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MEMORIAL/141: Der Lyoner Parteitag der Italienischen Kommunistischen Partei 1926 (Gerhard Feldbauer)


Der Lyoner Parteitag der IKP 1926

Er bestätigte Antonio Gramscis Strategie zur Erringung der führenden Rolle der Arbeiterklasse im antifaschistischen Kampf und wählte ihn zum Generalsekretär

von Gerhard Feldbauer, 23. Januar 2016


Der III. Parteitag der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP), der am 23. Januar 1926 illegal im französischen Lyon begann, leitete die strategische Wende im Kampf der Partei gegen den mit Mussolinis "Marsch auf Rom" im Oktober 1922 erfolgten Machtantritt des Faschismus ein. 90,8 Prozent der Delegierten beschlossen die von Antonio Gramsci ausgearbeiteten "Thesen von Lyon" als Parteiprogramm und wählten ihn als Nachfolger von Amadeo Bordiga an der Spitze des neuen Zentralkomitees zum Generalsekretär. Bei der Gründung der IKP am 21. Januar 1921 war kein Programm beschlossen worden, da die Trennung von den Sozialisten nicht geplant war. Antonio Gramsci hatte zunächst versucht, mit der kommunistischen Gruppe Ordine Nuovo (Neue Ordnung) und ihrer gleichnamigen Zeitschrift in der Sozialistischen Partei (ISP) den Reformismus zu überwinden, sie revolutionär zu erneuern, um sie in eine "Partei des revolutionären Proletariats", die sich zur "Zukunft einer kommunistischen Gesellschaft" bekennt, umzuwandeln.

Ordine Nuovo bekannte sich zur Oktoberrevolution, zur Kommunistischen Internationale und verlangte den Beitritt der ISP. Ihre Forderungen setzte sie weitgehend im Programm des Parteitages im Oktober 1919 durch. Auf dem vom 15. bis 21. Januar 1921 in Livorno tagenden Parteitag suchten die Ordinuovisten eine Übereinkunft mit den Zentristen zur Vertiefung dieses Programms. Die Zentristen vertraten 98.028 Mitglieder, Ordine Nuovo 58.783, die Reformisten 14.695. Der Führer der Zentristen, Giacinto Menotti Serrati, hatte sich vor dem Parteitag für "die Trennung von den Opportunisten" ausgesprochen. Mit dem Argument, die Einheit der Partei zu wahren, lehnten die Zentristen jedoch den Ausschluss der Reformisten ab. Daraufhin verließen die Ordinovisten den Parteitag und gründeten am 21. Januar die Kommunistische Partei. Zum Generalsekretär wählten sie Amadeo Bordiga.

Auf dem II. Parteitag im März 1922 in Rom kam ein Programm vor allem wegen der Meinungsverschiedenheiten zur faschistischen Gefahr nicht zustande. Bordiga meinte, "die Bourgeoisie wünsche keine Änderung ihres politischen Systems" und werde "den Parlamentarismus verteidigen". Gramsci dagegen schätzte den Faschismus als eine "degenerierte Kraft der Bourgeoisie", als eine "bewaffnete Garantie des Klassenstaates" und "Phänomen der bourgeoisen Reaktion" ein und warnte vor einem "Staatsstreich der Faschisten".


Die Erringung der Hegemonie

Ende 1923 kehrte Gramsci aus Moskau zurück, wo er seit März 1922 Vertreter der IKP im Exekutivkomitee der Komintern war. Lange vor deren VII. Weltkongress erarbeitete er als Erster Grundsätze einer Analyse des Faschismus und die für seinen Sturz erforderliche nationale Bündniskonzeption und erwies sich damit, wie Domenico Losurdo schrieb, als "ein kommunistischer Führer ersten Ranges" (Der Marxismus Antonio Gramscis. Hamburg 2000). Gramsci zeigte die Widersprüche innerhalb der herrschenden Kreise auf und definierte den "Faschismus als Instrument einer Industrie-Agraroligarchie", die in ihren Händen "die Kontrolle des gesamten Reichtums des Landes" konzentriert. Die herrschende Klasse besitze "in den kapitalistisch hochentwickelten Ländern politische und organisatorische Reserven, die sie z. B. in Russland nicht hatte". Das bedeute, dass "auch schwerste Wirtschaftskrisen keine unmittelbare Rückwirkung auf das politische Leben haben, sondern die Politik immer eine Verspätung, eine große Verspätung gegenüber der ökonomischen Entwicklung aufweist". Diese Situation erfordere "von der revolutionären Partei eine sehr viel komplexere Strategie und Taktik, die weit von der entfernt ist, die für die Bolschewiki zwischen März und November 1917 notwendig war". Nach der Machtergreifung des Faschismus stehe die proletarische Revolution zunächst nicht mehr auf der Tagesordnung. Die Arbeiterklasse müsse ihre "politische Hegemonie" auf der Grundlage der Freiwilligkeit und Überzeugung erringen. Ihr Masseneinfluss setze voraus, das Sektierertum zu überwinden. Auch müsse sie die Eigenständigkeit der Bündnispartner respektieren. Gramsci verband den Kampf für den Sozialismus mit der Verteidigung bzw. der Eroberung der Demokratie.


Der Blòco stòrico

Den Kern der Bündnispolitik Gramscis bildete seine These vom "Historischen Block", die er später aus dem Kerker heraus vervollständigte. "In keinem Land ist das Proletariat in der Lage, allein die Macht zu erobern und aus eigener Kraft zu behaupten. Es muss sich also Verbündete schaffen, das heißt, es muss eine solche Politik betreiben, die es ihm erlaubt, sich an die Spitze der anderen Klassen, die antikapitalistische Interessen haben, zu stellen und sie in den Kampf zum Sturz der bürgerlichen Gesellschaft führen". Ausgehend vom Bündnis der Arbeiter und Bauern entwarf er ein System von Bündnissen der Arbeiterklasse mit den Mittelschichten und der Intelligenz, in dem er dem Zusammengehen mit den katholischen Volksmassen einen hohen Stellenwert beimaß. Er ging von Lenins Hinweisen für die italienischen Kommunisten auf dem III. KI-Kongress aus, dass die Partei im revolutionären Kampf "die Massen", die "Mehrheit der Arbeiterklasse" gewinnt.

Gramsci hielt fest, dass die bürgerlichen Bündnispartner des "Historischen Blocks" eigene politische Ziele verfolgen, was seitens der KP Zugeständnisse erfordere. In seinen Gefängnisheften präzisierte er später, was oft übersehen wird, es müsse es sich um einen "ausgeglichenen Kompromiss" handeln, bei dem die Zugeständnisse der KP "nicht das Wesentliche", nämlich "die ökonomischen Aktivitäten der führenden Kraft" betreffen dürften, worunter er die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft und die Errichtung einer sozialistischen Ordnung verstand. Das zu verstehen war bzw. ist, wie Losurdo hervorhob, für das Proletariat besonders schwierig, weil es sich um Schichten handelt, die zwar die politische Macht verloren hatten, aber weiterhin eindeutig über bessere Lebensbedingungen und sogar skandalöse Privilegien verfügen.


Was verwirklicht wurde

Unter Palmiro Togliatti, seit Gramscis Verhaftung im November 1926 amtierender Generalsekretär und nach dessen Tod 1937 sein Nachfolger, errang die Arbeiterklasse mit der IKP an der Spitze die Führung im antifaschistischen Kampf. Ein Aktionseinheitsabkommen 1934 sicherte das gemeinsame Handeln von IKP und ISP, was kleinbürgerliche Schichten und Angehörige der Intelligenz auf ihre Seite zog. Nach dem Sturz Mussolinis schlossen sich die bürgerlichen Parteien dem von der IKP initiierten Nationalen Befreiungskomitee (CLN) an. Mit der 1944 mit den CLN-Parteien gebildeten Nationalen Einheitsregierung (Wende von Salerno) wurde Gramscis Blocò Stòrico in einer größeren Dimension verwirklicht, als sein Theoretiker ihn konzipiert hatte. Togliatti setzte nach 1945 bei einer antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung jedoch ausschließlich auf den parlamentarischen Weg und vermied, die sozialistische Perspektive aufzuzeigen. Er folgte Stalin, der nach dem Überfall auf die UdSSR die Parteien der Komintern im Interesse einer Antihitlerkoalition angewiesen hatte, "die Frage der sozialistischen Revolution nicht aufzuwerfen". In offenen Widerspruch zu Gramsci geriet Togliatti, als er zur Fortsetzung der antifaschistischen Einheitsregierung, der seit Dezember 1945 Alcide De Gasperi von der DC vorstand, schwerwiegende Zugeständnisse machte. So nahm er als Justizminister die Auflösung des "Hohen Kommissariats zur Verfolgung der Regimeverbrecher" und eine sogenannte Amnestie der "nationalen Versöhnung" hin. In der Konstituante stimmte die IKP für die Sanktionierung der unter Mussolini geschlossenen Lateranverträge, was die Positionen des Klerus und der DC-Rechten stärkte.


Quellen: La Formazione del Gruppo dirigente del PCI. Rom, 1962; Problemi di Storia del PCI, Rom 1971.

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2016

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