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GRASWURZELREVOLUTION/1599: Spanien 36 heute - Interview mit der Infogruppe Bankrott, 3. Teil


graswurzelrevolution 412, Oktober 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Spanien 36 heute
Ein Interview mit fünf Mitgliedern der Infogruppe Bankrott zu Effekten und Gegenwart der Spanischen Revolution 80 Jahre danach (Teil 3)

Die Fragen stellte Oskar Lubin


Die Infogruppe Bankrott besteht aus FreundInnen. die von 1992 bis in die 2000er Jahre in Münster den Infoladen Bankrott betrieben und dabei auch Zeitzeugen der Spanischen Revolution kennengelernt haben. Teil 1 des Interviews erschien im Sommer in der GWR 410, Teil 2 im September in der GWR 411.
(GWR-Red.)


5. Politische Konsequenzen 1

GWR: Mit den Mujeres Libres gibt es in der Geschichte des Anarchismus eine große emanzipatorische Frauenorganisation. Sieht man sich den Gegenwartsanarchismus an, bekommt man den Eindruck, als handele es sich um einen sehr männlich geprägten Bewegungs- und Theoriezusammenhang. An diesem Gespräch sind nur Männer beteiligt, die Frauen aus unserem Kreis haben sich ausgeklinkt, weil sie sich (im Wesentlichen) nicht für kompetent hielten.

In der seit Frühjahr 2015 erscheinenden "Ne Znam - Zeitschrift für Anarchismusforschung" sind die ersten beiden Ausgaben ohne Beteiligung von Frauen erschienen, selbst die besprochenen Bücher waren alle (!) von Männern verfasst. Ich halte das nicht "nur" für ein Repräsentationsproblem, sondern für ein Problem der Herrschaft. Es gibt eine lange und habituell verankerte Tradition der geschlechtlichen Zuordnung zur öffentlichen bzw. privaten Sphäre, die hier ohne weiteres reproduziert wird. Obwohl schon, könnte man sagen, die Mujeres Libres daran gearbeitet hatten, diese Zuschreibungen zu bekämpfen und die daraus resultierende geschlechtliche Arbeitsteilung aufzubrechen. Was machen wir falsch?

Bernd: Das ist eine gute Frage, die ich nur bedingt beantworten kann. Ich denke, dass sich Viele Anarchafeministinnen eher in feministischen Frauengruppen organisieren als in gemischten anarchistischen Kollektiven, auch wenn letztere sich, wie die Infogruppe Bankrott, als "pro-feministisch" definieren. Das wäre eine Frage an die Bankrott-Frauen, die aber leider keine Lust hatten, sich an diesem E-Mail-Interview zu beteiligen.

Baxi: Ein wesentlicher Fehler scheint mir zu sein, dass die bis heute durchaus wirkmächtige Tradition des anarchistischen Anti-Feminismus nicht wirklich ernst genommen wird. Dabei meine ich gar nicht solche wohl tatsächlich eher im Aussterben begriffene Positionen, die während des Bürgerkriegs aber noch durchaus virulent waren und die, mit Pierre-Joseph Proudhon im Gepäck, Frauen aggressiv wieder an den Herd zurückscheuchen wollten. Ich denke eher an andere, vielleicht noch schädlichere anti-feministische Positionen innerhalb der libertären Bewegungen), die die Meinung vertraten (und oft immer noch vertreten), es sei für Anarchistinnen und Anarchisten gar nicht nötig, sich gesondert mit der Unterdrückung von Frauen, auch und gerade in den eigenen Reihen, zu beschäftigen. Dem Intersektionalitätsansatz zu Folge ist es ja so, dass jeder, der nur ein einziges Unterdrückungsverhältnis fokussiert, alle anderen in seiner und der Wahrnehmung anderer zu tilgen droht.

Das war nun bei Spaniens Anarchistinnen und Anarchisten ganz gewiss so. Sogar bei den Mujeres Libres. Der Staat war der große Unterdrücker. Alles andere waren, wenn man so will, "Nebenkriegsschauplätze". Es brauchte ein gründlich verändertes gesellschaftliches Klima, damit die überlebenden Genossinnen der Mujeres Libres in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen, nicht länger das alte Märchen von der "Geschlechtergleichheit" im spanischen Anarchismus zu erzählen, das sie bis dahin hartnäckig verteidigt hatten, sondern in Erwägung zogen, das "Geschlechtergleichheit" sich vielleicht nicht unbedingt darin manifestiert, dass junge Genossinnen nach politischen Bildungsveranstaltungen der CNT unentgeltlich das Lokal putzen mussten, während ihnen die gleichaltrigen männlichen Genossen dabei zusahen. Wie kommt es eigentlich, dass in anarchistischen Kreisen bis heute kaum bekannt ist, dass in vielen von Anarchistinnen und Anarchisten kollektivierten Betrieben die krassen Lohnungleichheiten zwischen Männern und Frauen aus der vorrevolutionären Zeit beibehalten wurden? Bei gleicher Arbeit, wohlgemerkt. Wer sich die Klagen der Mujeres Libres über diesen empörenden Zustand anschaut, der muss fast zwangsläufig den Eindruck bekommen: Er war ihnen peinlich. Sie fürchteten ganz ernsthaft, zu Verräterinnen an ihrer eigenen Bewegung zu werden, auch wenn vor allem Lucia Sánchez Saornil die begütigende Version des libertären Anti-Feminismus genauso scharf kritisierte wie die proudhonistischen Frauenschläger unter ihren Genossen.

Das Problem lässt sich, heute wie damals, aber ganz sicher auch nicht dadurch lösen, dass man ein paar Alibi-Frauen in anarchistische Gruppen einlädt oder für Zeitschriftenthemen die Quote einführt. Nicht, weil das nicht unter Umständen sinnvoll wäre, sondern weil es einen falschen, irreführenden Eindruck erweckt: Denn auch heute sind die internationalen anarchistischen Bewegungen - die, die sich als solche bezeichnen zumindest - sehr stark männerdominiert. Die Kritik von Frauen an diesem Umstand ist noch immer genau so bitter wie in den 30er Jahren in Spanien. Ein Anarchismus ohne Feminismus ist aber gar nichts. Oder, noch schlimmer: ein bräsiges Deckmäntelchen für die gleiche, alte Unterdrückung Es wäre interessant zu überprüfen, ob mehr Frauen sich an weniger ideologisierten Bewegungen (wie etwa Occupy!) beteiligen. Dann wäre die etwas ruppige These des (sehr Anarchismus-freundlichen) kanadischen Politologen Francis Dupuis-Déri nämlich tatsächlich wahr, dass es der anarchistische Anti-Feminismus sei, der dazu führe, dass es bis heute auf anarchistischen Großveranstaltungen (Protestcamps u.a.) zu sexistischem Verhalten oder sogar Übergriffen auf Frauen komme und dass solche Ereignisse allenfalls halbherzig bekämpft würden. In jedem Fall wäre am persönlichen Verhalten der Männer und dessen politischer Legitimierung innerhalb der anarchistischen Bewegung(en) ganz gewiss noch einiges zu tun. Dies sei mit Dank und Bewunderung all jenen Männern und Frauen gegenüber gesagt, die sich längst bemühen, alltägliche Unterdrückungsverhältnisse bewusst zu machen und sie handelnd abzubauen. Einfach ist das mit Sicherheit nicht.

Bewi: Du hast die Frage möglicherweise selber beantwortet: Die Struktur der Herrschaft fließt durch uns durch, sie ist in gewissem Sinne habituell und das überwindet man nicht einfach so, auch nicht, wenn man einer politischen oder sozialen Idee anhängt, die sich diese Überwindung auf die schwarz-roten Fahnen geschrieben hat. Man(n) muss aufpassen, dass man das nicht als faule Ausrede benutzt.

Ein anderes Beispiel: Ich habe gerade ein Buch mit Thesen über den Heavy Metal gelesen und den Vorwurf "Heavy Metal ist sexistisch" tut der Autor mit den Worten ab: "Ja, das ist er, denn die Gesellschaft ist sexistisch." Das ist vielleicht eine Erklärung, darf aber keine Rechtfertigung sein - mit der Begründung könnte man. ja jede emanzipatorische Tätigkeit aufgeben.

Das Schwierige daran ist, dass man da ständig dran arbeiten muss, man kann das Patriarchat nicht einfach mal schnell umstürzen. Das macht es langwierig, das ist Arbeit, die man vielleicht auch gerne mal vergisst. Aus purer Angst vor den Mühen oder Faulheit erfahrt der Kampf gegen patriarchale Herrschaft, der auch immer ein Kampf für die Freiheit der männlich bestimmten Menschen ist, herbe Rückschläge oder Stillstände. Es ist auch schlicht bequemer, Artikel zu schreiben - selbst wenn sie pro-feministisch sind -, als an sich selber zu arbeiten.

Aber man kann die Frage auch anders stellen: Was machen denn "die Frauen", während "die Männer" Artikel oder Bücher schreiben? Vielleicht ja einfach was Wesentlicheres. Vielleicht stehen sie einfach mehr mit beiden Füßen im Hier und Jetzt.

Vielleicht brauchen sie keine historischen Mythen wie den Spanischen Bürgerkrieg, um an konkreten Punkten aktiv zu werden. Vielleicht machen sie gerade sehr konkrete Aktionen, während die Männer "Geschichte(n) schreiben". Historisch war das durchaus so, nicht nur im Fall der Mujeres Libres: Sehr viele quasi mythologische Revolten und Revolutionen fanden unter maßgeblicher Beteiligung von Frauen statt, aber da die Männer die Geschichte geschrieben haben, tauchen sie dort nicht auf.

Petz: Die Frage der Differenzen, wie sie theoretisch zu konzipieren sind und wie politisch mit ihnen umzugehen ist, ist im Anarchismus unterbeleuchtet. Da sehe ich in der Praxis, also in anarchistischen Projekten von den Landkommunen bis zu queer-feministischen Festivals, viel mehr und viel weiter gehende Reaktionen auf diese Probleme. Insofern ließe sich hoffen, dass, wie so oft im Anarchismus, hier die Praxis endlich die Theorie auf Vordermann bringt (Vordermensch klänge jetzt ein bisschen albern...)!


5. Politische Konsequenzen 2

GWR: Der Historiker Walther L. Bernecker sagt den Anarchistlnnen in seinem Standardwerk zur Spanischen Revolution einen gewissen "Mangel an Realitätssinn"(16) nach. Der habe sich darin geäußert, dass man die soziale Revolution als jederzeit abrufbar betrachtet habe, in vollem Vertrauen auf die rebellische Haltung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Mit dem "unvermeidlichen Kampf gegen die Widersacher"(17) revolutionärer Veränderung habe man sich hingegen sträflich wenig beschäftigt. Aus meiner Sicht ist das bis heute eine Schwäche des Anarchismus, davon auszugehen, dass die Anarchie im Grunde überall lauert und nur einen Anlass braucht, um zum Vorschein zu kommen. Man muss ja gar nicht bis zum Nationalsozialismus zurückschauen, sondern es reicht, auf die Erfolge des Neoliberalismus in den letzten dreißig Jahren und den Zuspruch zu verweisen, den rassistische Parteien wie die AfD gegenwärtig aus den Reihen der "einfachen Leute" erhalten, um an ihren proanarchistischen Haltungen zu zweifeln. Die "Widersacher" des libertären Kommunismus, würde ich sagen, machen in den westlichen Gegenwartsgesellschaften rund 99 Prozent der Bevölkerung aus. Zeit für Strategiefragen, oder wie seht ihr das?

Baxi: Ich sehe das ähnlich. Gerade der Boom des Sogenannten anthropologischen Anarchismus, mit David Graeber verdientermaßen an der Spitze, hat ja in einem wunderlich anachronistischen "Turn" die alte Vorstellung wieder salonfähig werden lassen, die Anarchie sei im Grunde mit der Menschheit auf der Erde erschienen und schlummere wie ein sanfter, lebensleuchtender Keim in jedem einzelnen. Aber so faszinierend und wichtig es auch ist, die historischen Mythen der herrschenden politischen Ordnung zu entkräften - etwa die Behauptung, die Substanz der Demokratie sei die attische Polis mit ihren Mehrheitsentscheidungen, während unterschiedlichste Konsensverfahren die Menschheitskultur viel stärker geprägt haben und die Volksversammlung von Athen viel eher eine kulturhistorische Ausnahme war - muss man sich doch fragen: Wenn wirklich jeder Mensch, sagen wir, grundsätzlich "anarchismusfähig" ist ... warum sieht dann die Welt so aus, wie sie aussieht?

Die Position des "Es geht schon alles von alleine ..." wird gerade in Spanien den anarchistischen Bewegungen der 20er und 30er Jahre zwar zu Unrecht unterstellt. Ohne Diskussionen, verschiedenste Pläne und Vorbereitungen hätte die Soziale Revolution wohl überhaupt keine Erfolge haben können.

Das Beispiel der "Luz y Fuerza" ist ja nur eines von vielen. Aber einen gewissen Organisations- und Wirklichkeitsekel der Anarchistinnen und Anarchisten kann man sicher nicht leugnen. Die Biologisierung politischer, sozialer und kultureller Prozesse hat dabei ganz sicher eine Rolle gespielt.

Die Anarchismusforscherin Ruth Kinna hat jüngst noch einmal am Beispiel Kropotkins darauf hingewiesen, dass diese Biologisierung der eigenen politischen Ziele nicht einfach nur ein Trick der Anarchisten war, um in der Öffentlichkeit ihrer Zeit ernst genommen zu werden.(18) Die anarchistischen Geisteseliten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren felsenfest davon überzeugt, dass die Natur auf ihrer Seite stehe, dass es also eine natürliche Gesellschaftsordnung gebe, die durch "Repression und Propagandalügen verschüttet worden sei. Und wer wollte schon eine Planungskommission ins Leben rufen, um dem Frühling zu sagen, dass er kommen soll?

Allerdings sollte man es mit dieser Kritik, gerade mit Blick auf heutige Zeiten, auch nicht übertreiben. Denn Strategiefragen werden gestellt, und konkrete Ansätze zur Veränderung wurden und werden entwickelt - gerade der von mir so bös' geschmähte Murray Bookchin hat sich ja um eine solche Konkretisierung der Utopie durchaus verdient gemacht. Sonst wäre es wohl schwierig, ihn in Rojava als Grundlage eines neuen Gesellschaftsmodells zu deklarieren. Wobei ich damit wahrlich nicht dem neu aufgekommenen Trend das Wort reden will, ferne und wenig verstandene Regionen mit der Verwirklichung der eigenen politischen Träume zu betrauen.

Im Grunde geschah aber in weiten Teilen der Welt während des Spanischen Bürgerkriegs nichts anderes. Veränderungen müssen immer aus ihrer Zeit, Gesellschaft und Kultur heraus verstanden werden. Wenn man vor der eigenen Haustür auch mal gern welche hätte, dann muss man sie selber machen. Inspirieren aber darf man sich schon an anderer Leuts Revolutionen. Auch am Spanischen Bürgerkrieg. Womit wir wieder beim Anfang wären.

"Die Anarchisten besaßen im Grunde genommen noch immer die Kontrolle über Katalonien und die Revolution war weiter, in vollem Gange. ... Wenn man gerade aus England kam, hatte der Anblick von Barcelona etwas ... Überwältigendes. Zum ersten Mal war ich in einer Stadt, in der die arbeitende Klasse im Sattel saß. Die Arbeiter hatten sich praktisch jedes größeren Gebäudes bemächtigt und es mit roten Fahnen oder der rot und schwarzen Fahne der Anarchisten behängt."
(George Orwell: Mein Katalonien, 1937)


Daniel: Das sehe ich nicht ganz so düster. Ich denke, das mit den 99% trifft nur zu, wenn man sich "Anarchismus" und "libertärer Kommunismus" aufs Panier schreibt und dann auszieht, die Leute zu überzeugen, dass diese Worte doch eigentlich etwas Gutes bedeuten.

Es geht aber nicht um Worte, sondern um Ideen. Z.B. die Fähigkeit der Menschen zu Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe. Ich denke, dass weit mehr Menschen diesen Ideen aufgeschlossen gegenüber stehen. Insbesondere wenn man nicht über ihre Vorzüge diskutiert, sondern sie in die Praxis umsetzt und beweist, dass herrschaftsfreie Organisationsformen besser und effektiver sind als hierarchische. Was auch bedeutet, dass sich unsere Ansätze in Wirklichkeit als nicht praktikabel erweisen können. Ein positives Beispiel hierfür ist für mich die Vergemeinschaftung von Wohnraum im Mietshäusersyndikat, die auch Nicht-AnarchistInnen anspricht.

Die Schwäche, von der Du sprichst, hängt meiner Meinung nach mit einem romantischen und religiösen Verständnis von Revolution zusammen. Die Vorstellung einer letzten großen Schlacht, nach der das goldene Zeitalter anbricht. Das ist der jüngste Tag im Christentum.

Die Faszination der Spanischen Revolution hat mit diesem Bild zu tun. Die letzte große Abrechnung, a las barricadas, schwarz-rote Fahnen. Das ist aber keine politische Strategie, sondern eine Kompensation für die Verzweiflung, die einen angesichts der gesellschaftlichen Misere packen kann. Opium für den Revolutionär, könnte man sagen.

Ich stelle mir eine Veränderung unserer Gesellschaft eher so vor, dass sich im Laufe der Zeit bestimmte, positive Ansätze durchsetzen. Etwa so wie die Frauenbewegung das Geschlechterverhältnis verändert hat. Natürlich nicht so wie erhofft, es gibt Rückschritte und Perversionen - etwa Frauen beim Militär in Namen der Gleichberechtigung -, aber nichtsdestotrotz haben sich Dinge verbessert, die nur schwer rückgängig zu machen sind.

Die besten Chancen haben meiner Meinung nach Veränderungen, die unmerklich vor sich gehen und deshalb keine Repression der herrschenden Klasse hervorrufen. Ich denke hierbei vor allem an eine Veränderung der Art und Weise, wie Menschen mit Konflikten umgehen. Anarchismus ist für mich kein Dogma, sondern eine Idee, nach der ich steuere. Es bedeutet zum Beispiel nicht, dass ich jede Zusammenarbeit mit dem Staat ablehne, weil der Staat böse ist, sondern dass ich für Herrschafts- und Machtstrukturen ein offenes Auge habe.

Petz: Die Vorstellung, die "einfachen Leute" seien irgendwie prädestiniert für aufrührerisches Handeln, gehört ebenso überdacht wie die, Armut und Not als absolute Tatsachen (und nicht in Relation betrachtet) lösten irgendwelche positiven Effekte aus. Auch die Haltung, Staat und Kapital könnten nur bestehen, weil im Zweifel deren Schergen mit dem Knüppel bereit stehen, halte ich für fatal. Das lässt die ganzen Fragen des Einverständnisses, der Beteiligung an Privilegien, der Bequemlichkeit von Routinen (im Gegensatz zur Anstrengung von Veränderung) außer acht. Gustav Landauer hat solche Haltungen des stillen Mitmachens mal die "Psychologie des Höflings"(19) genannt, daran sollten wir theoretisch anknüpfen.

Bewi: Es ist immer Zeit für Strategiefragen! Aber ja, die Zahl der libertär Gesonnenen im deutschspachigen Gebiet ist sicher nicht mal fünfstellig und eine dreiköpfige anarchistische Gruppe hält sich schon für eine soziale Bewegung. Trotzdem glaube ich nicht, dass die Widersacher des libertären Kommunismus 99 Prozent der Bevölkerung ausmachen, ich würde das eher auf zwei Drittel der Gesellschaft beziehen. Was aber auch nicht heißt, dass das restliche Drittel anarchistisch ist, aber es hat emanzipative Ziele, ist also die Menge an möglichen Bündnispartnern, wenn man nicht all zu verbissen ist.

Ich wohne in dem Wahlkreis in Baden-Württemberg, der als einer von zwei der AfD ein Direktmandat beschert hat. Der zweite liegt in Pforzheim und wählt traditionell rechts.

Mannheim-Nord dagegen ist traditionell 'rot'. Hier haben nun offenbar genau die Menschen AfD gewählt, gegen die die AfD Politik macht. Der klassische Marxismus bis zur Frankfurter Schule würde nun sicherlich etwas von 'notwendig falschem Bewusstsein' faseln. Sinnvoller ist es vielleicht, über enttäuschte Hoffnungen nachzudenken, über Leerstellen, die linke Parteien und Bewegungen hinterlassen haben. Die Menschen glauben nicht mehr, dass linke Parteien oder Bewegungen noch in ihrem Interesse handeln können oder wollen. Da geht es bei weitem nicht nur um die sogenannte "Flüchtlingskrise", sondern da geht es um einen langfristigen Wandel der Gesellschaft.

In Frankreich sind es dieselben Menschen, die in den Betrieben die Listen der kommunistischen CGT in die Betriebsräte wählen und den Front National in die Parlamente. Würde man sich die betriebliche Politik hier anschauen, käme man wahrscheinlich zu ähnlichen Ergebnissen.

Da fehlt eine Vermittlungsebene zwischen betrieblicher Realität oder auch Alltag und der "Politik" auf der anderen Seite. Und wir machen uns m.E. etwas vor, wenn wir glauben, mit "Politik" wären nur die Parteien und Parlamente gemeint. Linke Gruppen auf Demos oder Plena repräsentieren für die Masse der Menschen genauso den Begriff "Politik". Die alte Stadtguerilla-Theorie spricht davon, dass die Stadtgueriller@s in der Bevölkerung schwimmen müssen wie ein Fisch im Wasser. Das konnte eben z.B. auch die CNT in der spanischen Bevölkerung. Dieses Schwimmen haben wir verlernt. Und wer nicht schwimmen kann, geht unter.

Bernd: Natürlich sind wir Anarchistinnen und Anarchisten heute noch eine winzige Minderheit. Na und? Wir können trotzdem uns, andere Menschen und die Welt verändern. Und das sollten wir tun. Ich erzähle immer gerne die Geschichte meines Freundes Osman Murat Ülke aus Izmir.

Ossi ist ein türkischer Kriegsdienstverweigerer. Der gewaltfreie Anarchist musste wegen seiner Verweigerung mehr als zwei Jahre mit dem faschistischen Mörder Mehmet Ball in einer Zelle sitzen. Vorgestellt wurde Ossi dem Grauen Wolf und den anderen Mit-Gefangenen vom Schließer als "gefährlicher Terrorist und Anarchist. Behandelt den schlecht".

Einige Jahre später wurde Mehmet Ball aufgrund einer Amnestie entlassen. Nun sollte er seinen Kriegsdienst leisten. Er weigerte sich - sinngemäß - mit dem Hinweis: "Ich habe schon einen Menschen getötet. Ich will nie wieder auf Menschen schießen, schon gar nicht auf Befehl."

Aus dem Faschisten war nach vielen Diskussionen mit dem Anarchisten tatsächlich ein Pazifist geworden. Da sage noch jemand, Menschen können sich nicht ändern. Sie können. Es lebe die freie Kommunikation! Und, um auf Bewis letzten Satz zu sprechen zu kommen: Wir können sehr wohl schwimmen. Auf zum nächsten Baggersee! Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft!


Literaturhinweis:

Infogruppe Bankrott (Hg.): Occupy Anarchy! Libertäre Interventionen in eine neue Bewegung. edition assemblage, Münster 2012


Anmerkungen:

(12) Thomas Kleinspehn und Gottfried Mergner (Hg.): Mythen des Spanischen Bürgerkriegs, Trotzdem Verlag, Grafenau 1999, 2. Aufl.

(13) Hermann L. Gremliza: "Vorwurf. In: Elefanten Press/Fritz Teppich (Hg.): Spaniens Himmel. Volksfront und Internationale Brigaden gegen den Faschismus 1936-1939. Elefantenpress, Berlin 1996, Reprint, S. 6.

(14) Murray Bookchin: "Anarchismus und Macht während der Spanischen Revolution". (2002). In: ders.: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken. Münster: Unrast Verlag 2015, S. 153-168. hier S. 165.

(15) Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977, S. 212.

(16) Walther L. Bernecker: Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien 1936-1939. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2006, S. 43.

(17) Ebd.

(18) Ruth Kinna: Kropotkin: Reviewing the Classical Anarchist Tradition. Edinburgh University Press 2016.

(19) Gustav Landauer: Die Revolution (1907). Hg.: Siegbert Wolf. Unrast Verlag. Münster 2003. S.92.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. auf diesen Seiten aus: the ex, the spanish revolution 1936, Amsterdam 1986

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 412, Oktober 2016, S. 8 - 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2016

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