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MEMORIAL/277: Der "Lange Marsch" der Volksbefreiungsarmee 1933-1935 quer durch China (Gerhard Feldbauer)


Der "Lange Marsch" der Volksbefreiungsarmee 1933-1935 quer durch China

Eine historisch einmalige Leistung
Der deutsche Kommunist Otto Braun nahm daran als Militärberater der Komintern teil

von Gerhard Feldbauer, 5. Oktober 2024


An­läss­lich des 75. Jah­res­ta­ges der Grün­dung der Volks­re­pu­blik China am 1. Ok­to­ber 1949 ist auch an ein his­to­risch ein­ma­li­ges Er­eig­nis zu er­in­nern: den "Lan­gen Marsch" der Volks­be­frei­ungs­ar­mee 1933-1935 quer durch China.

In China waren seit 1927 im Er­geb­nis des na­tio­na­len Be­frei­ungs­kamp­fes unter Füh­rung der KPCh ein zen­tra­les und da­nach wei­te­re So­wjet­ge­bie­te in Mit­tel-

und Süd­chi­na ent­stan­den. Das Tschiang Kai-schek-Re­gime ging mit Un­ter­stüt­zung im­pe­ria­lis­ti­scher Kräf­te aus den USA, Großbri­tan­ni­ens, Frank­reichs, Deutsch­lands und Ita­li­ens mit über­le­ge­nen mi­li­tä­ri­schen Kräf­ten gegen die be­frei­ten Ge­bie­te vor. Um­fang­rei­che Lie­fe­run­gen an Flug­zeu­gen, Pan­zern und Ar­til­le­rie kamen, wie die "Rote Fahne" der KPD am 6. Fe­bru­ar 1927 ent­hüll­te, auch aus Deutsch­land.

Unter dem Druck der über­le­ge­nen geg­ne­ri­schen Kräf­te muss­te die zen­tra­le Ar­mee­grup­pe der Volks­be­frei­ungs­ar­mee, von der ei­ni­ge Ver­bän­de ein­ge­kreist waren, einen stra­te­gi­schen Rück­zug, den Lan­gen Marsch, an­tre­ten. An dem le­gen­dä­ren "Lan­gen Marsch" der Volks­be­frei­ungs­ar­mee quer durch China nahm der deut­sche Kom­mu­nist Otto Braun als Mi­li­tär­be­ra­ter der Kom­in­tern, von den chi­ne­si­schen Ge­nos­sen Li De ("Li, der Deut­sche") ge­nannt, teil.

Der am 28. Sep­tem­ber 1900 ge­bo­re­ne Otto Braun kämpf­te über 50 Jahre in den Rei­hen der re­vo­lu­tio­nä­ren Par­tei der Ar­bei­ter­be­we­gung. Er stand in Deutsch­land 1919 auf den Bar­ri­ka­den der Bay­ri­schen Rä­te­re­pu­blik und spä­ter an wei­te­ren Brenn­punk­ten be­waff­ne­ter re­vo­lu­tio­nä­rer Kämp­fe. 1928 wurde er von der Klas­sen­jus­tiz der Wei­ma­rer Re­pu­blik in der be­rüch­tig­ten Haft­an­stalt Moa­bit in Ber­lin ein­ge­ker­kert. Dort wurde er im April 1928 von einer Grup­pe von Kom­mu­nis­ten unter Lei­tung sei­ner da­ma­li­gen Le­bens­ge­fähr­tin Olga Be­na­rio, der spä­te­ren Ehe­frau des Ge­ne­ral­se­kre­tärs der KP Bra­si­li­ens, Luiz Car­los Prestos, die 1942 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ra­vens­brück er­mor­det wurde, be­freit und floh da­nach in die So­wjet­uni­on. Die Kom­mu­nis­ti­sche In­ter­na­tio­na­le de­le­gier­te den über mi­li­tä­ri­sche Er­fah­run­gen ver­fü­gen­den Kom­mu­nis­ten zum Stu­di­um an die Frun­se-Mi­li­tär­aka­de­mie der Roten Armee. Nach dem Ab­schluss ging er 1932 im Auf­trag der Kom­in­tern nach China, wo er über sie­ben Jahre als mi­li­tä­ri­scher Be­ra­ter beim Zen­tral­ko­mi­tee der KP Chi­nas in Schang­hai und

in den So­wjet­ge­bie­ten in Süd­chi­na ar­bei­te­te. Auf die­sem Pos­ten un­ter­brei­te­te er auch den Plan für den le­gen­dä­ren Lan­gen Marsch, an dem er als ein­zi­ger Aus­län­der teil­nahm.

Bei der Volks­be­frei­ungs­ar­mee war Otto Braun auch Ge­gen­spie­ler einer Grup­pe von zirka 70 Mi­li­tär­be­ra­tern der Reichs­wehr, zu der zahl­rei­che wei­te­re Tech­ni­ker und Zi­vi­lis­ten ge­hör­ten, bei der Armee des kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Guo­mind­ang-Re­gimes unter Tschiang Kai-schek. Die Grup­pe aus der Wei­ma­rer Re­pu­blik wurde meh­re­re Jahre von hoch­ran­gi­gen Mi­li­tärs wie den Ge­ne­rä­len Alex­an­der von Fal­ken­hau­sen und Hans von Se­eckt, Ge­ne­ral im Ers­ten Welt­krieg und von 1920 bis 1926 Chef der Hee­res­lei­tung der Reichs­wehr, ge­lei­tet. In sei­nen "Chi­ne­si­schen Auf­zeich­nun­gen 1932-1939" (Dietz Ver­lag, Ber­lin/DDR 1975) hat Otto Braun, ohne seine wich­ti­ge Rolle her­aus­zu­stel­len, ein an­schau­li­ches und sehr de­tail­lier­tes Bild von die­sem mi­li­tä­risch ein­ma­li­gem Feld­zug ge­zeich­net, das das Buch heute zu einem wert­vol­len Au­gen­zeu­gen­be­richt macht.

Wäh­rend des am Abend des 16. Ok­to­ber 1933 be­gin­nen­den Lan­gen Mar­sches legte die Armee 10.000 Ki­lo­me­ter zu­rück, durch­quer­te 12 Pro­vin­zen, über­wand 18 Ge­birgs­zü­ge, davon fünf mit ewi­gem Eis und Schnee, über­quer­te 24 brei­te Flüs­se, meh­re­re ge­fähr­li­che Sümp­fe und be­stand dabei un­zäh­li­ge, auch ver­lust­rei­che Ge­fech­te mit den an Waf­fen und zah­len­mä­ßig an Men­schen über­le­ge­nen Kräf­ten des

Geg­ners. Die Trup­pen be­wäl­tig­ten oft täg­lich - und das meist nachts - Ge­walt­mär­sche von 40 bis 50 Ki­lo­me­tern. Die erste ent­schei­den­de Schlacht ge­wan­nen die Be­frei­ungs­kämp­fer, als sie Mitte De­zem­ber 1933 die tief­ge­staf­fel­ten Stel­lun­gen der Guo­mind­ang, die die deut­schen Mi­li­tär-Ex­per­ten für "un­über­wind­lich hiel­ten", er­folg­reich durch­bra­chen.

Beim Auf­bruch zähl­te die Armee 75.000 bis 81.000 Mann, davon 57.000 bis 61.000 Kämp­fer, die nur über etwa 42.000 Ge­weh­re und 1.000 leich­te und schwe­re Ma­schi­nen­ge­weh­re ver­füg­ten. Es man­gel­te an Klei­dung, Nah­rung und Me­di­ka­men­ten. Als der Lange Marsch am 20. Ok­to­ber 1935 im nord­west­li­chen Wa­jaub­au zu Ende ging, hat­ten 7.000 bis 8.000 Men­schen, davon 5.000 bis 6.000 Sol­da­ten, die Kämp­fe über­lebt. Das waren, wie Braun fest­hält, "alles kampf­ge­stähl­te Kader, die spä­ter im an­ti­ja­pa­ni­schen Krieg und im dar­auf­fol­gen­den Volks­be­frei­ungs­krieg das Rück­grat der Par­tei und der Armee bil­de­ten". Trotz der schwe­ren Ver­lus­te war der Lange Marsch "po­li­tisch be­trach­tet, den­noch ein Sieg der chi­ne­si­schen Roten Armee". Sie hatte "einer un­ge­heu­ren Über­macht feind­li­cher Trup­pen ge­trotzt, hatte ihre be­fes­tig­ten Stel­lun­gen und Ein­krei­sun­gen durch­bro­chen, sie Dut­zen­de Male ge­schla­gen und Hun­der­te Male aus­ma­nö­vriert", so Braun wei­ter. Im Ge­biet von Yan'an konn­te die KPCh eine neue Haupt­ba­sis der re­vo­lu­tio­nä­ren Kräf­te er­rich­ten.

Mit dem Lan­gen Marsch wur­den die Pläne Tschiang

Kai-scheks, die kom­mu­nis­ti­sche Be­frei­ungs­be­we­gung zu zer­schla­gen, ver­ei­telt. Pa­trio­ti­sche Of­fi­zie­re in sei­ner Armee, die den Bür­ger­krieg ab­lehn­ten und für eine ge­mein­sa­me Front gegen die ja­pa­ni­schen Ag­gres­so­ren ein­tra­ten, er­hiel­ten im Ge­gen­teil Auf­trieb. Unter ihrem Druck muss­te Tschiang Kai-schek 1937 den gegen die Kom­mu­nis­ten ge­führ­ten Bür­ger­krieg ein­stel­len und mit der KPCh ge­mein­sam gegen Japan kämp­fen. In die­ser Zeit ent­stand in Huan Pei bei Kan­ton eine ge­mein­sam un­ter­hal­te­ne mi­li­tä­ri­sche Lehr­an­stalt, an der so­wje­ti­sche Mi­li­tärs Of­fi­zie­re der Volks­be­frei­ungs­ar­mee wie auch Tschiang Kai-scheks aus­bil­de­ten.

Wäh­rend des Lan­gen Mar­sches wurde Otto Braun auch Zeuge der par­tei­in­ter­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen in der Füh­rung der KP China, in denen sich Mao Tse-tung mit sei­nen klein­bür­ger­li­chen An­sich­ten, in denen er die Bau­ern­mas­sen als die ent­schei­den­de Trieb­kraft der Re­vo­lu­ti­on sah, durch­setz­te.

Im Herbst 1939 kehr­te Otto Braun nach Mos­kau zu­rück. Der Zwei­te Welt­krieg hatte be­gon­nen. Braun brach­te seine reich­hal­ti­gen mi­li­tä­ri­schen Er­fah­run­gen in die Rote Armee ein. Nach dem Über­fall Hit­ler­deutsch­lands auf die UdSSR ar­bei­te­te er unter Kriegs­ge­fan­ge­nen und lehr­te an der zen­tra­len An­ti­fa-Schu­le in Kras­no­gorsk. Er über­setz­te zahl­rei­che Bü­cher aus dem Rus­si­schen, dar­un­ter Scho­lochows "Ein Men­schen­schick­sal". In der DDR wirk­te er von 1961 bis 1963 als Se­kre­tär des Schrift­stel­ler­ver­ban­des,

war da­nach als wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter des In­sti­tuts für Ge­sell­schafts­wis­sen­schaf­ten beim ZK der SED ver­ant­wort­lich für die 40-bän­di­ge Ge­samt­aus­ga­be der Werke Le­nins. Otto Braun ver­starb am 15. Au­gust 1976 in Varna in Bul­ga­ri­en.

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Quelle:
© 2024 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Dezember 2024

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