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GRASWURZELREVOLUTION/1903: MOVE Utopia - Das System ändern durch Tauschlogikfreiheit


graswurzelrevolution 441, September 2019
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

MOVE Utopia
Das System ändern durch Tauschlogikfreiheit

von Solveig Feldmeier


Das englische Verb move heißt bewegen oder auch umziehen, sich verändern. Utopia ist das Zukunftsland, das es in Wirklichkeit gar nicht geben wird. Aber ohne Ideen von einer guten Zukunft gibt es keine Bewegung.


Vom 10. bis 14. Juli 2019 fand zum zweiten Mal das Festival MOVE Utopia statt. "Wir feiern das Experiment der gelebten Utopie", heißt es auf der Homepage. Die Buchstaben von MOVE stehen für Miteinander, Offen, Vertrauensvoll, Emanzipatorisch. Das Motto, das die verschiedenen Initiativen, Gruppen und Einzelmenschen vereint, die sich diesmal in der Freien Feldlage Harzgerode trafen, klingt utopisch, aber nicht unbekannt: "Für eine Welt nach Bedürfnissen und Fähigkeiten".

Dabei entwickeln Menschen neue Formen des Zusammenlebens, indem Bedürfnisse und Talente offen geteilt und mitgeteilt werden. Oberstes Prinzip, und das klingt neu für diejenigen, die mit Marx vertraut sind: Individualität ist die Grundlage des Miteinanders! Das klingt doch sehr anarchistisch!

Die Akteurinnen, Akteure und Interessierten, die sich 2017 auf dem Gelände des Fusion - Festivals in Müritz erstmals getroffen haben, setzen sich für ein solidarisches, nachhaltiges, herrschafts- und hierarchiefreies Miteinander ein, Sie gehen davon aus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem, das unsere Welt noch beherrscht, an sein Ende gekommen ist und sagen: "Lieber das System ändern als das Klima".

Die gastgebende Genossenschaft in der Heilstätte ist noch jung, aber kräftig dabei, hier einen Lern- und Lebensort für gelebte Utopien zu gestalten, der durch das Festival weithin bekannt gemacht werden soll.

Nicht zuletzt durch das große Interesse an den Fridays for Future werden junge Menschen zunehmend politisiert. Sie beginnen Fragen zu stellen und erkennen, dass die Menschheit dem Wachstumsparadigma entsagen muss, um eine gute Zukunft gestalten zu können. Verweigerung ist dabei ein Prinzip, das jede/r Einzelne leben kann. Es beginnt mit Schulstreik und endet womöglich in der Ablehnung von Lohnarbeit, so wie sie Tobi Rosswog in seinem Buch "After Work" beschreibt, zu dem er in Harzgerode einen Workshop gab.

Eine der Impulsgeberinnen für das Move ist die Ökonomin Friederike Habermann. Sie referierte im Care-Café zu Commoning - einer neuen Idee des Wirtschaftens, das auf Tauschlogikfreiheit und Solidarität beruht.

Den überwiegend sehr jungen Organisatorinnen des Festivals geht es um das Eröffnen von Räumen für den Austausch über alternative Wirtschaftssysteme. Sie wollen daran mitwirken, ein Netzwerk aufzubauen, das auch zwischen den Festivals funktioniert. "Viele Leute aus den verschiedensten Zusammenhängen und Generationen haben Lust bekommen, richtig loszulegen", sagt Luisa, eine 22jährige Kunststudentin, die in der Gemeinschaft Villa Locomuna in Kassel lebt. "Das MOVE zeigt, was man t1m kann, um nachhaltige Strukturen zu schaffen. Es hat das Potenzial, Menschen Möglichkeiten für ein anderes gutes Leben aufzuzeigen und es bietet praktische Ansätze zum Handeln."

Kurzum, MOVE Utopia ist ein schöner Einstieg, um Alternativen zum überlebten kapitalistischen System kennenzulernen.

Menschen aus der Gemeinschaftsszene, aus Degrowth-, Commons- und Transition-Bewegung stellten in Seminaren und Workshops ihre unterschiedlichen Ansätze dar.

Es ging um Solidarisches Wirtschaften und Genossenschaften, um die Verkehrswende und Sicherheit im Netz. Und um Zwischenmenschliches wie Nähe herstellen (zu anderen und zum eigenen Körper) und wohlwollendes "Nein" sagen. Zur Entspannung gab es Angebote wie die Wohnwagen-Sauna, Yoga, Bäume umarmen, Freies Tanzen und Musizieren, das Lese-Zelt (leider ohne Graswurzelrevolution) sowie eine große Party - drogenfrei versteht sich. Denn das MOVE ist keines der herkömmlichen Konsum-Festivals. Luisa dazu: "Wir wollen uns auf bewusste Weise begegnen und keine Konsumstimmung erzeugen. Die Leute können sich als Teil von MOVE fühlen."

Die ausschließlich vegane Verpflegung bestand vorwiegend aus "geretteten" Lebensmitteln, die von Firmen zur Verfügung gestellt wurden. Zwei Koch-Kollektive sorgten für wohlschmeckende Mahlzeiten. Für die Behebung von Befindlichkeitsstörungen gab es das Awareness-Team und bei Konflikten half das Kommunikations-Team.

Das große Zeltlager war in Barrios aufgeteilt und bezugsgruppenmäßig organisiert. Die einzelnen Gruppen entsandten ihre Delegierten zum täglich stattfindenden Plenum, auf dem organisatorische Fragen besprochen wurden. Der gesamte Ablauf des Festivals vollzog sich selbstorganisiert und tauschlogikfrei. Tauschlogikfreiheit war auch das zentrale Thema, zu dem eine große Podiumsdiskussion stattfand. Dazu stellten verschiedene Bewegungen und Akteur*innen ihre Ideen vor.

Seit Jahrhunderten basiert unser Zusammenleben auf dem Prinzip: "Gibst du mir, so geb' ich dir." Was geschieht, wenn jemand nicht (mehr) gibt, nicht geben kann? Oder anders herum. Was geschieht, wenn jemand mehr gibt, mehr geben kann? Wenn man solche Fragen stellt, landet man schnell bei den Care-Tätigkeiten, also Arbeiten, die sich auf die Sorge für und das Kümmern um andere Menschen beziehen. Arbeiten, die immer noch zumeist von Frauen und zumeist unendgeldlich geleistet werden. Arbeiten, die, wenn sie denn bezahlt werden, schlecht entlohnt sind. Gerade diese Tätigkeiten können in der Zukunft nicht von Maschinen übernommen werden.

Menschliche Zuwendung, liebevolles Miteinander, Geduld, Akzeptanz des Anderen sind notwendig für ein gutes Leben und müssen gesellschaftliche Wertschätzung erfahren.

Das MOVE Utopia ist ein Testgelände für eine solidarische Gesellschaft. Deshalb gilt Tauschlogikfreiheit. Das heißt, jede/r zahlte, was sie/er kann oder gab Hilfe in Form von Arbeitskraft bei den im Vorfeld stattfindenden Bauwochen oder während des Festivals selbst. Es bestand jedoch kein Zwang, irgendetwas zu zahlen oder zu tun. Der Eintritt, Unterkunft im Zelt und Versorgung basierten komplett auf Freiwilligkeit.

Natürlich geht auch bei MOVE Utopia nicht alles ohne Spenden und Förderungen. Die Aktiven aus der Vorbereitungsgruppe haben schon lange vorher Anträge geschrieben. Dennoch mussten noch 35.000 Euro von Teilnehmenden und Unterstützerinnen zusammenkommen. Das hat funktioniert. Es bleibt so gar noch etwas übrig für die Organisation des nächsten MOVE.

Luisa und andere Aktive wollen auch nach dem Festival ihre Kraft dafür einsetzen, dass das MOVE eine Infrastruktur bekommt, die längerfristig Sinn macht, sodass stärkere Vernetzung zwischen unterschiedlichen Akteur*innen und Initiativen stattfindet und sich immer mehr Menschen gemeinschaftlich in Richtung "gutes Leben" bewegen.

Steht zu hoffen, dass beim nächsten Mal auch die Graswurzelrevolution vor Ort ist. Denn Tauschlogikfreiheit geht mit Herrschaftsfreiheit einher, wie die eingangs erwähnte Friederike Habermann in ihrem Buch "Ecommony" nachweist.

Links:
move-outopia.de
freiefeldlage.de

Buch: Friederike Hebennenn: Ecommony. UmCARE zum Miteinander,
Ulrike Helmer Verlag, 197 Seiten, ISBN 978-3-89741-386-3, 20 Euro

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Quelle:
graswurzelrevolution, 48. Jahrgang, Nr. 441, September 2019, S. 4-5
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
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Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2019

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