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GRASWURZELREVOLUTION/1527: Kein Sommermärchen! - Massive Zunahme von Anschlägen auf Asylunterkünfte


graswurzelrevolution 405, Januar 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Kein Sommermärchen!
Deutsche Zustände: Mehr als 700 rassistische Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2015


Die Situation ist derzeit scheinbar paradox. Die eine Seite ist: Immer mehr Geflüchtete haben sich den Weg nach Europa und insbesondere auch nach Deutschland erkämpft. Damit haben sie die Mauern der Festung Europa in Frage gestellt und grundlegend erschüttert. Diese Kraft und Entschlossenheit der Menschen, unter Gefahr von Leib und Leben Grenzen zu durchbrechen, macht deutlich, dass es für sie (derzeit) kein Zurück in die Länder gibt, aus denen sie geflohen sind. Gleichwohl Menschen immer schon Wege gefunden haben. die Festung Europa zu überwinden, stellt die Anzahl der Geflüchteten seit Sommer 2015 eine neue Dimension dar.


Weltoffenes Deutschland?

Auch die offizielle Politik Deutschlands, Merkels viel zitiertes Credo "Wir schaffen das!", steht dazu zunächst nicht im Widerspruch und wird international hoch gelobt. Die italienische Zeitung "La Repubblica" schrieb Anfang September 2015 gar, Merkel sei die moralische Führerin Europas (1).

Gleichwohl gibt es an der Linie Merkels nicht zuletzt innerhalb der CDU und CSU sowie aus anderen europäischen Ländern massive Kritik und es wird für eine deutlich restriktive Position geworben wie beispielsweise die Einführung von Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Oder es wird, wie das Beispiel Ungarn zeigt, gleich ein Grenzzaun errichtet - eine Maßnahme, die auch Politiker_innen aus Bayern an Teilen der deutschen Grenze gut fanden. Aber die Kanzlerin, so scheint es, bleibt standhaft bei ihrer Linie und spricht sich immer wieder gegen derartige Begrenzungen aus.

Willkommensinitiativen sprießen seit Monaten wie Pilze aus dem Boden und fügen sich gut in das Merkelsche Credo: Überall in Deutschland, so könnte man meinen, engagieren sich Menschen für Geflüchtete, so als wäre es schon immer so gewesen und das Selbstverständlichste von der Welt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem in der Presse nicht über Helfer_innen und deren Engagement berichtet wird. Deutschland, so scheint es, ist weltoffener denn je und hat aus seiner Geschichte gelernt: "In der Flüchtlingskrise erlebt Deutschland sein neues Sommermärchen", so ein, Untertitel der Wochenzeitung "Die Zeit" vom 17. September 2015.

In diesem Sinne sagte Merkel auch in einer Pressekonferenz am 7. September, die Deutschen könnten stolz auf ihr Land sein. Eine weitere nationale Erzählung vom weltoffenen Deutschland?

Höchstzahl an Anschlägen gegen Asylunterkünfte seit Jahren

Das Bild des weltoffenen, humanen und hilfsbereiten Deutschlands, das seine Grenzen für Geflüchtete geöffnet hat, stellt die eine Seite dar.

Über die andere Seite ist hingegen viel weniger zu erfahren. Bereits im vierten Jahr in Folge gibt es eine massive Zunahme von Anschlägen auf Asylunterkünfte in Deutschland. Werden allein die - freilich unvollständigen und daher mit großer Vorsicht zu lesenden - Statistiken des Bundeskriminalamtes aus den letzten drei Jahren betrachtet, dann ist der massive Anstieg offensichtlich: Waren es 2012 mindestens 24 Attacken auf im Bau oder bereits im Betrieb befindliche Asylunterkünfte (2), so sind es 2013 bereits 58. Im Jahre 2014 wurden mindestens 138 gezählt. Am 29.11.2015 berichtete die "Tagesschau": "Mehr als 700 Angriffe auf Flüchtlingsheime gab es bereits in diesem Jahr: Die Täter stammen oft aus der Mitte der Gesellschaft, waren nie zuvor straffällig."(3)

Wie reagiert die Bundespolitik darauf?

Sicher, die Anschläge werden offiziell verurteilt, aber die diskursive Stille fällt auf. Es dauerte 2015 beispielsweise tagelang, bis sich Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Gabriel im sächsischen Heidenau im August sehen ließen, nachdem der dortige CDU-Bürgermeister - wohl in seiner Verzweiflung über die dortigen pogromartigen rassistischen Zustände - öffentlich sagte, er hoffe auf ein Kommen Merkels. Und was sagen die politischen Repräsentant_innen, die im Herbst 2014 noch Verständnis für Pegida, für die "enttäuschten BürgerInnen" äußerten (wie u.a. de Maiziere), zu den zahlreichen Anschlägen auf Asylunterkünfte und Angriffen auf Flüchtlinge, "die tagtäglich passieren? Nichts! Es handelt sich dabei offensichtlich um die rassistische Normalität in diesem Lande, die keiner weiteren Thematisierung bedarf.

Asylgesetzesverschärfungen im Akkord

Parallel zu der manifesten rassistischen Gewalt gegen Geflüchtete werden auf politischer Ebene Asylgesetzesverschärfungen im Halbjahrestakt beschlossen. Zur Erinnerung: Im September 2014 wurden Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie Mazedonien kurzerhand mit Beschluss von Bundestag und Bundesrat zu sogenannten sicheren Herkunftsstaaten erklärt.

Länder, in denen bekanntlich Angehörige der Roma rassistisch diskriminiert werden und teils kaum eine Perspektive auf ein menschenwürdiges Leben haben. Im Juli 2015 beschloss der Bundestag eine Verschärfung bei Abschiebungen: So können nun Flüchtlinge leichter abgeschoben werden, wenn sie sich strafbar gemacht haben oder kein Aufenthaltsrecht haben. Zudem können Flüchtlinge leichter in Abschiebehaft genommen werden, wenn sie beispielsweise mit sogenannten Schleusern einreisen oder unrichtige Angaben über ihre Identität machen.

Im Oktober 2015 beschlossen Bundestag und Bundesrat eine weitere Verschärfung: Nun werden auch die Länder Albanien, das Kosovo und Montenegro als sogenannte sichere Herkunftsländer definiert, d.h. Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern werden sofort abgelehnt. Zudem sind Asylsuchende in den Erstaufnahmeeinrichtungen jetzt bis zu sechs Monate - anstatt wie bisher zu drei Monate zu einem Aufenthalt gezwungen und unterliegen dort auch der Residenzpflicht. In diesem Zeitraum werden sie größtenteils Sachleistungen anstelle von Geldleistungen bekommen.

Weitere Entrechtungen sind bereits in der Diskussion und werden mit Sicherheit kommen: So wird derzeit u.a. über beschleunigte Asylverfahren für bestimmte Personengruppen, schnellere Abschiebungen sowie über die Verschärfung der Residenzpflicht diskutiert.

Staatliches Versagen bei der Versorgung von Geflüchteten

Wie gut staatliche Strukturen bei der Verschärfung von Asylgesetzen funktionieren, so kläglich versagen sie bei der Versorgung von Geflüchteten. Und das in einem Land, das sich als so fortschrittlich und weit entwickelt ansieht.

Exemplarisch zeigt sich dies vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin (LaGeSo), das für die Registrierung von Geflüchteten in Berlin zuständig ist. Seit Sommer 2015 herrscht dort das absolute Chaos: Menschenmassen warten teilweise unter freiem Himmel und oft wochenlang darauf, dass sie einen Termin bekommen, um registriert zu werden, denn dies ist Voraussetzung für Unterkunft und Verpflegung. Allein durch den Einsatz von Hunderten ehrenamtlich, arbeitender Menschen des Vereins "Moabit hilft!" wird die lebenswichtige und oft lebensrettende Versorgung für hunderte Flüchtlinge, die täglich kommen, gewährleistet und das behördliche Versagen kompensiert: Ausgabe von Decken und Kleidung für Kinder und Erwachsene, die in Regen und Kälte schon nachts vor dem Gelände warten oder im Park schlafen müssen; Bereitstellung und Verteilung von Essen und Getränken; Organisation von Sozial- und Beratungstätigkeiten usw. Offizielle medizinische Versorgung gibt es dort nicht - sechs Ärzt_innen, vier Krankenschwestern und vier Hebammen kümmern sich unbezahlt und selbstorganisiert um bis zu 200 Menschen täglich.

Eine Sprecherin des Vereins schildert die Situation Ende Oktober 2015 gegenüber dem Berliner Tagesspiegel folgendermaßen (4): Mehrere Flüchtlinge seien bereits in den Warteschlangen zusammengebrochen, drei Frauen hätten Fehlgeburten erlitten und zahlreiche kranke Menschen seien unter den Wartenden, die an Lungenentzündung, Hepatitis, Krätze, offenen Ekzemen oder an einem Bandscheibenvorfall litten. Die Kinder höre man aus drei Metern Entfernung bei Kälte mit den Zähnen klappern. Nachdem Anfang Oktober ein kleines Kind entführt wurde, das Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, sei zudem offensichtlich die Sicherheit nicht mehr gewährleistet.

Der Präsident der Ärztekammer Berlin, Günther Jonitz, sagte auf einer Kundgebung von "Moabit hilft!" am 17. Oktober zu diesen Zuständen, dass durch bürokratische Schikanen und unterlassene medizinische Versorgung das LaGeSo den Tod von Menschen in Kauf nehme.(5)

Auch die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge steht für das Versagen staatlicher Strukturen. Wie der Presseerklärung der Antirassistischen Initiative vom 20. November 2015 zu entnehmen ist (6), sind derzeit mindestens 1.700 Kinder und Jugendliche in Berlin sich selbst überlassen und hangeln sich ohne Schutz und ohne Vormund - und damit klar rechtswidrig - von Unterkunft zu Unterkunft; zudem werden ohne gesetzliche Grundlage nur unter 15jährige als Minderjährige behandelt. Zur Klärung der rechtlichen Situation (Clearingverfahren), was Voraussetzung für die Einleitung entsprechender Maßnahmen durch das Jugendamt ist, werden derzeit Termine nicht vor Oktober 2016 vergeben. Mit anderen Worten sind minderjährige Flüchtlinge sich fast ein Jahr lang selbst überlassen - mit dem Wissen der zuständigen Ämter!

Die beengten und katastrophalen Verhältnisse in Flüchtlingsnotunterkünften vielerorts in Deutschland, wie beispielsweise mangelnde Duschmöglichkeiten, keine Privatsphäre, keine Waschmöglichkeiten, Dixi-Klos, keine Möglichkeit, kranke Menschen zu behandeln usw. sind gleichermaßen Ausdruck einer eklatanten Missachtung von Gesetzen. Wären die Betroffenen weiße deutsche Bürger_innen, dann hätten wohl schon viele Politiker_innen und Behördenleiter_innen hierzulande zurücktreten und möglicherweise gar mit Anzeigen wegen des Verstoßes gegen Gesetze rechnen müssen.

Ausbau der Festung Europa

Die hier skizzierten Facetten stellen das Bild eines weltoffenen und humanen Deutschlands massiv in Frage. Richtigerweise ist die vielbeschworene Willkommenskultur, die in Wahrheit treffender als Helfer_innenkultur bezeichnet werden müsste, noch lange keine Bleiberechtskultur. Die Politik des Staates ist in erster Linie als Abschreckungskultur zu charakterisieren.

Doch Deutschland wird perspektivisch von seinem neuen Image als Aufnahmeland für Flüchtlinge aus aller Welt deutlich profitieren. Abgesehen von der Wirtschaft, die nach billigen Arbeitskräften schreit, zudem gut am Bau oder Ausbau von Flüchtlingsunterkünften verdient, wird es nicht wohl auch der moralische Profit sein, der Deutschland stärkt - nicht zuletzt innerhalb der EU und damit gleichermaßen im Kontext der europäischen Flüchtlingspolitik. So kann Deutschland stets auf seine humane Haltung verweisen, sich plötzlich für eine "gerechtere" Aufteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Länder einsetzen und gleichzeitig Gespräche mit der Türkei führen, wie deren Grenzen nach Europa besser abgeriegelt und kontrolliert werden könnten.

Insofern ist das eingangs beschriebene Paradox in Wahrheit keines: Ziel der staatlichen Politik ist und bleibt die Kontrolle der EU-Außengrenzen, um damit bestimmen zu können, wer in die EU darf und "wer nicht, wer "nützlich" ist und wer nicht. Der Ausbau der Festung Europa steht weiter auf der politischen Agenda.


Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative


Anmerkungen:

1) www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_75287708/fluechtlingspolitik-deutschland-erntet-lob-und-verfluchungen.html

2) Die Zählung des Bundeskriminalamtes, die ausschließlich auf Weiterleitungen der Landeskriminalämter basiert, umfasst dabei ganz verschiedene "Ereignisse": Sogenannte Hakenkreuzschmierereien, das Bewerfen mit Gegenständen, das Grölen von rassistischen Parolen, die Ankündigung, eine Asylunterkunft anzugreifen, bis hin zu Brandanschlägen werden darunter subsumiert. Insofern sind unter Attacken/Angriffe im Folgenden qualitativ sehr verschiedene "Vorkommnisse" zu verstehen. Die folgenden Zahlen beziehen sich auf Antworten der Bundesregierung zu mittlerweile quartalsweise gestellten Anfragen der Bundestagsfraktion "DIE LINKE".

3) Brandanschläge auf Flüchtlingsheime. Die Täter aus der Mitte, tagesschau, 29.11.2015, 17 Uhr,
www.tagesschau.de/inland/brandanschlaege-fluechtlingsheime-101.html

4) www.tagesspiegel.de/themen/reportage/chaos-am-lageso-ein-unsicherer-ort-mitten-in-berlin/12451914.htm

5) http://politik-im-spiegel.de/berlin-flchtlingshelfer-werfen-senat-sabotage-vor

6) www.ari-berlin.org

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 405, Januar 2016, S. 11
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2016

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