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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1359: Das Betreuungsgeld


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2 - Februar 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Das Betreuungsgeld
Sozial- und gleichstellungspolitischer Rückschritt

Von Gisela Notz


"Um Wahlfreiheit zu anderen öffentlichen Angeboten und Leistungen zu ermöglichen, soll ab dem Jahr 2013 ein Betreuungsgeld in Höhe von 150 Euro, gegebenenfalls als Gutschein, für Kinder unter drei Jahren als Bundesleistung eingeführt werden." So steht es im schwarz-gelben Koalitionsvertrag unter Kapitel III "Sozialer Fortschritt". 16 Verbände, unter ihnen der Deutsche Frauenrat, verschiedene Gewerkschaften, der Verband Alleinerziehender Mütter und Väter und der Bundesverband Pro Familia sind sich einig, dass ein Betreuungsgeld grundsätzlich kontraproduktiv ist und weder dem Ziel der Gleichberechtigung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, noch der Bildungs- und Chancengerechtigkeit der Kinder dient.

Die Verbände weisen darauf hin, dass Wahlfreiheit dadurch hergestellt wird, dass genügend qualitativ hochwertige und gebührenfreie bzw. günstige Ganztagsbetreuungsplätze zur Verfügung stehen. Davon sind wir weit entfernt. Auch 2013, das Jahr in dem für jedes dritte Kind unter drei Jahren ein Betreuungsangebot geschaffen sein soll, werden nach gegenwärtigem Stand des Ausbaus nicht ausreichend Kita-Plätze für Kinder unter drei Jahren vorhanden sein. Aktuellen Meldungen zufolge fehlen noch 275000 Plätze. Insbesondere die Tagesbetreuung wird den Bedarf nicht decken.

Etliche Kommunen warnen bereits, die Wirtschaftskrise mache es unmöglich, den gesetzlichen Anspruch umzusetzen.


Die Meinung der Verbände

Die Verbände sind der Meinung, dass die Konzeption des Betreuungsgeldes gegen grundlegende Prinzipien der Elternautonomie verstößt: Eine Entscheidung, wie Eltern ihre Kinder betreuen, dürfe weder prämiert, noch honoriert oder bestraft werden. Genauso wenig dürfe der Staat über ein Gutscheinsystem - über dessen Ausgestaltung es noch keine Vorstellungen gibt - andeuten, einkommensarme Eltern könnten nicht verantwortungsbewusst und im Interesse der Kinder haushalten.

Die Verbände halten solche populistischen Äußerungen in Bezug auf arme Familien mit und ohne Migrationshintergrund für menschenfeindlich; sie negieren die Anstrengungen vieler Familien und verhindern umso mehr deren Förderung und Integration. Ein flächendeckendes Angebot an Kita-Plätzen für alle Kinder sowie Angebote der Familienbildung sind der richtige Schritt auch zu mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit.

Die Verbände sind sich sicher, dass das Betreuungsgeld auch für Frauen falsche Signale setzt - nämlich nach der Geburt eines Kindes länger aus ihrer Erwerbstätigkeit auszusteigen. So verfestigen sich traditionelle Geschlechterrollen, und der Wunsch der Familien auf eine gleichberechtigte Verteilung der Sorge- und Erziehungsaufgaben wird negiert.

Der Ausbau der Kinderbetreuung muss in der Tat höchste Priorität haben. Dabei geht es nicht nur um Plätze für Kinder unter drei Jahren, sondern auch um Ganztagsplätze für drei- bis sechsjährige Kinder, die vielerorts noch nicht vorhanden sind. Die 16 Verbände fordern daher die Bundesregierung auf, ihre Bemühungen darauf zu konzentrieren und das für das Betreuungsgeld vorgesehene Budget dafür zu verwenden.

Das Anliegen der 16 Verbände, zu deren Einspruch sich in der Zwischenzeit auch Weitere zustimmend geäußert haben, wird von vielen gesellschaftlichen Gruppen unterstützt. Auch Experten sorgen sich um die frühkindliche Förderung. Und Politiker sehen in dem Betreuungsgeld ein völlig falsches Signal oder gar "eine Rolle rückwärts in die 50er Jahre, die auch noch Geld kostet" (Sibyll Klotz, grüne Bezirksstadträtin in Berlin).

Wie sie sind auch der Bildungsstadtrat von Berlin-Mitte, Rainer-Maria Fritsch (DIE LINKE), der Fraktions- und Landesvorsitzende der Berliner CDU, Frank Henkel, Bundespolitikerinnen wie MdB Elke Ferner und Mechthild Rawert (beide SPD) der Ansicht, man hätte das Geld lieber in den weiteren Ausbau des frühkindlichen Bildungssystems investieren sollen als in individuelle Fördermaßnahmen. Senatssprecher Richard Meng sagte dem Tagesspiegel: "Alles, was wie eine Prämie fürs Zuhausebleiben aussieht, fördert nicht die frühe Integration unter Gleichaltrigen, sondern hemmt sie." Der Psychologe Kazim Erdogan von der türkischen Vätergruppe Berlin-Neukölln befürchtet: "Die meisten Familien werden der Verlockung des Geldes erliegen und ihre Kinder von den Kindergärten abmelden."


Integration gefährdet

Das werden sie tun, wenn sie ohnehin erwerbslos und zu Hause sind. Für arme Familien, und die gibt es in Neukölln und anderswo nicht nur unter den Familien mit Migrationshintergrund, sind 150 Euro viel Geld. Kazim Erdogan sieht darin einen entscheidenden Nachteil für die durch ihn betreuten Kinder, deren Eltern - wie andere Eltern auch - oft mit der Vorbereitung auf das ehrgeizige Schulsystem überfordert sind: "Deshalb sollte der Staat in die Bildung unserer Kinder investieren und keine Almosen verteilen."

Ursula von der Leyen hat noch vor zwei Jahren davon gesprochen, dass das Betreuungsgeld "eine bildungspolitische Katastrophe" sei. Inzwischen gab es einen Wechsel im Ministerium. Ministerin Köhler erklärte kurz nach ihrem Amtsantritt der Welt am Sonntag, es gehe beim Betreuungsgeld um ein ihr sehr wichtiges Anliegen, nämlich um die Unterstützung von jungen Vätern und Müttern, "die sich in den ersten Jahren nach der Geburt eines Kindes zu Hause in Vollzeit der Erziehung widmen", also "ganz bewusst keinen Krippenplatz in Anspruch nehmen", andererseits sollten Problemkinder, die von einem Krippenbesuch profitieren würden, diese Förderung auch bekommen.

Köhler will sehen, "wie viele Familien das sind und welche Art der Unterstützung sie brauchen". Demnach würde die Kinderkrippe bevorzugt für "Härtefälle" bereitgehalten und damit zur diskriminierenden Sondereinrichtung werden. Allerdings würden die überlasteten Kommunen Geld sparen, indem die Betreuung mit 125 Euro individualisiert wird: Ein Betreuungsplatz in der Kita kostet monatlich 800-1000 Euro. Von Kinderkrippen, vorschulischer Bildung usw. sollten aber alle Kinder profitieren, weil sie dort Anregungen bekommen und Erfahrungen machen können, die ihnen auch das "privilegierte" Familienleben nicht bieten kann.


Alte Rollenmuster

Das Betreuungsgeld widerspricht den Prinzipien einer modernen Gesellschaft in hohem Maße. Es konterkariert die gleichstellungspolitischen, sozialpolitischen und familienpolitischen Ziele, für die sich die Interessenvertretungen seit vielen Jahren einsetzen. Die "Herdprämie", wie sie verschiedentlich zu Recht genannt wird, verfestigt alte Rollenmuster, indem sie die Trennung zwischen Mutter-/Hausfrauenrolle und Vater-/Erwerbsarbeitsrolle und damit die unterschiedliche Positionierung der Geschlechter in der Gesellschaft propagiert. Sie benachteiligt Alleinerziehende und Eltern, die ihre Kinder in Einrichtungen betreuen lassen, weil sie einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen.

Setzt sich die "Herdprämie" durch, steigt auch die Abhängigkeit der Bezugspersonen von staatlichen Hilfen, weil für die Mehrzahl das Elterngeld schon jetzt nicht ausreicht, um ein, geschweige denn zwei Jahre zu Hause bleiben zu können. Von 150 Euro Betreuungsgeld im Monat kann sich niemand ernähren. In der Tat wissen wir noch nicht einmal, ob Hartz-IV-Empfänger überhaupt von dem Betreuungsgeld profitieren, denn staatliche Transferleistungen - wie etwa das Kindergeld - werden auf den Hartz-IV-Regelsatz angerechnet. In dieser Frage hält sich das Bundesfamilienministerium bisher bedeckt. Politiker sollten sich nicht weiter darum streiten, ob das Geld bar ausgezahlt oder in Gutscheinen ausgehändigt werden soll.

Es geht um 1,9 Milliarden Euro und die müssen direkt in ein qualitativ und quantitativ besseres Kinderbetreuungssystem investiert werden. Dazu ist ein Umsteuern der Familienpolitik nötig - hin zu einer Politik, die von gleichberechtigten Individuen ausgeht, für die es selbstverständlich ist, dass sie ihre Existenz selbst sichern können, die Kindern gleiche Chancen zuspricht, egal wie sie aussehen, wo sie herkommen und in welcher Lebensform sie erwachsen werden.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2, 25. Jg., Februar 2010, Seite 6
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2010