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GRASWURZELREVOLUTION/1720: Frauenkampf in Westtrakien


graswurzelrevolution 425, Januar 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Frauenkampf in Westthrakien
Die Zwangs-Scharia für eine muslimische Minderheit in Griechenland soll abgeschafft werden

von Ralf Dreis, Volos


Im offiziell zu 98 % christlich-orthodoxen Griechenland lebt die muslimische Minderheit Westthrakians unter dem religiösen Recht der Scharia. Laut unterschiedlicher statistischer Erhebungen handelt es sich dabei um 100.000 bis 140.000 Bürger*innen, ca. 1 % der griechischen Gesamtbevölkerung. Vor allem für die Frauen in der ländlich geprägten Region an den Grenzen zu Bulgarien und zur Türkei ist das hart. Obwohl sie Griechinnen und EU-Bürgerinnen sind, bestimmt oft noch immer die Scharia über ihr Familienleben und ihre sozialen Kontakte - wen sie sehen, wo sie hingehen, was sie anziehen, wen sie heiraten.


Die Scharia, das islamische "Heilige Recht", gilt eingeschränkt in der nordgriechischen Region Westthrakien seit 1923. Jetzt denkt die Syriza-Anel-Regierung über eine Lockerung nach - nicht jedoch über die längst fällige komplette Abschaffung. Dass die Regierung in Athen die Paralleljustiz überhaupt etwas zurechtstutzen will, ist kein Zufall. Im Februar 2014 reichte Chatitze Molla Sali vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGM) in Straßburg Klage ein. In seinem Testament hatte ihr verstorbener Mann sie als Alleinerbin eingesetzt. Die islamische Gemeinde aber wollte dies, den Traditionen der Scharia gemäß, nicht anerkennen und sprach das Erbe stattdessen der Familie des Ehemannes zu. Die griechischen Zivilgerichte, bis hin zum Arios Págos, dem Obersten Gerichtshof, verneinten die Gültigkeit des Testaments und verwiesen die Klägerin, als Muslima Westthrakiens, an den Mufti ihrer Gemeinde, der als islamischer Rechtsgelehrter auf Basis der Scharia entscheiden solle. Die Klage von Frau Sali am EGM wurde am 6. Dezember 2017 in Straßburg verhandelt.

In Erwartung einer sicheren Verurteilung durch den EGM am 6. Dezember, kündigte Ministerpräsident Alexis Tsípras noch kurz zuvor die "schrittweise Abschaffung" des anachronistischen Gesetzes an.

Der am 28. November 2017 vom für Religionsfragen zuständigen Bildungsminister Kóstas Gavróglou (Syriza) angekündigte Gesetzentwurf, den er demnächst dem Parlament vorlegen will, sieht keine vollständige Abschaffung der Scharia vor. Im Gegenteil: "Wir respektieren die Rechte der Minderheit", betonte Gavróglou im staatlichen Fernsehsender ERT und fügte an: "Es ist eine zutiefst demokratische Reform". Unter dem Vorwand der unterschiedlichen religiösen und kulturellen Identität, soll muslimischen Frauen weiterhin die für andere Griechinnen geltenden Rechte vorenthalten werden. Nur Muslima, die es wagen, sich dem gesellschaftlichen Druck ihrer engen dörflich-konservativen Gemeinden zu widersetzen, sollen in den Genuss gleicher Rechte wie andere Bürger*innen kommen. In Zukunft sollen beide Streitparteien zustimmen müssen, wenn ein muslimischer Geistlicher nach dem islamischen "Heiligen Recht" entscheiden soll, ob eine Scheidung rechtmäßig ist, wer wieviel Unterhalt bekommt, wer das Sorgerecht für die Kinder erhält oder ob und wie das Vermögen eines Verstorbenen an seine Nachfahren vererbt werden soll. Andernfalls soll in Streitfällen ab jetzt auch bei der muslimischen Bevölkerung Westthrakiens die griechische Justiz entscheiden.

Frauen begehren auf

"Zeit die bequeme Duldung der Scharia zu beenden", betitelte die genossenschaftliche Athener Tageszeitung Efimerida ton Syntaktón ihren zweiseitigen Themenschwerpunkt am 27.11.2017. Schon in der Einführung wird die sichere Verurteilung Griechenlands am 6. Dezember durch den EGM angekündigt und die rhetorische Frage gestellt: "Wie gleich vor dem Gesetz sind die Bürgerinnen und Bürger, die gezwungen sind ihre familiären Streitigkeiten und ihre Erbangelegenheiten durch islamische Geistliche, statt durch die griechische Justiz regeln zulassen?" Rechtsgelehrte und Uniprofessoren stellen in der Folge detailliert dar, dass muslimische Frauen in Griechenland heute keinesfalls über die gleichen Rechte wie andere Bürger*innen des Landes verfügen. Sie verweisen ebenfalls darauf, dass die griechische Anwaltsvereinigung schon 1991 und erneut 2007, das nationale griechische Komitee für Menschenrechte 2006, der Kommissar für Menschenrechte des Europaparlaments 2009 und die Kommission für Frauenrechte der UNO 2007, in Beschlüssen entsprechende Änderungen angemahnt hatten. Ebenfalls zu Wort kommt eine 25jährige muslimische Frau, die in Thrakien aufgewachsen ist und heute in Athen studiert. Bezeichnenderweise möchte sie "aus leicht nachvollziehbaren Gründen" ihre Anonymität wahren. Sie betont, dass ihre Generation vieles verändere und sich den strengen Traditionen mehr und mehr entziehe, dabei aber sicher juristische Unterstützung gebrauchen könne. "Wenn ein Gericht dir sagt, dass, wenn du nach islamischen Riten geheiratet hast, du auch dem islamischen Recht unterliegst, kannst du nicht mehr viel tun. Es ist, als würdet ihr Christen vor Gericht hören, da ihr kirchlich geheiratet habt, geht in die Kirche und lasst den Erzbischof über eure familiären Probleme entscheiden. Was natürlich problematisch ist, wenn ein fanatisch gläubiger Geistlicher, ohne juristisches Wissen, mit patriarchalischen Ansichten, über solche Themen entscheidet."

Sie bestätigt, dass es innerhalb der islamischen Minderheit inzwischen heftige Auseinandersetzungen über das Thema gibt. "Es gibt viele Muslime, die sehr gläubig sind und die Scharia als etwas Schönes, Positives betrachten und den Mufti als hohe Autorität sehen." Zum Schluss weist sie darauf hin, dass es bei dem Thema nicht um kulturelle Identitäten gehe, sondern die Scharia ein hervorragendes Instrument sei, die Bevölkerung in der wirtschaftlich und kulturell vernachlässigten Region, mit schlechten Ausbildungsmöglichkeiten und maroder Gesundheitsversorgung, unter Kontrolle zu behalten. "Die Türkei als angrenzendes islamisches Land, hat die Scharia 1923 abgeschafft Die Tatsache, dass dies in Griechenland bis heute nicht geschehen ist, gibt uns zu denken. Es war dem griechischen Staat wohl sehr Recht die konservativsten Teile der Minderheit auf seine Seite zu ziehen und so die muslimische Bevölkerung unter einer religiösen Identität ruhig zu stellen."

Die teilweise in Griechenland lebende französische Journalistin Adéa Guillot, die 2014 eine Arte-Dokumentation über die Volksgruppe der Pomaken drehte, stellte damals in einem Interview klar: "Die Frauen, die ich dort traf, die ersticken förmlich in diesen Zuständen, aber sie hatten den Mut, uns das auch in die Kamera zu sag." Am deutlichsten trete das archaische Verhältnis zwischen Männern und Frauen bei den Gelegenheiten zutage, die zur Hochzeit führen sollen. Mädchen im heiratsfähigen Alter machten sich hübsch und flanierten zu dutzenden stundenlang vor den potentiellen Ehemännern, jungen Männern im Café, auf und ab. Ein Schauspiel, welches sich während der Dreharbeiten zeitgleich in fast allen pomakischen Dörfern Westthrakiens bot.

Manche Frauen jedoch begehren auf und wollen nicht länger hinnehmen, dass ihr Los ein Leben als Gefangene in Haus und Hof sein soll, ohne Recht auf ein Minimum an Bildung und Selbstentfaltung. "Es ist das erste Mal überhaupt, dass eine Frau aus der Region es wagt, gegen die herrschenden Verhältnisse zu klagen. "Ihr Anwalt ist sehr zuversichtlich, dass das Gericht die durch die Anwendung der Scharia verursachte Ungleichbehandlung der Menschen in Westthrakien vor dem Gesetz im Vergleich zur Mehrheit der Griechen verurteilen wird", so Adéa Guillot.

Seríf, ein seit drei Jahrzehnten in Thessaloniki lebender Aktivist der antiautoritären Bewegung, begrüßt die aktuelle Entwicklung. "Solange der griechische Staat Menschen über ihren Pass und ihre Religion definiert, ist allerdings noch viel zu tun", betont er. "Obwohl ich Atheist bin, werde ich noch immer der muslimischen Minderheit zugerechnet. Auch von meinen Genoss*innen ist keine*r religiös, trotzdem gelten alle als christlich-orthodox, es ist absurd."


Westthrakiens muslimische Minderheit

Die muslimische Minderheit Westthrakiens ist die einzige in Griechenland anerkannte ethnische Minderheit. Ebenso wie den christlich-orthodoxen Griechen Istanbuls wurde den Muslimen Westthrakiens im Vertrag von Lausanne ein Sonderstatus zugesprochen, womit sie nicht unter das türkisch-griechische Abkommen zum Bevölkerungsaustausch von 1923 fielen. Unter dem Label muslimische Minderheit werden neben Westthrakientürken auch Pomaken und Roma subsummiert. Sie haben türkischen Schulunterricht und das Recht Koranschulen zu besuchen. Die drei unterschiedlichen Volksgruppen sprechen türkisch, beziehungsweise alttürkische Dialekte, Pomakisch und Romanes, die meisten sind sunnitischen Glaubens. Die ethnischen Türken siedelten sich im späten 14. Jahrhundert während des Osmanischen Reichs im Gebiet um die heute griechischen Städte Komotiní, Xánthi und Alexandroúpolis an. Die vor allem in der Gebirgsregion an der griechisch-bulgarischen Grenze lebende slawische Bevölkerungsgruppe der Pomaken war schon vor der Zeit des Osmanischen Reiches in dieser Region ansässig. Die Roma, als ursprünglich christliche Einwanderer, lebten überwiegend im westlichen Teil Thrakiens und nahmen während der Zeit des Osmanischen Reiches den muslimischen Glauben an. Ihre Umgangssprache war Romanes, das von vielen noch heute gesprochen wird. Die Mehrheit dieser Gruppe verständigt sich allerdings in verschiedenen türkischen Dialekten.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 425, Januar 2018, S. 12
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2018

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