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GRASWURZELREVOLUTION/1263: Von der Demokratisierung der Städte zur Sozialen Ökologie - Teil 2


graswurzelrevolution 369, Mai 2012
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

TRANSNATIONALES
Von der Demokratisierung der Städte zur Sozialen Ökologie

Interview mit Dimitri Roussopoulos (Black Rose Verlag, Montréal) - Teil 2. Fortsetzung aus GWR 368

Interview: Wolfgang Haug



Dimitri Roussopoulos ist Verleger von Black Rose Books in Kanada. (1) Mit ihm führte Wolfgang Haug für die GWR ein Interview, das wir in zwei Teilen veröffentlichen. Teil 1 erschien im April in der Graswurzelrevolution Nr. 368.


WOLFGANG HAUG: Du hast deutlich gemacht, dass für Dich die Idee des "participatory budget" wesentlich ist. Gibt es bereits Städte, die sich dieser Idee weiter annehmen?

DIMITRI ROUSSOPOULOS: Die Idee des "participatory budget" wird in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Es gibt keine einheitliche Vorgehensweise, aber ein politisches Ziel: die Menschen entscheiden über die wirtschaftlichen Prioritäten ihrer Städte. Im Moment verfolgen Gruppen in 220 Städten, verteilt über die ganze Welt, diesen Ansatz. Die Herausforderung besteht momentan darin, was für ein radikaler Demokratisierungsprozess, was für ökologische Projekte in diesen Städten entwickelt werden können und sollten. Das sehe ich als Aufgabe für unsere Generation.

WOLFGANG HAUG: Kannst Du Deine Verlagsarbeit bei Black Rose Books konkret mit diesen neuen Aufgaben in Beziehung bringen?

DIMITRI ROUSSOPOULOS: Ja, wir publizierten ein Buch über "Participatory Democracy", mit dem Untertitel "Demokratisiert die Demokratie", in dem über die Rechte der Stadt, über das "participatory budget", über konkrete Experimente derzeit in verschiedenen Städten berichtet wird. Wir veröffentlichten das von Jai Sen und Peter Waterman herausgegebene Buch "World Social Forum. Challenging Empires" [etwa: Weltsozialforum: Die Herausforderung der herrschenden Regierungen], das die Möglichkeiten des Weltsozialforums untersucht. (2) Die Beiträge sind von verschiedenen AutorInnen, darunter auch drei Anarchisten. Die Verlagsarbeit reflektiert die politische Arbeit und umgekehrt.

WOLFGANG HAUG: Du hast von 220 Städten gesprochen, die ähnliche Prozesse begonnen haben, gibt es bereits eine Zusammenarbeit unter diesen Städten?

DIMITRI ROUSSOPOULOS: Die wichtige Frage ist ja, wie können wir mehr Gelegenheiten schaffen, damit Menschen zusammenarbeiten. Das "World Urban Forum" ein großes Treffen, das von der UN-Abteilung für Wohnen organisiert wird, bringt städtische AktivistInnen aus der ganzen Welt zusammen. Beim letzten dieser Treffen in Rio de Janeiro war ich anwesend. Es stand unter dem Motto "Das Recht der Stadt", ursprünglich angestoßen von dem radikalen französischen Soziologen Henri Lefebvre. (3)

Es gibt Übereinstimmungen mit der Sozialen Ökologie Murray Bookchins; Unterschiede gibt es im Herangehen, in den analytischen Werkzeugen, aber auch er geht zurück auf den Bürgergedanken in der Antike und über die Klassenanalyse hinaus. Die Verantwortlichkeit der Menschen soll über ihren Arbeitsplatz hinausreichen auf das gesamte Umfeld, in dem sie leben. Leben und Arbeiten stehen in enger Beziehung, sind Teil eines Ganzen.

WOLFGANG HAUG: Warum siehst Du die Stadt, besser die Demokratisierung der Stadt, so zentral als eine Perspektive für die politische Arbeit?

DIMITRI ROUSSOPOULOS: Sehen wir nach Europa. Es ist stark bevölkert und verstädtert. In Europa haben sich schon Ansätze entwickelt. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte leben seit 2007‍ ‍weltweit die Mehrheit der Menschen in Städten. Das menschliche Leben wird mehr und mehr städtisch geprägt. Das hat bestimmte Vorteile, weil es Menschen erlaubt, in einem gemeinsamen Raum zu leben und zu arbeiten und Entscheidungen über diesen gemeinsamen Raum und die Qualität ihres Lebens zu treffen, und nicht zu trennen zwischen dem Arbeitsplatz und dem Wohnort. Die städtische Sphäre bietet mehr Gleichheit zwischen Männern und Frauen, mehr Gelegenheit zur Bildung und erlaubt mehr Individualität. Aber die Verstädterung bringt auch Umweltprobleme, wirtschaftliche Probleme und mangelhafte politische Beteiligung. Deshalb sehe ich die zunehmende Verstädterung nicht als eine Lösung, sondern als Potential für die Lösung der Sozialen Frage. Die Verstädterung stellt eine Gelegenheit für uns dar: wie können Städte, wie können Radikale in Städten effektiver werden? Wie können sie besser zusammenarbeiten, um Städte demokratischer und ökologischer zu machen?

Im stark bevölkerten Europa sind durch die EU die Nationalstaaten weniger wichtig geworden. Es gibt eine größere Bedeutung der Regionen und der Städte. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass Barcelona zum Ideengeber für die City-Charta für Menschenrechte wurde, die inzwischen von vielen Städten übernommen wurde. Auch in Deutschland haben einzelne Städte diese Charta übernommen. Dies sehe ich als eine wichtige Basis für soziale Bewegungen, wichtige und interessante Kampagnen anzustoßen. In Deutschland gibt es eine wichtige Anti-Atomkraft-Bewegung und eine relevante Antifa-Bewegung, eine der zuletzt wichtigsten Bewegungen fand mit dem Bahnprojekt Stuttgart 21 hier in Stuttgart statt. Dies belegen die Tausende, die im Widerstand gegen diese dümmliche Ausbaumaßnahme aktiv wurden. Eine Ausbaumaßnahme, die den Interessen der wirtschaftlichen Führungselite und der Bundesregierung folgt, die aber nicht auf die Interessen der Menschen eingeht, die direkt von diesem Ausbau betroffen sind. Der Widerstand ist offensichtlich der wichtigste städtische Kampf, der seit vielen Jahren in Deutschland stattgefunden hat. Und die Mobilisierung, die stattgefunden hat in dieser Auseinandersetzung, hat eine Auswirkung auf die Mobilisierung in anderen Städten, hat Auswirkungen auf die Region, auf das ganze Land und auf Europa.

In Zukunft müssen wir mehr darauf achten, welche Auseinandersetzungspunkte sich in den Städten entwickeln.

Ich komme nochmals auf die UN und Rio de Janeiro zurück: auf diesem Treffen wurden viele dieser Kämpfe diskutiert. Parallel zu diesem offiziellen UN-Forum organisierte die Linke in Rio ein Soziales Forum der Stadt, an dem es keine Teilnehmerbeschränkung gab, so dass Hunderte an solchen Diskussionen teilnehmen konnten.

WOLFGANG HAUG: Welche Ansatzpunkte gibt es, diese Entwicklungen aus libertärer Sicht voranzutreiben und zu beeinflussen? Gibt es noch Aktive, die die Theorie der Sozialen Ökologie nach der 1999 gescheiterten zweiten Konferenz in Vermont für fähig halten, Antworten auf viele Probleme zu geben?

DIMITRI ROUSSOPOULOS: Die heutigen AnhängerInnen der Sozialen Ökologie diskutieren wie alles neu belebt werden kann, sie überlegen derzeit wie und wo ein europäisches Institut für Soziale Ökologie in Europa geschaffen werden kann. Mit dem Ziel in ganz Europa inhaltliche Diskussionen voranzubringen und Netzwerke aufzubauen. Und mit den Zentren in Kanada und den USA zusammenzuwirken. Wir eruieren derzeit, ob dies in Griechenland möglich wird, weil es dort einige Aktive für die Soziale Ökologie gibt.

Die Beteiligten an dem ersten Treffen veröffentlichen bereits Inhalte, die Leute aus Oslo haben eine Zeitschrift Communalism, die Leute in Genf eine gute Website, die Griechen haben beides, das sehr gute Magazin heißt Eutopia. Langsam werden die ersten Netzwerke aufgebaut.

WOLFGANG HAUG: Noch nicht dabei sind die Kurden. Ich habe aber erfahren, dass Kurden aus dem Umfeld der PKK die Thesen Murray Bookchins aufgegriffen haben. Da diese Entwicklung in Deutschland noch wenig bekannt ist, solltest Du dazu noch etwas sagen.

DIMITRI ROUSSOPOULOS: Ja, ich erinnere an die regionalen Foren im Weltsozialforum. Eine der interessantesten Regionalforen war das aus der Region Mesopotamien. Es fand in der Osttürkei in der Nähe der syrischen Grenze statt. Dort organisierten die Kurden aus der Türkei und dem Irak ein spezielles Forum und luden dazu Janet Biehl in die Türkei ein, um die Ideen Bookchins zu diskutieren. Die Kurden sind sehr an der Sozialen Ökologie interessiert und wollen eine dezentralisierte, demokratische und ökologische Gesellschaft aufbauen. Auf unserer Black Rose Website findet sich eine interessante Analyse von Janet Biehl über diese Konferenz. (4)

WOLFGANG HAUG: Siehst Du einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Bedeutung der Stadt für eine basisdemokratische Bewegung und den Revolutionen und Protesten weltweit, sei es im arabischen Raum, in den USA oder Europa?

DIMITRI ROUSSOPOULOS: Was seit dem letzten Jahr sehr interessant zu beobachten ist: die zahlreichen sozialen Aufstände gegen die herrschenden Systeme, in Tunesien, in Ägypten, alle begannen damit, dass in den Städten Tunis, Alexandria, Kairo von Tausenden die öffentlichen Plätze besetzt wurden, um dort den politischen und wirtschaftlichen Wechsel einzufordern. Und in Europa, die Proteste in Madrid seit dem 15. Mai 2011, in Barcelona und 50 weiteren Städten, in Athen, überall fanden einerseits traditionelle Demonstrationen statt, aber daneben wurden ebenfalls überall die öffentlichen Plätze der Stadt besetzt und zum Ausgangspunkt eines neuen demokratischen Protests gemacht, mit Versammlungen, die einen basisdemokratischen Beteiligungsprozess aller ermöglichten. Kennzeichnend sind die offenen Debatten, die Ablehnung von Parteien, die direkte Demokratie und das Ausschwärmen in die Stadtteile, um mehr Menschen zu mobilisieren. Alles unter dem Motto, "wir sind da, wir haben Versammlungen einberufen, wir besetzen die öffentlichen Plätze, wir verlangen Respekt und Beachtung."

Und weil die Tiefe der wirtschaftlichen Krise ins Zentrum rückte, begann in den USA ab dem Sommer 2011 mit der Occupy Wallstreet eine neue Bewegung gegen die Finanzindustrie. Es begann mit einem Artikel von Kalle Lasn in der konsumkritischen Zeitschrift Adbusters in Vancouver Mitte Juli. Im Editorial wurde gesagt, dass diese wirtschaftliche Krise, die die Reichen reicher macht, der Mittelklasse die Luft abdrückt und die die Armen ärmer macht, damit beantwortet werden soll, dass wir die Wallstreet besetzen. (5)

WOLFGANG HAUG: Adbusters schlug den 17. September, den Verfassungstag der USA dazu vor und mit der Hilfe der Internetgruppe Anonymus sprang die Idee von Ort zu Ort.

DIMITRI ROUSSOPOULOS: Und die Wallstreet wurde besetzt, Los Angeles wurde besetzt und viele Städte in den USA hatten ihr Occupation Movement. Auch in Städten der USA, in denen es normalerweise keine Protestbewegung gab, in denen Protest nicht der Teil der politischen Kultur war, gab es unter dem Slogan "Wir sind viele, sie sind wenige; sie sind 1%, wir sind 99%" ein Occupation Movement. Dies setzte sich wie ein Lauffeuer fort, auch zurück nach Kanada, es gab Besetzungsaktionen in Vancouver, Calgary, Edmonton, Toronto und in Montreal. Tausende waren involviert und stellten klar, dass der öffentliche Raum ihr Raum ist, dass sie hier gemeinsam Entscheidungsprozesse in Versammlungen voranbringen, dass sie eine gewaltfreie Bewegung sind. Die gesellschaftliche und politische Absicht dieser Bewegung ist noch nicht vollständig. Es ist eine unfertige städtische Revolution und möglicherweise wird sie im Frühjahr 2012 neu aufleben.

Anmerkung:

Die im Interview angesprochene Gründung eines Instituts für Soziale Ökologie in Griechenland hat stattgefunden. Das Transnational Institute of Social Ecology (TISE) wurde im Januar gestartet und soll sich 2012 langsam entwickeln, um im März 2013 - vermutlich auf Kreta - eine erste Konferenz und Trainingstreffen abzuhalten. Dimitri schrieb: "Das TISE wird sich der Theorie und Praxis des libertären Kommunalismus verschreiben; es wird Weiterbildungen, Trainings, Forschungen und Veröffentlichungen zu konkreter Praxis in den Städten anbieten, wie man Projekte aufzieht und eine soziale Bewegung für eine basisdemokratische und ökologische Stadt voranbringt. Das Institut hat ein Büro in Athen, die Adresse und Mailadresse:
Transnational Institute for Social Ecology
Post Office Box 62113, Chalandri, Athens 15210
Greece: tisegreece@gmail.com

Anmerkungen:

(1)‍ ‍Black Rose publiziert seit über 40 Jahren Bücher u.a. zum Anarchismus und zu sozialen Bewegungen. Zu den AutorInnen zählen u.a. George Woodcock, Sam Dolgoff, Noam Chomsky, Edward Herman, Janet Biehl und Murray Bookchin. Von den Klassikern wurde u.a. Peter Kropotkin verlegt. Einen Schwerpunkt der Verlagsarbeit bilden die Veröffentlichungen zu "urban issues", in denen u.a. Dimitri Roussopoulos Beiträge veröffentlichte, um die Stadt zu einem öffentlichen Platz zu machen. Bücher wie "City and Radical Social Change" oder "Public Place" haben den Boden vorbereitet, dessen Saat 2011‍ ‍vielerorts aufging.

(2)‍ ‍Siehe: Ein wahres Fest des Widerstands. Die Blockade der WTO in Seattle, Artikel von Vivien Sharples, in: GWR 245, Januar 2000,
www.graswurzel.net/245/wto.shtml

(3)‍ ‍Anm. W.H.: vgl. z.B. Die Revolution der Städte, übers. v. Ulrike Roeckl, List, München 1972, Nachdruck Hain, Frankfurt a.M. 1990, Neuausgabe: Berlin: b_books, 2003

(4)‍ ‍www.blackrosebooks.net

(5)‍ ‍www.vancourier.com/Adbusters+sparks+WALL+STREET+protest/5466332/story.html#ixzz1nKZjnGAN

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Quelle:
graswurzelrevolution, 41. Jahrgang, Nr. 369, Mai 2012, S. 10
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2012