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TIERGESCHICHTEN/025: Ein Walfängerjunge geht vegan ... (SB)



Es war ein­mal vor lan­ger Zeit ...

Ein reg­ne­ri­scher Tag, an dem sich das Wet­ter bald zu einem mäch­ti­gen Sturm aus­wach­sen soll­te, ließ das Wal­fän­ger­boot hef­tig wogen. Sechs kräf­ti­ge See­leu­te, die schon man­chen Wal er­legt hat­ten, san­gen ein altes Wal­fän­ger­lied laut­hals gegen den Wind. Finn kau­er­te am Heck des Boo­tes. Seine erste Jagd, sein ers­ter Wal, end­lich durf­te er sei­nen Vater auf dem Wal­fang­boot be­glei­ten. "Pass gut auf, mein Junge, und vor allem halte dich gut fest, bleib hier hin­ten ho­cken, es wird sehr ge­fähr­lich wer­den!" An diese War­nung sei­nes Va­ters dach­te Finn, als die Wel­len hö­her­schlu­gen. Doch das soll­te noch gar nichts sein, rich­tig wild wurde die See, als ganz in ihrer Nähe ein rie­si­ger Wal auf­tauch­te und eine ge­wal­ti­ge Was­ser­fon­tä­ne

aus sei­nem Atem­loch, dem Blas­loch, oben am Kopf aus­stieß.

Die Män­ner ge­rie­ten in helle Auf­re­gung. "Der muss von ganz tief unten kom­men, dass wir nichts von ihm be­merkt haben, so ein hin­ter­häl­ti­ges Biest!", fluch­te der Har­pu­nier, der Mann, der die Har­pu­ne auf den Wal schie­ßen soll­te. Finn sah ge­bannt auf das rie­si­ge Tier, fast zwan­zig Meter maß es bis zur Fluke, sei­ner Hin­ter­flos­se. Stau­nend er­starr­te der Junge im hin­te­ren Teil des Boo­tes, sei­nen Blick fest auf das Un­ge­tüm ge­rich­tet. Da hob der Wal seine Fluke aus dem Was­ser und ließ sie au­gen­blick­lich auf die Mee­res­ober­flä­che sau­sen. Das Boot wank­te, das Was­ser schoss mit Macht über sie hin­weg und in ihr klei­nes Schiff hin­ein, die Män­ner ver­such­ten mit aller Kraft,

es am Ken­tern zu hin­dern. In die­ser auf­ge­brach­ten Lage ge­lang es dem Har­pu­nier, eine Har­pu­ne ab­zu­schie­ßen. Alle Auf­merk­sam­keit galt sei­nem Schuss. Nie­mand ach­te­te auf den Jun­gen am Heck.

In Se­kun­den­schnel­le und un­be­merkt stürz­te Finn ins Meer, ver­schlun­gen von der schäu­men­den Gischt. Kein Laut ver­ließ seine Kehle, stumm und außer Stan­de, sich zu be­we­gen, sank er in die Tiefe. End­lich öff­ne­te er die Augen, sah ein Seil, er­griff und hielt es fest. Das war der ein­zi­ge Halt und so wurde er an die Was­ser­ober­flä­che ge­zo­gen. Doch wo war sein Boot, wo waren die Män­ner, wo war sein Vater? Finn hielt das Seil und wurde fort­ge­zo­gen, immer schnel­ler. Er schluck­te sal­zi­ges Meer­was­ser, spie es aus und ent­setzt er­kann­te er, von wem er ge­zo­gen wurde.

Finn um­klam­mer­te das Seil der Har­pu­ne, die in der Seite des Wales steck­te, der schmerz­lei­dend die Flucht er­grif­fen hatte. "Oh weh", klag­te der Junge, "das sieht schlimm aus, ich muss die Har­pu­ne her­aus­zie­hen!" Ganz die Ge­fahr für sein Leben ver­ges­send, han­gel­te er sich am Seil näher an den Wal heran, bis er das Eisen der Har­pu­ne grei­fen konn­te. Die Wunde blu­te­te, doch da half nichts, er muss­te das schar­fe Eisen ent­fer­nen. Zum Glück drang die Pfeil­spit­ze nicht so tief in das Wal­fleisch, so ge­lang es Finn, sie mit einem kräf­ti­gen Ruck her­aus­zu­zie­hen. Der Wal gab einen tie­fen Schmer­zens­laut von sich.

Finn er­schrak. Das Seil sank samt Har­pu­nen­spit­ze

schlaff in die Tiefe und er fand kei­nen Halt mehr. Die Haut des Wals war rut­schig, seine Hände steif vor Kälte. Sei­nen Kör­per spür­te er kaum noch, so sehr hatte das ei­si­ge Was­ser ihn be­täubt. "Klet­ter hin­auf", hörte er ganz deut­lich. "Ich kann nicht, du bist so glibschig!", stöhn­te Finn. "Klet­ter hin­auf, du kannst es, los, los, schnell!", tönte die Stim­me über die to­sen­de See hin­weg. Tat­säch­lich, un­glaub­lich, Finn er­reich­te den Rü­cken des Wals, doch fand er keine Flos­se, an der er sich hal­ten konn­te. Hilf­los schmieg­te er sich bäuch­lings an das rie­si­ge Tier. Dann schwan­den dem Jun­gen die Sinne, der Wal mit sei­ner klei­nen Fracht auf dem Rü­cken tauch­te hinab, tie­fer und tie­fer.

Wal und Finn sind unter Wasser, der Junge schmiegt sich an den Rücken des riesigen Tieres - Buntstiftzeichnung: © 2024 by Schattenblick

Finn auf dem Rü­cken des Pott­wals
Bunt­stift­zeich­nung: © 2024 by Schat­ten­blick

Hier herrsch­te Stil­le und das Was­ser hatte sich be­ru­higt, schien fast ohne Re­gung zu sein. Als Finn seine Augen öff­ne­te, blick­te er ins Dunk­le. Er fühl­te die Haut des Wal­rü­ckens und ließ sich hin­un­ter­glei­ten. "Na, mein Junge, komm her, hier nach vorn zu mir, damit ich dich sehen kann!" Finn zö­ger­te, schwamm dann aber in Rich­tung Kopf. "Bist du aber win­zig, ein Men­schen­kind, nicht wahr?" "Ja, ja, schon, aber ich bin schon alt genug, um auf Wal­fang zu gehen", be­ton­te Finn vol­ler Stolz. "Das glau­be ich wohl, denn so

wie es aus­sieht, hast du mich ja ge­fan­gen, oder?", lach­te der Wal. Etwas ver­le­gen brumm­te Finn: "Mach dich nicht über mich lus­tig, ich weiß, dass du mich ge­ret­tet hast." "Nun denn, klei­nes Men­schen­kind, wie ist dein Name?" "Ich heiße Finn und du?" "Wale haben keine Men­schen­na­men, du kannst dir einen für mich aus­su­chen." "Gut, dann nenne ich dich Hauke, so heißt mein Lieb­ling­s­on­kel, der ist rie­sig groß und stark und schlau." Der Wal freu­te sich: "Danke, das ge­fällt mir." Finn schwamm noch etwas wei­ter um Hau­kes Kopf herum und be­wun­der­te sein ge­wal­ti­ges Maul mit den vie­len Zäh­nen. Aber er hatte gar keine Angst, es war viel­mehr so, als hätte er ge­ra­de einen ur­alten Freund ge­trof­fen, so ver­traut schien ihm die Stim­me des Wals. Der Wal zwin­ker­te ihm zu: "Nun, ich könn­te dich mit einem Happs ver­schlin­gen, so als klei­ne Vor­spei­se, was meinst du?" - "Ich, ich, nein, das ist gar nicht gut. Ich möch­te nicht ge­fres­sen wer­den, nein!" Seine Stim­me bebte, er zit­ter­te, denn mit einem Mal wuss­te er, dass er einem gro­ßen Raub­tier ge­gen­über schwamm. "Aber mich woll­test du essen, nicht wahr?", fun­kel­te Hauke ihn böse an. Finn fiel es wie Schup­pen von den Augen, der Wal hatte Recht, denn heute Mor­gen war er mit sei­nem Vater und den an­de­ren Wal­fän­gern auf­ge­bro­chen, um einen Wal zu er­le­gen. "Keine Angst, Finn, ich mag am liebs­ten Kra­ken oder Fi­sche, viel­leicht einen klei­nen Hai, aber Men­schen, nein, Men­schen fres­se ich nicht."

Er­leich­tert ließ sich Finn im Was­ser neben dem Wal trei­ben. "Komm mit, klei­ner Mensch, ich werde dir

eine ur­alte Ge­schich­te von mei­nen Vor­fah­ren er­zäh­len", for­der­te Hauke ihn auf, "klet­te­re wie­der auf mei­nen Rü­cken und halte dich gut fest, ich muss an die Ober­flä­che schwim­men, Luft holen."

"Ah, ja, ich ver­ste­he!"

Finn such­te die Mee­res­ober­flä­che, die hier viel ru­hi­ger war, nach sei­nem Vater ab. Er ent­deck­te ihn nicht. Hauke holte tief Luft und tauch­te mit dem Jun­gen auf dem Rü­cken wie­der hinab. Lang­sam schwamm der große Wal und be­gann zu er­zäh­len:

"Es ist schon viele Wal­le­ben her, da lebte in einem Land vol­ler Eis, das eine ge­wal­ti­ge Schnee­mas­se zu tra­gen hatte, eine Grup­pe Men­schen. Sie lit­ten Hun­ger und fro­ren. Es war bit­ter­kalt, schutz­los waren sie nahe daran, sich ihrem töd­li­chen Schick­sal zu er­ge­ben und den Hun­ger­tod zu ster­ben.

Das sah ein gro­ßer Wal, der Mit­leid mit den win­zi­gen Men­schen emp­fand. Er bot sich ihnen als Essen an. Die Men­schen, nahe am Ver­hun­gern, nah­men sein An­ge­bot dank­bar an. Sie aßen ihn und aus sei­ner Haut fer­tig­ten sie Zelte, aus sei­nen Kno­chen Werk­zeu­ge und mit dem Walöl ent­fach­ten sie ihre Lam­pen und klei­nen Feuer, um sich zu wär­men. Dank­bar und vol­ler See­lig­keit prie­sen sie den Wal und ver­spra­chen, nur dann einen Wal zu fan­gen, wenn sie wirk­lich Hun­ger und Not lit­ten. Die Zeit ver­ging, die Men­schen konn­ten sich ver­meh­ren und be­völ­kern nun die ganze

Erde. Doch sie waren ver­gess­lich und wur­den in den vie­len Jahr­hun­der­ten immer ver­gess­li­cher, bis sich nie­mand mehr daran er­in­ner­te, dass die Men­schen nur des­we­gen leben, weil einst ein Wal sie vor dem Hun­ger­tod ge­ret­tet hatte."

Be­trof­fen und be­schämt blick­te Finn dem Wal in die Augen: "Das wuss­te ich nicht, wirk­lich. Dann ist es eine schreck­li­che Bös­ar­tig­keit von uns, euch zu jagen."

"Nun, die Welt ist so be­schaf­fen, dass alle Le­be­we­sen sich von an­de­ren er­näh­ren, alle, da gibt es keine Aus­nah­me. Doch die Men­schen töten und jagen schon lange nicht mehr, um zu essen, die jagen aus Ver­gnü­gen oder weil sie mit Walöl, Speck und Le­ber­tran Han­del trei­ben und reich wer­den wol­len. Das ist schänd­lich!", be­en­de­te der Wal seine Rede und mus­ter­te das klei­ne Men­schen­kind: "So Finn, wie ist es? Willst du wie­der an Land zu dei­nem Vater?"

Finn über­leg­te einen Mo­ment und schüt­tel­te den Kopf: "Nein, auch will ich kein Wal­fän­ger sein, ich möch­te hier bei dir blei­ben."

"Gut, viel­leicht soll­ten wir dir dann eine an­de­re Ge­stalt geben, eine, die bes­ser für ein Leben im Meer ge­eig­net ist."

"Kann ich ein Wal wer­den?"

Der Wal zö­ger­te, dann mur­mel­te er ein paar Worte, die Finn nicht ver­stand und bevor er noch wei­ter dar­über nach­den­ken konn­te, ru­der­te er mit sei­nen Del­fin­flos­sen: "Oh", Finn fühl­te sich merk­wür­dig, "bin ich ein Wal?" "Ja, ein klei­ner, ein Del­fin, habe mir ge­dacht, das macht dir mehr Spaß, denn so kannst du wild durchs Meer flit­zen und viele Freun­de fin­den und kannst mit mir schwim­men, wann immer du willst."

Finn freu­te sich und schmieg­te sich dicht an Hau­kes gro­ßen Wal­kör­per.

"Finn, auf­wa­chen, Finn", die Mut­ter rüt­tel­te ihn sanft an der Schul­ter. End­lich er­wach­te er, rieb sich die Augen und wuss­te einen Mo­ment lang gar nicht, wo er war. "Finn, was ist mit dir? Hast du schlecht ge­träumt?"

"Ja, Mama, ich hatte einen wirk­lich merk­wür­di­gen Traum. Der war so echt, dass ich mich fühle, als hätte ich das wirk­lich er­lebt. Bin ich froh, dass ich wie­der zu Hause bin."

"Er­zähl' ihn mir spä­ter davon, denn nun eile dich. Finn, heute ist doch dein lang­ersehn­ter Tag, end­lich darfst du mit Vater auf Wal­fang­fahrt gehen, also, steh rasch auf!"

"Nein, bitte sage Vater, dass ich nicht mit­fah­ren werde. Ich will keine Wale fan­gen und töten!" Die Mut­ter blick­te ihn er­staunt an und Finn er­zähl­te ihr

sei­nen Traum. Sie nahm ihn in den Arm, dann ver­ließ sie sein Zim­mer, um dem Vater von sei­nem Ent­schluss zu be­rich­ten.

Ende


8. Dezember 2024

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 182 vom 21. Dezember 2024


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