945 schreibt Brandt aus Lübeck an seinen Lehrmeister aus den Jahren des Widerstands, Jacob Walcher in Berlin: "In der Parteifrage wünschen wir (die Lübecker Genossen, J.W.) eine Einigung des gesamten Proletariats. Aber auch hier sind die Bestrebungen von gewissen alten Führern der SPD und KPD im Gange, die ihre alten Ziele von damals wieder zu verwirklichen suchen." (Brandt 2000: 255).

Die Erinnerung an Brill verschwindet in den späteren Aufzeichnungen einiger seiner Freunde von einst, die sich wie Brandt wohl an Fritz Erler, den späteren Fraktionsvorsitzenden der SPD im Bundestag, erinnern, nicht aber an Brass, Brill oder Ackermann. Brill wiederum berichtete nach 1945 äußerst zurückhaltend über Erlers Mitarbeit in ihrer Widerstandsgruppe und im Rahmen des Prozesses vor dem Volksgerichtshof.

Es ist also kein Zufall, dass wir über den widerständigen Brill wenig oder gar keine Hinweise in wissenschaftlichen Abhandlungen oder in den großen biografischen Lexika finden. Selbst das "Lexikon Linker Leitfiguren" der Büchergilde Gutenberg von 1989 meint, auf Brill verzichten zu dürfen. So ist man neben der 1992 vorgelegten Biografie von Manfred Overesch (1992) auf das Handbuch "Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten" angewiesen, das 1997 von Außenseitern der Zunft herausgegeben wurde. Persönlichkeiten wie Brill oder Walter Hammer werden hier beachtet - als Repräsentanten einer Generation, die in Zeiten revolutionärer Veränderungen von links oder rechts sich meist vergeblich um Neuanläufe demokratischer Bewegungen in Deutschland bemühten, weil sie an den inneren Widersprüchen, Diskontinuitäten und Brüchen zwischen den bürgerlichen Demokratiebewegungen und dem sozialistischen Lager scheiterten.

Verlorengegangen sind dabei jene Vorstellungen von einer europäischen Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die exemplarisch von Brill und seinen Mitstreitern als "Buchenwalder Manifest der demokratischen Sozialisten: Für Freiheit, Frieden, Sozialismus" formuliert wurden. Er knüpfte dabei an jene Diskussionen an, die er mit seinen vertrauten Genossen aus den Reihen von "Neu Beginnen" um Richard Löwenthal und Paul Hertz 1934 begonnen hatte. Zeitlich und inhaltlich parallel dazu hatten im schwedischen Exil Willy Brandt, Bruno Kreisky, Irmgard und August Enderle, Fritz Bauer und Gunnar Myrdal mit anderen Emigranten die "Friedensziele der demokratischen Sozialisten" in Stockholm verabschiedet. Die Publikationen von Stefan Szende (Europäische Revolution), Gunnar Myrdal (Warnung vor Friedensoptimismus) und Fritz Bauer (Die Kriegsverbrecher vor Gericht) von 1945 in der Reihe Neue Internationale Bibliothek des Europa-Verlages (Zürich/New York) dokumentieren diese Visionen einer neuen "Gesellschaftsrevolution" als Fundament der Demokratie, die vor dem Hintergrund der leidvollen Erfahrungen der beiden Weltkriege den Begriff der Nation selbst zur Diskussion stellt, mit dem so viel Missbrauch getrieben wurde: "Europas Krankheit ist der Nationalismus."

Ideen und Projekte aus Buchenwald und Stockholm, die in der europäischen Krise von heute zunehmende Aktualität gewinnen könnten, wenn man sie endlich zur Kenntnis nehmen würde. Der damals 26-jährige Willy Brandt hatte diese Diskussion schon Ende 1939 von Norwegen aus mit dem "Traum von Europas Vereinigten Staaten" und dem Buch vom April 1940 über "Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa" eingeleitet. Als Voraussetzung einer internationalen Neuordnung hält er dort fest, "dass sich die Gesellschaften von kapitalistischer Profitherrschaft freimachen und zur gesellschaftlichen Planwirtschaft übergehen". Das friedliche Zusammenleben der Völker müsse mit Hilfe gültiger internationaler Gesetze auf der "Grundlage eines gemeinsam erarbeiteten Völkerrechts" gesichert werden (Brandt 2002: 452-458, 468-495).

Als der gleichaltrige Arno Behrisch, einer der engsten Mitstreiter von Brandt im Exil, am 20. Oktober 1986 in Nürnberg an die von ihm mit verfasste "Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten"von 1942/43 erinnerte, unterbrach der entschiedene Gegner der Wiederaufrüstung, der Notstandsgesetze und des Radikalenerlasses seine Ausführungen immer wieder mit der Bemerkung: "Lieber Willy, hast Du das ganz vergessen?" (Behrisch 1991: 281-307).


Jörg WoIlenberg, Jg. 1937, seit den 1960er Jahren Lehr- und Leitungstätigkeit an (Heim-)Volkshochschulen, Bildungszentren, Gewerkschaftsschulen und NS-Gedenkstätten. Von 1978 bis zum Ruhestand 2002 Professor für Weiterbildung an der Universität Bremen, Mitglied der IG Metall und der GEW. Der Beitrag ist eine Kurzfassung des Hermann Glaser zum 85. Geburtstag gewidmeten Referates vom 25. Oktober 2013 in Weimar im Rahmen der Vortragsreihe der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.



Literatur

Behrisch, Arno (1991): Zur Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten, in: Jörg Wollenberg (Hrsg.):Von der Hoffnung aller Deutschen. Wie die BRD entstand (1945-1949), Köln 1991: 281-307).

Brandt, Willy (1989): Erinnerungen, Frankfurt a.M.

Brandt, Willy (2000): Berliner Ausgabe, Bd. 2: Zwei Vaterländer. Deutsch-Norweger im schwedischen Exil. Rückkehr nach Deutschland 1940-1947, Bonn

Brandt, Willy (2002): Berliner Ausgabe, Bd. 1: Hitler ist nicht Deutschland. Jugend in Lübeck - Exil in Norwegen 1928-1940, Bonn

Brill, Hermann (1946): Gegen den Strom, Offenbach

Brill, Hermann (1947): Verfassungsfragen, Bremen

Langkau-Alex, Ursula (2004/ 05): Deutsche Volksfront 1932-1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau, Band I-III, Berlin

Mann, Klaus (1944-1949): Tagebücher, Reinbek 1995

Overesch, Manfred (1992): Hermann Brill in Thüringen 1895-1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn

Scheidemann, Philipp (2002): Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil, Lüneburg

Weiss, Peter (1981): Notizbücher 1971-1980, Bd. 1, Frankfurt a.M.

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Quelle:
Sozialismus Heft 12/2013, Seite 55 - 60
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2013