Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1305: Der Kölner "Zahltag" macht Schule ...


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 - Juli/August 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Meute macht Beute
Der Kölner "Zahltag" macht Schule - und ruft die Polizei auf den Plan


Der Kölner "Zahltag!" ist inzwischen ein Begriff. Er bezieht sich auf den Umstand, dass immer wieder viele Erwerbslose zu Monatsanfang kein oder zu wenig Geld überwiesen bekommen. Den vorgeblichen Gründen hierfür (Fehlberechnungen, Softwareausfall, Sanktionen) stellen die Erwerbslosen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben gegenüber. Der Zahltag findet seit 2007 jeweils zu Monatsanfang in einer ARGE statt; er beruht auf dem Prinzip: "Keiner geht allein", d.h., Erwerbslose, denen zu Unrecht Leistungen verweigert werden, treten vor den Sachbearbeitern der ARGE zusammen mit ihren Beiständen auf. Mit Erfolg! Vor allem die erfahrenen Beistände der KEAs (Kölner Erwerbslose in Aktion e.V.) können immer wieder für Betroffene eine Barzahlung erwirken und weitere Probleme klären helfen.


*


Etwa 15 KEAs (Kölner Erwerbslose in Aktion) begleiteten am Vormittag des 9. Juni 2009 eine Frau mit ihrer Tochter, die monatelang wegen Nichtigkeiten mit Sanktionen drangsaliert worden war; zu allem Übel war ihr Folgeantrag nicht bearbeitet worden. Mutter und Tochter waren mittellos.

Und weil es sich herum gesprochen hat, dass es in Köln in Sachen Hartz IV eine gute Vernetzung und solidarische Schlagkraft gibt, wurde sich die Betroffene ihrer Mitgliedschaft in jener Selbsthilfevereinigung bewusst, trat erst in Kontakt und dann gemeinsam mit anderen KEAs in Aktion.

Über eine eigens eingerichtete Mailingliste mit immerhin rund 50 Mitgliedern ließen sich binnen zwei Tagen etwa 15 Leute mobilisieren. Das gehört zum Prinzip der "Meute", wie sie sich selber nennt, wenn es um einen "Termin ohne Termin" geht - weil die sog. Eingangszone der ARGE zum stundenlangen Warten, zum Abwimmeln, zum Hin- und Fernhalten oder zum Verarschen der Betroffenen installiert wurde. Zu viele Betroffene werden einfach immer wieder abgewiesen und in Notlagen (z.B. Mittellosigkeit) schlicht ohne Geld oder bestenfalls mit einem Lebensmittelgutschein fort geschickt. Und was so eine richtige Meute ist, die ist selbstverständlich auch auf Beute aus. Heute sollte Bargeld fließen. Und zwar alles!

So weit, so gut. Nahezu routinemäßig verlief die Auseinandersetzung zwischen Sachbearbeitern, die erst nicht und dann doch zuständig sind, Team-Leitern, die sich in Vertretung der Sache annehmen, und den engagierten Menschen auf Seite der Betroffenen.

Nach etwa 30 Minuten gab's dann die Beute, und zwar - was nachdrücklich eingefordert werden musste - die gesamte. Wir reden hier nämlich nicht über das Geld des Sachbearbeiters oder das der ARGE, sondern über jenes, das der betroffenen Frau gehört. Und wenn diese willens ist, das gesamte ihr zustehende Geld (strittig war die Barauszahlung der Mietkosten) jetzt endlich mitzunehmen, haben die selbsternannten Verwalter das Nachsehen.

Sabine, die betroffene Frau, war glücklich und von dem solidarischen Engagement schlicht begeistert. Was sie heute alles noch erleben sollte, davon ahnte niemand etwas.

Nun muss man wissen, dass die ARGE Süd in Köln keine 100 Meter Luftlinie von der ARGE Mitte entfernt liegt. Und man muss wissen, dass KEAs fast immer an mehreren Standorten gleichzeitig irgendwo, irgendwem beistehen. Und man muss wissen, dass sie bei Einsätzen vor Ort per Funk vernetzt sind. Plötzlich gab es nämlich einen Hilferuf aus ARGE Mitte, was dazu führte, dass die Meute komplett in das Büro der Standortleitung einfiel und an Zahl nochmal wuchs.

Hier war die Situation ziemlich festgefahren. Eine Frau hatte ihre Geldbörse verloren, brauchte aber dringend Geld, um sich als Diabetikerin mit Insulin zu versorgen. Eigentlich ein Akt weniger Minuten, sofern man sich auf einen "Bar-Vorschuss, vorbehaltlich der abschließenden Klärung" pipapo ... einigen könnte. Aber ARGE-Mitarbeiter sind Bürokraten! Sie sind strengen Regeln unterworfen, die sie selbst offenbar am allerwenigsten kapieren, und dann geht es sicher auch immer um Fragen wie "Macht" und "Erziehung" aus der Sicht von oben nach unten.


Räumung schafft Aufmerksamkeit

Dass die da "unten" am Ende "oben" sein werden und die Betroffene natürlich Geld bekommen wird, daran hatte die Meute zu keiner Zeit Zweifel. Was die Standortleitung sich jedoch mit Hilfe der Polizei an Bedingungen einfallen ließ, bevor Betroffene zu ihrem Recht kommen konnte (das in diesem Fall gesetzlich verbrieft ist), darf man als Offenbarungseid eines miesen, systemischen Akts ganz im Sinne der Agenda 2010 begreifen.

Ein paar Polizisten wurden von der ARGE um die Räumung des Büros gebeten. Dreimal erfolgte die Aufforderung von der Polizei, dreimal wurde die Polizei aufgefordert zu überprüfen, ob es nicht etwa ein berechtigtes Anliegen gebe, in ausgerechnet diesem Büro zu sein. Und zwar ein existenzielles im Sinne einer schlicht lebensbedrohlichen Situation!

Die Polizei aber scheint sich lieber als Vollstreckungsbehörde von Hartz IV zu verstehen und forderte nunmehr Verstärkung. Sechs Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn sowie eine an einem ARGE-Fenster gehisste "Zahltag!"-Fahne sorgten für Aufmerksamkeit. Personell aufgerüstet schob die Polizei die Meute vor sich her und aus dem Büro heraus. Nunmehr aber lautete die Forderung, das Haus gänzlich zu verlassen und somit der betroffenen Frau sämtlichen Beistand zu nehmen. Das löste heftige Diskussionen aus, und die uniformierten Erfüllungsgehilfen schienen zunehmend Spaß an ihrer Arbeit zu haben.

Wer es unbedingt braucht, kann vielleicht darüber spekulieren, ob es im rechtlichen Sinn dieses Staates eine unerlaubte Büro-Besetzung war, eine Nötigung oder was auch immer - gewalttätig oder Gewalt androhend traten die Aktivisten keineswegs auf. Deshalb kann man nur provokative Absicht unterstellen, als die Polizisten plötzlich unvermittelt von hinten und zu dritt über einen herfielen. Schläge ins Gesicht, Handschellen, zu Boden drücken und dann das Knie auf den Kopf. Andere Polizisten griffen derweil noch zwei Frauen an, die die Eskalation der grünen Truppe beruhigen wollten. Mit Pfefferspray wurde die Meute im Flur in Schach gehalten und zwar solange, bis die Betroffene mit dem herbeigerufenen ARGE-Geschäftsführer Müller-Starmann und zwei Beiständen der KEAs endlich ihr Anliegen klären und durchsetzen konnte.

Uwe Klein, Die KEAs, erklärte dazu: "Die ARGE war in dieser Notlage zur Barzahlung verpflichtet. Dies hätte direkt geschehen können. Zwei Beistände haben etwa zwei Stunden lang versucht, dies mit friedlichen Mitteln zu erreichen. Erst als weitere 15 Beistände dazu kamen und die ARGE die Situation durch das Herbeirufen der Polizei eskalieren ließ, kam die Betroffene zu ihrem Recht. Die abschließende Barzahlung der ARGE bestätigt sowohl unsere Rechtsauffassung als auch unser friedliches, aber bestimmtes Vorgehen."

Als die Meute unter Polizeigewalt aus der ARGE eskortiert wurde, zwei Aktivisten gefesselt mit Blaulicht zur Wache gefahren wurden, gab es Applaus von umstehenden Leuten, die die Polizisten fragten, ob sie eigentlich wüssten, was sie hier tun. Gesetzt den Fall, sie wissen es wirklich, dann ist auch die Schikane auf der Polizeiwache eine systemisch gewollte Pflichtübung. Einer der in Gewahrsam genommenen Aktiven musste seine Taschen leeren, den Gürtel abgeben, sich der Schnürsenkel entledigen, was alles aussehen sollte, als trete er eine obligatorische Haft an. Nur, um unmittelbar im Anschluss daran gesagt zu bekommen: "Ach nee, Sie dürfen doch gleich nach Hause."

Am 15. Juni wurde im Kölner Amtsgericht zwei Initiatoren des Zahltags der Prozess gemacht wegen Hausfriedensbruch und Widerstand gegen Polizeibeamte in der ARGE. Rund 100 Besucher waren zu ihrer Unterstützung erschienen. Das Verfahren wurde eingestellt - gegen ein Bußgeld, zu zahlen von den zwei Angeklagten ausgerechnet an ein Sozialwerk der Polizei.

Quelle: www.die-keas.org


*


Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 24.Jg., Juli/Aug. 2009, Seite 11
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
(VsP, www.vsp-vernetzt.de)
SoZ-Verlags-GmbH, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96, Telefax: 0221/923 11 97
E-Mail: redaktion@soz-verlag.de
Internet: www.soz-plus.de

Die Soz erscheint monatlich und kostet 3 Euro.
SoZ-Probeabo: 3 Ausgaben für 10 Euro
Normalabo: 55 Euro, inkl. SoZ Hefte
Sozialabo: 26 Euro, inkl. SoZ Hefte


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2009