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MEMORIAL/142: Italien - Die Cronaca Quotidiana weist für 1886 ein unbeschreibliches Elend aus (Gerhard Feldbauer)


Italien vor 130 Jahren
Die Cronaca Quotidiana weist für 1886 ein unbeschreibliches Elend aus

Schon Sechsjährige mussten arbeiten

von Gerhard Feldbauer, 12. Februar 2016


Die bürgerliche Revolution 1861 errang in Italien nur einen Dreiviertelsieg, da sie das Eigentum der Latifundistas nicht antastete. An die Macht kam die Fraktion der konservativen Bourgeoisie, die die Republik verhindert und im Bündnis mit dem Adel die Monarchie errichtet hatte. Ihre reaktionäre Regierungspolitik kam in der Haltung zur Pariser Kommune zum Ausdruck, die sie als Werk von Fanatikern und eines "bestialischen Sozialismus" verketzerte und den blutigen Terror von Thiers und Bismarck als "nützliche Lektion" lobte. Gegenüber der sich organisierenden Arbeiterbewegung betrieb sie eine rücksichtlose Unterdrückung. Der stürmisch einsetzende industrielle Aufschwung erfolgte auf der Basis eines unbeschreiblichen Elends des Volkes.

Die ungelöste Agrarfrage führte in Süditalien zu einer enormen Verarmung der Landbevölkerung. Malaria und Cholera forderten bis 1884 etwa 30.000 Todesopfer, davon 8.000 in Neapel, die "Hauptstadt des Elends" genannt wurde. Zwischen 1861 und 1881 verlor etwa ein Fünftel der italienischen Bauern (800.000) ihren Boden, den kapitalkräftige Bourgeois aufkauften. Nur ein kleiner Teil von ihnen fand in der Industrie eine Existenzgrundlage als Lohnarbeiter. Schon in dieser Zeit wurde mit der schicksalhaften Vertreibung von Italienern in die Emigration das Flüchtlingselend geboren. 1888 waren bereits 204.264 Italiener davon betroffen. Von 1901 bis 1913 wanderten insgesamt acht Millionen Italiener aus, davon fünf Millionen nach Übersee.


Schon Sechsjährige mussten arbeiten

Die Cronaca Quotidiana des Geographischen Instituts Italiens (Ausgabe 1991) berichtet von einer schonungslosen Ausbeutung in der Industrie. Die Arbeitszeit betrug 12 bis 16 Stunden täglich. Anfang der 70er Jahre verdiente ein Mann 1,5 bis 2 Lire am Tag, was dem Preis von 4 bis 5 Kilo Brot entsprach. Frauen erhielten die Hälfte, Kinder ein Drittel. Die Kinder wurden erbarmungslos ausgebeutet. 1880 waren von 382.131 Beschäftigten in der Textil- und Papierindustrie sowie der Tabakverarbeitung 90.083 (23,5 Prozent) Kinder unter 14 Jahren. In den Fabriken arbeiteten Kinder schon zwischen 9 bis 12 Jahre, in nicht wenigen Fällen bereits Sechsjährige.

Die sozialen Proteste der landlosen und armen Bauern sowie der Tagelöhner und plebejischen Schichten der Städte im Süden nahmen Formen des bewaffneten Widerstandes an. Parallel dazu trieben bewaffnete Banden aus früheren Soldaten der bourbonischen Besatzungsarmee ihr Unwesen. Die Revolten hielten bis 1863/64 an. Die Regierung machte keine Unterschiede zwischen dem Widerstand der verschiedenen Volksschichten gegen ihre soziale Entrechtung und dem Banditentum der früheren Soldaten. Zwischen 1861 und 1863 wurden allein in Basilicata 2.413 Menschen erschossen, 2.768 gefangen genommen und 1.038 hingerichtet. Nach der Verabschiedung von Ausnahmegesetzen wurden zwischen 1863 und 1864 in 3.600 Prozessen zirka 10.000 Personen angeklagt.

Gegen den autoritären Repressionskurs formierte sich die marxistische Arbeiterbewegung. 1876 trennten sich in Norditalien die sozialistischen Zirkel von den Anarchisten, schlossen sich zur norditalienischen Föderation zusammen und sprachen sich für die Bildung einer einheitlichen Partei aus (die dann 1882 erfolgte). Im "Vorwärts" vom 16. März 1877 schrieb Friedrich Engels: "Endlich ist auch in Italien die sozialistische Bewegung auf einen festen Boden gestellt", auf "den gemeinsamen Boden der großen europäischen Arbeiterbewegung".


Giovanni Verga, schrieb mit "Sizilianische Bauernehre" den Stoff für "Cavalleria rusticana"

Dem Los der so Ausgebeuteten nahmen sich auch fortschrittliche Künstler und Schriftsteller an. Zu ihnen gehörte Giovanni Verga, der sich der erschütternden Armut der sizilianischen Landbevölkerung zuwandte und zum Begründer des italienischen Verismus (von vero-wahr) wurde. Mit "Nedda" (1874) und "Sizilianische Dorfgeschichten" (1880) stieg er zum Meister veristischer Novellen auf. In "Sizilianische Bauernehre" (1884), die Pietro Mascagni als Stoff für seine weltweit bekannt gewordene Oper "Cavalleria rusticana" nahm, schilderte er das sizilianische Volksleben. Seine bedeutendsten Romane wurden "Malavoglia" (1881) und "Don Gesualdo" (1889), in denen er mitfühlend die Leiden der Unterdrückten gestaltete, deren Denken von Resignation und Hoffnungslosigkeit beherrscht wird. Auch wenn Verga nicht die gesellschaftlichen Wurzeln von Ausbeutung und Unterdrückung und den Kampf dagegen aufzeigte, gebührt ihm das große Verdienst, als erster die Bauern und Tagelöhner, Hirten und Fischer in die italienische Literatur eingeführt zu haben.

Der wachsende Volkswiderstand veranlasste die Bourgeoisie zum Regierungswechsel. 1876 löste die liberale Fraktion die konservative Rechte ab. Ihre Vertreter hatten in der Revolution von 1848/49 in der Mehrheit noch dem demokratischen Flügel angehört. Die Parlamentswahlen hatten die Liberalen mit einem bürgerlichen Reformprogramm gewonnen, dass der arbeitenden Bevölkerung unter anderem eine Fabrikgesetzgebung versprach, die auch die Kinderarbeit einschränken sollte. Die Großbourgeoisie hoffte, dass die Liberalen die Unzufriedenheit vor allem der untersten Volksschichten und ihren zunehmenden Widerstand eindämmen, vor allem der heranwachsenden Arbeiterbewegung Schranken setzen würden. Das am 11. Februar 1886 verabschiedete "Gesetz zur Minderung der Kinderarbeit" blieb weit hinter den Forderungen der Sozialisten zurück. Es Verbot Kinderarbeit unter neun Jahren in Fabriken, Steinbrüchen und Bergwerken, Nachtarbeit unter 10 Jahren. In Heimarbeit und Handwerksbetrieben durften weiterhin Kinder selbst unter sechs Jahren arbeiten. Nicht nur dieses Gesetz, auch die weiter verfolgte repressive Innenpolitik, die sich auch aus der expansionistischen Außenpolitik (Beginn kolonialer Eroberungskriege) ableitete, verdeutlichte, dass die liberale Linke eine ausgesprochen rechte Politik verfolgte. 1894 wurde nach dem Beispiel des vier Jahre vorher in Deutschland gescheiterten Sozialistengesetzes die sozialistische Partei verboten.

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Februar 2016

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