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MEMORIAL/246: Italiens KP-Chef Enrico Berlinguer wollte eine "chilenische Lösung" verhindern (Gerhard Feldbauer)


Kampf um Berlinguers Erbe

In einer Regierungskoalition mit der großbürgerlichen Democrazia Cristiana wollte er eine "chilenische Lösung" der Faschisten in Italien verhindern

von Gerhard Feldbauer, 8. Juni 2022


Vor 38 Jahren, am 11. Juni 1984, verstarb der Generalsekretär der IKP, Enrico Berlinguer, nachdem er vier Tage vorher, während er auf einer Kundgebung zu den EU-Wahlen in Padua sprach, einen Herzinfarkt erlitten hatte. Im März 1972 war er als Nachfolger Luigi Longos zum Parteichef gewählt worden. Zwei Jahre vorher, im Dezember 1970, hatte der Movimento Sociale Italiano (MSI), eine schon 1946 wiedergegründete Nachfolgepartei des faschistischen Diktators Mussolini, zum wiederholten Male versucht, die verfassungsmäßige Ordnung mit Hilfe von Militärs und Geheimdienstkreisen zu stürzen, war aber an der Wachsamkeit antifaschistischer Kräfte gescheitert. Auf der ZK-Tagung im November 1971 schlug Berlinguer daraufhin mit Blick auf diese Gefahr der DC erstmals vor, "die Überwindung der Klassenschranken anzustreben" und eine "Regierung der demokratischen Wende" zu bilden.

Am 11. September 1973 stürzte General Pinochet in einem faschistischen Militärputsch in Chile den sozialistischen Präsidenten Allende, der mit einer knappen linken Mehrheit regierte, während sich die Christdemokraten in der Opposition befanden. Die MSI-Faschisten begannen sofort eine Kampagne für eine "chilenische Lösung für Italien". In einer Artikelserie in der theoretischen Zeitschrift der Partei Rinascita (28. Sept., 5. u. 12. Okt. 1973) analysierte Berlinguer den Pinochet-Putsch und schlussfolgerte, "selbst wenn die Linksparteien und Linkskräfte 51 Prozent der Stimmen im Parlament erringen könnten (...), wäre es völlig illusorisch anzunehmen, dass allein diese Tatsache den Fortbestand einer Regierung der Linksparteien und Linkskräfte garantieren würde." Eine "demokratische Erneuerung" könne sich nur vollziehen, wenn sich Regierung und Parlament auf eine breite Mehrheit stützten, die stark genug sei, das Land vor einem reaktionären Abenteuer, wie es in Chile stattfand, zu schützen. Berlinguer schlug der DC einen "historischen Kompromiss" (Compromesso storico) und die Zusammenarbeit auf Regierungsebene vor.

Noch verhielt sich die DC abwartend. Als die IKP 1976 bei den Parlamentswahlen 34,4 Prozent erreichte, während die DC mit 38,7 Prozent über keine Regierungsmehrheit mehr verfügte, griff der DC-Vorsitzende Aldo Moro nunmehr den Vorschlag auf. Er vertrat linksliberale Positionen, hatte 1949 den NATO-Beitritt des Landes abgelehnt und war Gegner der US-Einmischung in Italien. Nach langwierigen Verhandlungen vereinbarten Berlinguer und Moro Anfang 1978, eine Regierung mit der Aufnahme der IKP in die Parlamentsmehrheit zu bilden. Für einen späteren Zeitpunkt war ihr direkter Eintritt in das Kabinett vorgesehen. Die IKP hatte jedoch bereits volles Mitbestimmungsrecht.

Unter dem Einfluss einer in der IKP seit Ende der 60er Jahre entstandenen sozialdemokratischen Fraktion des sogenannten "Eurokommunismus" und der Forderungen rechter DC-Kräfte, die Moro berücksichtigte, gab Berlinguer grundsätzliche marxistisch-leninistische Positionen auf (Anerkennung der Marktwirtschaft und des bürgerlichen Staatsmodells, vor allem aber die Akzeptanz der NATO, die "Schutzschild" eines italienischen Weges zum Sozialismus sein sollte, was nach parteiinterner Bekundung die Amerikaner durch die Zusicherung beruhigen sollte, es werde kein einseitiger Austritt aus dem Pakt verfolgt).

Die USA brachten dennoch in einem von der CIA mit der faschistischen Putschloge Propaganda Due (P2) inszenierten Komplott - mit der Entführung Moros am 16. März 1978 und am 9. Mai seiner Ermordung - die Regierung mit der IKP zum Scheitern. In die Verschwörung waren die von den Geheimdiensten unterwanderten linksextremen Roten Brigaden einbezogen worden. Auf dem Parteitag im März 1979 erklärte Berlinguer den Historischen Kompromiss für gescheitert. Die IKP kehrte in die Opposition zurück und sprach sich wieder für eine linke Alternative aus.

Berlinguer hatte in der Partei die sozialdemokratische Strömung gezügelt. Nach seinem Tod bekam sie freie Hand, riss unter dem Einfluss Gorbatschows die Führung an sich und verwandelte sie 1990 in eine sozialdemokratische Partei der Linken (PDS). Die Folge ist heute eine tief gespaltene Linke, deren einst führende Kommunisten selbst in drei Parteien gespalten sind. Wie Giorgio Galli in seiner "Storia del PCI" (Mailand 1993) einschätzte, wäre Berlinguer diesen Weg der Aufgabe nicht nur kommunistischer, sondern auch aller sozialistischen Traditionen nicht gegangen. Er blieb, wie auch der PCI auf seiner Website dieser Tage schrieb, ein Kommunist, der für "eine Gesellschaft, in der Arbeiter und Arbeiterinnen entscheiden, was und wie produziert wird", kämpfte.

Diese Meinung vertrat auch das kommunistische Magazin Contropiano auf seinem Online-Portal, das anlässlich seines 38. Todestages schrieb, Linke sollten an Berlinguers Erbe als Kommunist, als Mann Togliattis und damit Gramscis anknüpfen und in seiner "demokratischen Alternative", das heißt einer Zusammenarbeit und Verständigung kommunistischer und sozialistischer Volkskräfte mit denen katholischer Inspiration, Lehren für die Gegenwart sehen. Berlinguer sei "kein gescheiterter Kommunist", sondern ein in seiner Regierungszusammenarbeit mit der Partei der Großbourgeoisie "gescheiterter Reformer", was als eine deutliche Absage an die von dem sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) und der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) betriebene Teilnahme an der Regierung des früheren EZB-Chefs Draghi, obendrein mit Faschisten der Forza Italia (FI) Berlusconis und der Lega Salvinis, zu sehen ist.

Gleichzeitig verwies das kommunistische Magazin auf die am 28. Mai tagende Nationalversammlung der Linkspartei "Die Macht dem Volke" (Potere al Popolo - PaP), von der es erwartete, das Thema aufzugreifen, was sich als verfehlt oder verfrüht erwies. Die 2017 aus linken Gruppen und Kommunisten, vor allem aus der Kommunistischen Wiedergründung (PRC), entstandene PaP bekannte sich zu einem sozialistischen Weg, der als "eine Frage des Überlebens der Menschheit" gesehen wird. Giuliano Granato, mit Marta Collot Sprecher der Partei, erkannte an, dass "der Sozialismus die Massen anzog, weil er einen Horizont bot", und bekundete, es gehe darum, dieses Sendungsbewusstsein und die Präfiguration "der Welt, die wir uns wünschen, zurückzuerobern".

Doch auf die Frage nach der Kraft, die den Weg zu diesem Ziel aufzeigt und die Massen in den Kampf führt, gab die Tagung, wie dem Bericht von Contropiano zu entnehmen war, letzten Endes keine Antwort. Ein Bezug auf die Begründer des Sozialismus Marx und Engels oder den Begründer der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), Antonio Gramsci, fehlte ebenso, und selbst das von Contropiano erhoffte Aufgreifen des Erbes Berlinguers war nicht auszumachen. Immerhin bekannte sich Granato zu der Erkenntnis, dass im Kampf gegen das kapitalistische System die Zusammenarbeit und die Einheit mit anderen politischen und sozialen Kräften ein Erfordernis ist, und räumte ein, dass die heutige Situation kurzfristig nicht gelöst werden kann.

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 13. Juni 2022

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