Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


DAS BLÄTTCHEN/2006: Zurück zu Putins Plan


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
23. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2020

Zurück zu Putins Plan

von Klaus Joachim Herrmann


Sicherer als der Einkauf in einem Geschäft" werde die Stimmabgabe beim Referendum über die Ergänzungen der russischen Verfassung am 1. Juli sein, versichert die Zentrale Wahlkommission (ZIK). Die Abstimmung verlaufe kontaktlos, in vielleicht zwei bis drei Regionen auf elektronischem Wege. Briefwahl lehnt die Kommission ab. Die sei in einer Reihe anderer Staaten immer wieder von Skandalen begleitet worden, zeigt ZIK-Chefin Ella Pamfilowa auf andere. Sie räumte aber auch in Russland "sehr viele Fragen" ein. Es drohten auf dem Postweg nicht nur hygienische, sondern auch Probleme mit der öffentlichen Kontrolle. Für Skandale aller Art ist der Obrigkeit in Moskau die Abstimmung zu wichtig, darauf soll kein Schatten fallen.

Den 1. Juli legte Präsident Wladimir Putin jetzt als Datum für den Urnengang fest. Er kehrt damit zu seinem Plan zurück, der vom Einbruch des Corona-Virus sabotiert worden war. Die Situation sei unter Kontrolle und normalisiere sich, Erleichterungen stünden ins Haus, warb der Initiator und Chefautor der neuen Verfassungsartikel exakt 30 Tage vor der Abstimmung für die Fortsetzung der Diskussion. Dafür soll der Juni genügen. Die verbleibenden Wochen dürften laut Hinweisen aus dem Kreml vor allem für die Werbung in Massenmedien, im öffentlichen Raum und mit einem "Akzent auf das Internet" genutzt werden.

Agitation könnte durchaus nottun. Lew Gudkow, Chef des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum, sieht vor allem bei jungen Menschen und den Moskauern nach Umfragen im April derzeit mehr Ablehnung als Zustimmung. Doch die befragten Bürger bekundeten fast zur Hälfte ihre Bereitschaft, mit Ja zu stimmen. Ein Drittel möchte mit Nein votieren. Aus dem 22 Prozent starken Lager der Unentschlossenen dürften sich einige ganz sicher noch für ein Ja entscheiden. Denn von denen, die unbedingt zur Abstimmung gehen wollen, können die meisten als Unterstützer des Putinschen Vorhabens gelten. Viele von jenen, die es ablehnen, werden den Wahllokalen wohl fern bleiben.

Derweil die außerhalb des Parlaments wirkende "nicht systemische" Opposition noch grübelt, ob sie zu Boykott oder Nein-Stimmen aufrufen soll, sind die Weichen längst gestellt. Beide Kammern des Parlaments und das Verfassungsgericht haben die Ampeln auf Grün geschaltet. An einer endgültigen Bestätigung durch das Wahlvolk zweifelt niemand ernstlich. Der Gottesbezug dürfte ebenso bestätigt werden wie die Möglichkeit für zwei weitere Präsidentschaften Putins.

Der Fokus wird im Inland gleichwohl auf erstmalige soziale Garantien für Mindestlohn und Mindestrente sowie auf mehr Einfluss des Parlaments bei einer anhaltend starken Präsidialmacht gerichtet. Letztere bleibe nötig, um das größte Land der Erde zusammenzuhalten, die großen sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Aufgaben zu lösen, wie Putin immer wieder drängt. Dabei ist Russland für ihn "nicht einfach nur ein Land, sondern wahrhaftig eine eigene Zivilisation". Wolle man diese Zivilisation retten, müsse man sich auf die Hochtechnologie und die Entwicklung solcher Bereiche wie künstliche Intelligenz, autonom gesteuerte Technik oder Genetik konzentrieren.

Doch erst einmal ist die Regierung des von seiner Covid-19-Erkrankung genesenen Premiers Michail Mischustin genötigt, einen Plan zur Wiederherstellung der Wirtschaft, der Sicherung von Beschäftigung und Einkommen der Bevölkerung nach der Corona-Krise vorzulegen. Es geht um die "Rehabilitierung der Opfer der Depression", wie das Wirtschaftsblatt Kommersant mit einiger Chuzpe in Anspielung auf düsterste Sowjetgeschichte titelte. Auf umgerechnet bis 40 Milliarden Euro schätzen selbst vorsichtige Experten die Kosten für beabsichtigte Hilfsmaßnahmen.

Dabei steht Russland unter Ölpreisschock. Weltweiter Bedarf und damit Nachfrage für den Exportschlager sind eingebrochen wie noch nie. Auf traditionell um die 40 Prozent wird der Anteil des Verkaufs von Öl und Gas an den russischen Staatseinnahmen geschätzt. Hinzu kommen die Folgen anhaltender westlicher Sanktionen und eigener Gegenmaßnahmen. Die immer wieder beschworene Modernisierung der Industrie gelang schon bislang nicht in dem notwendigen und geforderten Maße. Allein die Rückkehr zum Status vor der Krise wird schwierig genug. Erwartet werden Einbrüche des Bruttoinlandsprodukts zwischen 3,5 und 8 Prozent. Die Folgen treffen wieder einmal eine traditionell zwar duldsame, aber auch immer wieder vom lediglich verheißenen Fortschritt enttäuschte Bevölkerung. Auch deshalb setzt Putin auf eine nicht weiter verzögerte Abstimmung über sein Verfassungsprojekt - bevor die Krise hart durchschlägt und die Stimmung schlechter wird.

Als westliche Medien unter Hinweis auf das Meinungsforschungsinstitut WZIOM von einem Absturz des Vertrauenswertes von Wladimir Putin im April auf 27 Prozent und damit den niedrigsten Wert seit 14 Jahren berichteten, reagierte Moskau bereits höchst empfindlich und beklagte eine Fälschung. Institutschef Waleri Fjodorow verwies auf eine Änderung in der Methodik und nach der neuen Methode real weiterhin zwischen 67 und 68 Prozent Vertrauen in den Kremlchef.

Diese Zahlen bestätigte auch das Konkurrenzunternehmen Lewada, kritisierte aber eine unglückliche Entscheidung der Kollegen. Sie hätte - wie stets bei solchen Vorgängen - den Statistikern geschadet. Die genössen ohnehin nicht das größte Vertrauen. Das gilt seinerseits wiederum namentlich für den Kreml und dessen Verhältnis zu Lewada-Umfragen. Putins Sprecher Dmitri Peskow ließ laut Wirtschaftsportal RBK wissen: Lewada wendet verschiedene Methoden an, wir sind nicht geneigt, den Resultaten vollständig zu vertrauen. Immerhin wurden dem Präsidenten Zufriedenheitswerte von immerhin 59 Prozent gegen 33 bescheinigt.

Auf Plakaten wirbt derweil Putin quasi im Straßenwahlkampf persönlich für die Vorherrschaft der Verfassung Russlands "in unserem Rechtsraum". Die vornehmlich innere Angelegenheit präsentiert er mit Foto und Unterschrift gleichermaßen als eine Kampfansage nach außen. Die Siegesparade im 75. Jahr des Triumphes über den deutschen Faschismus im Zweiten Weltkrieg wird am 24. Juni nachgeholt, der Marsch des Unsterblichen Regiments am 26. Juli. Sie rahmen die Abstimmung über den "souveränen Kurs der Entwicklung" Russlands ein. Das Ja und die Teilnahme jedes Bürgers an der Volksabstimmung seien dafür notwendig: "Unser Land - unsere Regeln."

Der gedanklich-historische Bogen ist absichtsvoll geschlagen. Niemand habe Russland in der Vergangenheit unterwerfen können, auch künftig werde es seinen eigenen selbstbestimmten Weg gehen und jedem fremden Diktat trotzen. "Wenn ein internationaler Vertrag, welcher Art auch immer, der Verfassung zuwiderläuft, darf er nicht unterzeichnet werden", gab Putin frühzeitig vor.

Unterstrichen wird das nun sogar ein zweites Mal mit der weiß-blau-roten Trikolore am Himmel über Moskau. Gezeichnet werden die Streifen der Nationalflagge zum Abschluss der Luftparade. Die gab es bereits am 9. Mai, doch war sie nur aus Fenstern und von Balkonen zu sehen. Corona zwang die Hauptstädter in die Wohnungen und die Parade der 14.000 Menschen und 375 Panzer, Raketen und anderer Fahrzeuge und Waffensysteme vom Roten Platz.

"Die Risiken der Epidemie sind noch außerordentlich groß", räumte Putin Mitte April ein. Das Verteidigungsministerium allerdings hatte sich zuvor kämpferisch gezeigt. Es werde mehrmals täglich Fieber gemessen und desinfiziert, erklärte ein Sprecher. "Bei allen Teilnehmern brennt der Wunsch, an dem historischen Ereignis teilzunehmen." Ein paar Tage später meldeten sich 31 Hörer der Nachimow-Marinehochschule krank - positiv getestet auf das Corona-Virus. Für den 14. Juni ist nun das nächste Paradetraining im nächtlichen Moskau angesetzt.

Die Pandemie rückte die Feierlichkeiten zum Siegesjubiläum in den Hintergrund und zwang zur Verschiebung. Doch das neue Datum sei ohne jeden Zweifel richtig gewählt, an den 24. Juni als Tag der Siegesparade von 1945 "erinnern wir uns für alle Zeit mit Stolz", schrieb die Zeitung Iswestija. "Das war - ohne Übertreibung und unnötige Pathetik - die Parade der Helden." Angeführt wurde sie zu Pferde von den Marschällen Georgi Schukow und Konstantin Rokossowski, den Schluss bildete eine symbolische Geste historischer Dimension: Vom faschistischen deutschen Gegner erbeutete Fahnen und Standarten wurden vor dem Leninmausoleum auf das Pflaster geworfen. 75 Jahre später sollen am 24. Juni um 22 Uhr Moskauer Zeit die Sieger erneut mit einem Salut geehrt werden.

*

Quelle:
Das Blättchen Nr. 12/2020 vom 8. Juni 2020, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang