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GRASWURZELREVOLUTION/1401: Nordkurdistan - Friede, Freude, Repression


graswurzelrevolution 389, Mai 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Friede, Freude, Repression

Bericht von einer Delegationsreise nach Nordkurdistan



Über ein Jahr ist es her, dass Abdullah Öcalan, der seit 1999 inhaftierte politische Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zum Waffenstillstand aufgerufen hat. Seitdem gab es keine Kampftoten. "Ein großer Fortschritt", sagen die einen, "trügerische Stille", die anderen. Auf einer Delegationsreise, organisiert vom kurdischen Studierendenverband yxk e.V., wurde den Teilnehmenden die Ausgangslage für Frieden in Nordkurdistan deutlich. Neben Erfolgen der politischen Arbeit blieben auch Kontroversen innerhalb der kurdischen Bewegung nicht verborgen.


Ein frischer Wind und zwei gelangweilt dreinblickende Soldaten erwarten die Fluggäste auf dem Rollfeld in Amed (türkisch: Dyacute;arbakyacute;r). Polizeiwagen, die wie Schiffshörner tröten, scheinen hier nur noch mit der Verkehrsregelung beschäftigt zu sein.

Das diesjährige Newroz-Fest (1), das ein historisches Angriffsziel auf die Kurd*innen darstellt, feierten erstmals mehrere Millionen Menschen ohne sichtbare türkische Militär- oder Polizeipräsenz. Überall bunt gekleidete Menschen, die ausgelassen tanzen. Nach 30 Jahren Krieg sehen das viele als Fortschritt. So zum Beispiel die Gruppe der (kurdischen und türkischen) Friedensmütter, deren oberste Forderung lautet: "Stopp aller militärischer Aktionen" und erst an zweiter Stelle die kurdische Kernforderung des Rechts auf Bildung in den Muttersprachen.

Andere sind eher enttäuscht, dass Erdogans Regierung immer noch keine wirklichen Veränderungen herbeigeführt hat. Sie fordern die Entlassung politischer Gefangener, verbesserte Haftbedingungen für den auf Imrali isolierten Öcalan, sowie die Abschaffung des sogenannten Terrorparagraphen.

Der Befehlshaber der PKK (2), Murat Karayyacute;lan verkündete, wenn in den Wochen nach der Wahl vom 31. März 2014 keine substantiellen Schritte in diese Richtung erkennbar würden, müsse die PKK den bewaffneten Kampf fortsetzen. Laut Experten wird das jedoch nicht passieren, so lange Öcalan keine Kursänderung vorgibt.

Während Ministerpräsident Erdogan seit einem Jahr beteuert, dass er an einer friedlichen Lösung interessiert sei, existieren in der Türkei nach wie vor Gruppen, die die PKK militärisch vernichten wollen. Dies gilt zum Beispiel für Fetullah Gülen (3) und seine Unterstützer*innen.

Selbst in den Landesteilen mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit berichten die Aktivist*innen von einer Ausbreitung von Gülens Nachhilfeschulen, über die er Unterstützer*innen rekrutiert. Die kurdische Bewegung hält mit selbst organisierten Kulturzentren dagegen, in denen Musikunterricht, Theater- oder Kurdisch-Sprachkurse angeboten werden.

Doch der türkische Staat reagiert auch darauf und zwar mit unauffälligeren Formen der Repression: Eine offensichtlichere Repression stellt die Anklage gegen einen anderen Gastgeber der Delegation dar: Er wurde vor kurzem aufgrund eines Demo-Transparents vor Gericht gestellt, auf dem stand: "Kurdistan - Grab aller Faschisten". Statt wie seine 19 Komiliton*innen "in die Berge", das heißt zur PKK, zu gehen, hat er immer noch die Hoffnung, dass es wegen des derzeitigen Friedensprozesses nicht zu einem Urteil kommt. Wenn doch, bedeutete das 3 Jahre im Typ-F-Gefängnis. Dies sind Haftanstalten speziell für politische Gefangene. Sie sind dafür bekannt, dass dort grausame Foltermethoden angewandt werden. "Jetzt seid nicht so betroffen, das ist hier ganz normal", sagt er zu den erschütterten Besucher*innen.

Im nächsten Moment deutet er freudig auf die Wahlplakate am Straßenrand. Sogar einige von der AKP (4) seien erstmals in kurdischer Sprache verfasst. Auch wenn er kein Vertrauen in den türkischen Staat habe, sein Widerstandsgeist und Optimismus sind ungebrochen.

"Seit 1997 sind durchschnittlich 200 Menschen pro Jahr in türkischen Gefängnissen gestorben", berichtet Ahemt Aygün, Vorsitzender der Gefangenen-Solidaritäts-Organisation "Tuyad-Der". Unter anderem deshalb seien in Dersim die geplanten Rätestrukturen noch nicht so weit ausgebaut, wie eigentlich im demokratischen Konföderalismus, der Ideologie Öcalans, vorgesehen. "Nach den Wahlen wird das alles anders", verspricht Mehmet Ali Bul, Dersims Kandidat der BDP (5). Doch wieso klappt der Aufbau von Parallelstrukturen in anderen Städten wie Wan oder Colemerg viel besser als in Dersim? Zeit für Fragen blieb bei diesem Treffen nicht. Ein laxer Politiker-Händedruck und dann ging es weiter mit dem Wahlkampf.

Dieser bestand daraus, dass man mit den Politiker*innen von Haus zu Haus zieht, Infomaterial verteilt und dabei möglichst die "blonden Ausländer" den Wahlspruch "oylar BDPye" aufsagen. Bei aller Solidarität mit der Bewegung bezweifelten einige Delegationsmitglieder, inwieweit Berufspolitiker bereit sind, ihre Macht zugunsten der Basis abzugeben.

Eine erfolgreichere Umsetzung der basisdemokratischen, ökologischen und antisexistischen Theorie in die Praxis ist in der Stadt Wan zu beobachten. Neben Stadtteilräten existiert eine eigenständige Justizkommission, die von der Bevölkerung gestellt wird. Vor kurzem wurde ein riesiges Frauenhaus aus dem Boden gestampft und ein landwirtschaftliches Frauenkollektiv soll die ökonomische Unabhängigkeit vom Staat als auch von den eigenen Männern fördern.

Die Gleichberechtigung der Frauen wird überall betont und findet in einer 40%-Quote, als auch in einem Co-Vorsitzenden-System der Partei ihre formale Umsetzung. Doch Studierende berichten, dass gerade politisch aktive Frauen gezielt von Militärs verfolgt und vergewaltigt werden. Statt Rückhalt zu geben, stigmatisieren Dorfgemeinschaften diese Frauen anschließend oft immer noch als "unrein" oder "ehrlos". Darauf reagiert die Bewegung verstärkt mit Bildungsprogrammen, die sich immer mehr auch an Männer richten. Zur Stärkung der Rechte von LGBTQIA-Menschen (6) fehlten in der kurdischen Ideologie selbst noch die theoretischen Grundlagen, bemängeln Aktivist*innen aus Istanbul.

Veränderungen, unter anderem in diese Richtung, erhoffen sich viele von der HDP (7). Die 2012 gegründete Partei besteht aus 47 verschiedenen linken kurdischen und türkischen Gruppen und agiert als Partnerpartei der BDP im Westen des Landes. Ihr Vorstand besteht auch aus LGBT-Menschen, sowie unterschiedlichen ethnischen, religiösen Gruppen und Vertreter*innen der Gezi-Bewegung.

Die BDP soll bis zu den Parlamentswahlen 2015 vollständig in die HDP integriert werden, um so türkeiweit eine breitere linke Basis zu schaffen. Einige türkische Anarchist*innen bezeichnen die HDP hingegen nur als ein kurzfristiges Wahlbündnis, das nach den Kommunalwahlen wieder verschwinden werde, da es genauso wenig verändern könne, wie alle anderen Parteien.


Im Hinblick auf den Friedensprozess bleibt trotz der aktuellen Zusammenarheit linker Gruppen zu bedenken:

Vor den Wahlen war Erdogans Unterstützung wegen Korruptionsskandalen und anderen Pannen zu gering, um weitere Schritte auf die Kurd*innen zuzugehen. Auch die Gefahr nationalistischer Aufschreie, z.B.. von der extrem rechten Partei MHP müssen in diesem Friedensprozess berücksichtigt werden, so ein Journalist aus Istanbul. Er spricht von einer "stillen Übereinkunft zwischen BDP und AKP". Ein Dilemma: Während türkische Linke spätestens seit der Gezi-Proteste alles daran setzen Erdogan loszuwerden, hat die kurdische Bewegung von den realistischen Alternativen, nämlich der nationalistischen CHP oder faschistischen MHP noch viel weniger zu erwarten. Gleichzeitig verraten geleakte Dokumente, dass Erdogan das türkische Militär in den Syrienkrieg involvieren möchte, was die kurdische Autonomie auf beiden Seiten der Grenze gefährdet.

Angesichts einer derart aufgeheizten Stimmung, erwies sich der letzte Programmpunkt der Delegationsreise, die Beobachtung der Kommunalwahlen als besonders heikel. Überall in Amed waren Polizeipanzer und Wasserwerfer postiert.

Die Delegationsgruppe wurde den gesamten Tag von Zivilpolizisten verfolgt. Im ersten Wahllokal entriss ein staatlicher Wahlhelfer einem BDP-Wähler den Stimmzettel, da er "einen Fehler gemacht" habe. Eine Frau, die offensichtlich das erste Mal wählte, wurde von einem Wahlhelfer der AKP in die Kabine begleitet "um ihr beim Ausfüllen zu helfen".

In einem zweiten Wahllokal begrüßte das Sondereinsatzkommando den kurdischen Begleiter der Gruppe direkt mit seinem vollen Namen. Nach zwei Minuten betraten die Polizisten entgegen strengstem Verbot den Abstimmungsraum um die Delegation unter physischen Drohgebärden heraus zu befördern. Zeit um die offizielle Erlaubnis vorzuzeigen, blieb nicht. Aus Rücksicht auf die persönliche Sicherheit des kurdischen Genossen musste die Beobachtung beendet werden.


Fazit

Das Fazit der Delegation fällt also ambivalent aus: Andauernde Repressionen und durchwachsene Friedensperspektiven. Da bieten auch parlamentarische Parteien oder eine repräsentative "Demokratie" keinen Ausweg. Die größte Hoffnung der kurdischen Bevölkerung liegt nach wie vor in Selbstorganisation, Gemeinschaft und Widerstandsgeist.

Lotte


Fußnoten:

(1) kurdisches Frühlings- und Freiheitsfest

(2) Die PKK ist die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistan) und wurde 1978 von Abdullah Öcalan gegründet, der ihr Vorsitzender ist. Ziel der ursprünglich marxistisch-leninistischen PKK war die Errichtung eines unabhängigen, vereinten, sozialistischen Kurdistans. Seit 2004 hat ein Paradigmenwechsel weg von der Forderung eines eigenen Nationalstaates hin zu einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus stattgefunden.

(3) Die Gemeinde (Cemaat) des in den USA lebenden Imam Fetullah Gülen ist die einflussreichste islamische Strömung in der Türkei. Zur islamisch-nationalistischen, neoliberal ausgerichteten Gülen-Bewegung gehört ein weltweites Netzwerk von sogenannten Bildungseinrichtungen, Medien und Wirtschaftsunternehmen. Anfangs noch als Partner Erdogans haben Gülens Anhänger nach und nach die türkische Polizei und Justiz unterwandert, bis im Dezember 2013 ein öffentlicher Machtkampf zwischen Erdogan und Gülen begann. Ein Beispiel für dessen Versuche den Frieden zu torpedieren, stellen die KCK-Prozesse nach den Kommunalwahlen im Jahr 2009 dar. Dank einflussreicher Posten Gülen-naher Justizbeamter kam es damals zu massenhaften Verhaftungen angeblicher Mitglieder der kurdischen Untergrundorganisation, sowie teils lebenslängliche Haftstrafen.

(4) AKP bedeutet Adalet ve Kalkyacute;nma Partisi, dt: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung

(5) Die BDP (Baryacute;s ve Demokrasi Partisi, dt: Partei des Friedens und der Demokratie) bildet den legalen politischen Arm der kurdischen Bewegung.

(6) LGBTQIA steht für Lesbian, Gay, Bi Transgender, Queer, Intersex und Asexual

(7) HDP (Halklaryacute;n Demokratik Partisi) bedeutet "Demokratische Partei der Völker"


Anmerkung:

Zum Thema Türkei siehe auch Seite 2 und 14

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 389, Mai 2014, S. 13
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2014