Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

MEMORIAL/116: Oktober 1914 - Antikriegspositionen der italienischen Sozialisten (Gerhard Feldbauer)


Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges bezogen die italienischen Sozialisten Antikriegspositionen

Sie waren Ergebnis eines konsequenten Kampfes gegen die Reformisten

von Gerhard Feldbauer, 15. Oktober 2014



Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges bezog die Italienische Sozialistische Partei (ISP) als einzige westeuropäische Sektion der Zweiten Internationale Antikriegspositionen, die sie, von reformistischen Abweichungen einer Minderheit abgesehen, insgesamt bis zum Ende des Krieges beibehielt. Obwohl Italien zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Krieg eingetreten war, verurteilte der ISP-Vorstand am 20. Oktober 1914 in einem "Manifest gegen den Krieg" den Übergang europäischer Parteien der Zweiten Internationale auf die Positionen ihrer Bourgeoisie zur Vaterlandsverteidigung und bekannte sich zu "den Werten des Friedens und des sozialistischen Internationalismus". Die ISP-Führung berief sich auf das "Manifest gegen den Krieg" des Baseler Friedenskongresses der Zweiten Internationale von 1912, das sie auf ihrem Parteitag im April 1914 bekräftigt hatte. Die Haltung der italienischen Sozialisten bildete, wie Lenin schrieb, "eine Ausnahme für die Epoche der II. Internationale".


Andrea Costa trat dem Expansionismus entgegen

Die Antikriegspositionen, die die ISP 1914 bezog, waren Ergebnis einer von den Linken in der Partei seit Jahren gegen den Großmachthunger und Expansionsdrang des Imperialismus im Lande geführten Kampfes. Höhepunkt waren 1896 machtvolle Protestkundgebungen, die die koloniale Eroberung Äthiopiens verhinderten. Ihr Parlamentsabgeordneter Andrea Costa trat der Expansion mit der Losung entgegen: "Keinen Mann und keinen Groschen für die Kolonialpolitik".

Dass die europäischen Großmächte mit dem deutschen Kaiserreich an der Spitze zu einem Waffengang um die Neuaufteilung der Welt antreten wollten, wurde nicht erst mit dem so genannten Fürstenmord von Sarajewo, der als Vorwand diente, sichtbar. Italien wollte dabei sein und meldete Ansprüche auf das österreichische Südtirol und auf den Balkan an. Als Garant des kriegerischen Expansionismus wurde an Stelle des "gemäßigten" Giovanni Giolitti der rechte Flügelmann der Liberalen, Antonio Salandra, am 21. März 1914 als Premier an die Regierung gehievt.


Die "Settimana rossa" vom Juni 1914

Die revolutionären Sozialisten Italiens traten bereits im Juni 1914 mit machtvollen antimilitaristischen Arbeiteraktionen, den "Settimana rossa" (Rote Wochen) genannten Protesten, der drohenden Katastrophe entgegen. Der ISP-Vorstand und die Gewerkschaft CGdL riefen zum Generalstreik auf. In Rom, Turin, Mailand, Genua, Florenz und Ancona kam es zu bewaffneten Erhebungen der Arbeiter und zu Barrikadenkämpfen. In den Regionen der Romagna und den Marken riefen die Aufständischen die Republik aus. Die Demonstranten und ihre Redner prangerten die brutale Kriegführung bei dem Überfall Italiens 1912 auf Tripolitanien und der Kyrenaika an, wo 14.800 Araber massakriert worden waren, aber auch 1.405 Italiener die koloniale Eroberung mit ihrem Leben bezahlt hatten, Unzählige als Krüppel zurückgekehrt waren. Lenin hatte in der "Prawda" vom 28. September 1912 entlarvt, wie die Araber "zivilisiert" wurden: "mit dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch die Vergewaltigung ihrer Frauen". Premier Salandra und der König setzten gegen die revolutionäre Erhebung 100.000 Mann des Heeres ein und warfen sie in einem Meer von Blut nieder. Gramsci sah in den Settimana Rossa, wie er in seinen Quaderni del Carcere (Gefängnisheften) festhielt, die bis dahin machtvollste Massenbewegung des Antimilitarismus und Internationalismus.


Ausschluss der Reformisten Grundlage für Antikriegshaltung

Die revolutionäre antimilitaristische und gegen den imperialistischen Expansionsdrang gerichtete Haltung trug wesentlich zu bei, dass die ISP 1906 mit rund 250.000 Mitgliedern zur drittstärksten Arbeiterpartei Europas aufstieg. Ein Bauernaufstand 1894 auf Sizilien und Barrikadenkämpfe 1898 in Mailand vermittelten lehrreiche Erfahrungen und stärkten die Kampfkraft. 1900 setzte die Partei mit einem Generalstreik in der Industrie- und Hafenstadt Genua das Streikrecht durch. In diesen Kämpfen standen die Linken an der Spitze und stärkten ihre Positionen. Sie fanden sich mit den durch Wahlerfolge (seit 1904 erreichte die ISP 20 Prozent Wählerstimmen) gestärkten Reformismus nicht ab und schlossen auf dem Parteitag 1912 die reformistische Fraktion, die die koloniale Eroberung Libyens unterstützt hatte, aus. Das wurde zur entscheidenden Grundlage für die Antikriegshaltung der ISP nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges.


Mussolini forderte Kriegsgegner zu erschießen

Gegen die zunächst von Italien im Kampf der imperialistischen Großmächte verkündete Neutralität entfachten die führenden Kreise der Rüstungsindustrie (Ettore Conti, Elektroindustrie; Guido Donegani, Chemie; Giovanni Agnelli, Fahrzeugbau, Rüstung; Alberto Pirelli, Reifen und Gummi) eine zügellose chauvinistische Hetze. Ihr Interessenvertreter wurde der wegen Parteinahme für diese Ziele aus der ISP ausgeschlossene frühere Sozialist, Benito Mussolini, der das von den Rüstungskonzernen finanzierte Kampfblatt der Fasci "Popolo d'Italia" herausgab. Dieselben Finanziers des "Popolo d'Italia" gehörten nach Kriegsende zu den Förderern der faschistischen Bewegung, die Mussolinis Marsch auf Rom finanzierten. Vor der Parlamentsabstimmung am 24. Mai 1915 über den Kriegseintritt Italiens hetzte Mussolini in seiner Zeitung, die Abgeordneten, die noch nicht zum Kriegseintritt entschlossen seien - das waren vor allem die Sozialisten - "sollten vor ein Kriegsgericht gestellt werden". Für "das Heil Italiens" seien, wenn notwendig, "einige Dutzend Abgeordnete zu erschießen", andere "ins Zuchthaus zu stecken". Angesichts der chauvinistischen Hetze bewies die ISP-Fraktion außerordentlichen Mut und bekräftige mit ihrer Ablehnung der Kriegskredite ihre Antikriegsposition.


Italiens Sozialisten ergriffen Initiative zur Zimmerwalder Konferenz

Im Mai 1915 ging von den "internationalistischen Sozialisten in Italien" die von Lenin hoch gewürdigte Initiative zur Einberufung einer Konferenz aller Parteien, Arbeiterorganisationen und Gruppen, "die an den alten Grundsätzen der Internationale festhielten", aus. Ergebnis waren die Tagungen in Zimmerwald (5. bis 8. September 1915) und in Kienthal (24. bis 30. April 1916). Schon Zimmerwald beflügelte die europäische Antikriegsbewegung. Die von Lenin formierte revolutionäre Linke grenzte sich offen und entschieden von den Opportunisten ab. Der Zusammenschluss der revolutionären Marxisten war für Lenin "eine der wichtigsten Tatsachen und einer der größten Erfolge der Konferenz" (A. a. O., Bd. 21, S. 369, 396).

Die 1912 aus der ISP ausgeschlossenen Reformsozialisten, die bei Kriegsausbruch zunächst neutralistische Positionen bezogen und am 20. Mai 1915 noch gegen die Kriegskredite stimmten, gingen danach auf sozialchauvinistische Positionen über und unterstützten den Kriegseintritt unter der Losung des Kampfes der "demokratischen" gegen die "autoritären Staaten". Ihr Wortführer Leonida Bissolati trat als Minister ohne Portefeuille in die Regierung ein. Die sogenannten "gemäßigten Reformisten" unter Filippo Turati, einst Mitbegründer der ISP, verblieben in der ISP und fügten sich bis 1917 der Antikriegsposition der Mehrheit. Als im Oktober/November 1917 deutsch-österreichische Truppen am Monte Grappa und am Piave die italienische Front durchbrachen und die dort stehenden 700.000 kriegsmüden italienischen Soldaten flohen, bezogen auch Turati und eine Anzahl "gemäßigter Reformisten" sozialchauvinistische Positionen und riefen zur Vaterlandsverteidigung auf. Der politisch-militärische Zusammenbruch Deutschlands und Österreichs rettete Italien vor weiteren Desastern. Als Wien am 4. November 1918 bei Padua vor der Entente kapitulierte, gehörte Rom zu den Siegern und forderte seine Kriegsbeute ein. Turati trat gegen den Beschluss des ISP-Vorstandes in die italienische Regierungskommission zur Vorbereitung eines imperialistischen Friedens ein.


Italien wechselte vom Dreibund zur Entente

Als Mitglied des Dreibundes lehnte Italien 1914 einen Kriegseintritt mit der Begründung ab, es handele sich um keinen Verteidigungsfall. In Wahrheit ging es der italienischen Großbourgeoisie darum, sich im beginnenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt auf die Seite zu schlagen, die ihm den größten Anteil an territorialen Gewinnen versprach. Es ging vor allem um die Brennergrenze, Gebiete im Trentino, um Triest und an der dalmatischen Küste. Während der Kuhhandel nach beiden Seiten begann, erklärte Rom, um die Partner unter Druck zu setzen, aber auch die Antikriegsbewegung zu beruhigen, zunächst seine Neutralität.

Auf Druck aus Berlin wollte Österreich Italien Trient überlassen, keinesfalls jedoch Triest. Den Ausschlag für das italienische Kapital gaben schließlich die größeren Brocken, welche die Entente in Aussicht stellte. Am 26. April 1915 unterzeichnete Rom einen Geheimvertrag mit der Entente, der ihm umfangreiche Gebietsansprüche - darunter das österreichische Südtirol - zusagte. Am 24. Mai trat Italien unter dem Druck der maßgeblichen Rüstungskonzerne (siehe oben) gegen Österreich in den Ersten Weltkrieg ein.

*

Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2014