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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1392: "Við skulum ekki gialda"


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Við skulum ekki gialda"(*)

Von Andrej Hunko


In keinem Land konzentrieren sich die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte so ausgeprägt wie in Island.


Auf die Privatisierung und Deregulierung des Finanzsektors in den 90er Jahren folgte eine aberwitzige Spekulationsblase und private Bereicherung in den 2000er Jahren. Das rasant wachsende isländische Kapital expandierte wie kaum anderswo. Kurz vor dem Zusammenbruch des Finanzsektors zählte die isländische Pharmafirma Actavis 11.000 Angestellte in über 40 Ländern. Die Baugur-Group besaß Anteile an 3.700 Unternehmen weltweit und zählte 70.000 Angestellte. Die Expansion des isländischen Kapitals wurde durch höchste Zinsversprechungen auf Staatsanleihen und Bankeinlagen bei neu gegründeten Internetbanken genährt.

Der Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems im Herbst 2008 traf dann auch Island mit voller Wucht und brachte den Staat an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Erst rigide Kapitalverkehrskontrollen und Kredite des IWF ermöglichten das Überleben für die nächste Zeit.

Der neoliberale Hype und anschließende Zusammenbruch werden in Island von einer Bevölkerung verarbeitet, die wie kaum eine andere über einen ausgesprochen hohen Bildungsstandard und vor allem über tief verankerte demokratische Traditionen verfügt. Im Winter 2008/09 kam es zur sog. Kochtopfrevolution: Sie spülte die konservative Regierung fort und brachte eine Linksregierung aus Linksgrünen und Sozialdemokraten an die Regierung.

Vor wenigen Wochen lehnte die isländische Bevölkerung mit 93,2% in einem Referendum die Übernahme der Schulden der untergegangenen Icesave-Bank ab - das bislang einzige Beispiel, in dem die Frage nach den Kosten der Krise einem direkten demokratischen Prozess unterworfen wurde.


Demokratie und Revolution

Die 320.000 Menschen auf der vulkanischen Insel am nördlichsten Ausläufer des Golfstroms haben das älteste, kontinuierlich tagende Parlament der Welt. Bereits kurz nach der Besiedelung der Insel im 9. Jahrhundert etablierte sich das "Althing", das isländische Parlament, das damals noch im "Thingvellir" tagte. Heute finden die Parlamentssitzungen in Reykjavik statt - mit der Besonderheit, dass die Sitzordnung alljährlich ausgelost wird.

Seit dem Zweiten Weltkrieg war die rechtskonservative Unabhängigkeitspartei kontinuierlich an der Regierung beteiligt. Auf dem Höhepunkt des neoliberalen Wahns stellte sie den Ministerpräsidenten in einer großen Koalition mit den Sozialdemokraten.

Kurz nach dem finanziellen Zusammenbruch kam es zu Samstagsdemonstrationen und einem "Parlament der Straße". Die Demonstrationen fanden ihren Höhepunkt im Januar 2009, als Tausende Isländerinnen und Isländer mit Pfannen, Kochtöpfen und Geschirr zum Althing zogen und dieses lautstark belagerten. Zum ersten mal seit den Protesten gegen den NATO-Beitritt 1949 kam es zu gewalttätigen Übergriffen der isländischen Polizei und dem Einsatz von Tränengas.

Die große Koalition brach auseinander, und es kam zu Neuwahlen mit einem ausgeprägten Linksruck: Sieger waren die Linksgrünen mit 21,7% (2007: 14,3%), sie umfassen ein politisches Spektrum, das in Deutschland von der LINKEN bis zu Teilen der Grünen reichen würde. Hinzu kamen 7,2% für die "Bürgerbewegung", die direkt aus der Anti-Krisen-Bewegung entstanden war und die Unzufriedenheit mit dem etablierten Parteienspektrum ausdrückte. Die rechte Unabhängigkeitspartei stürzte von 36,6% auf 23,4%. Linksgrüne und Sozialdemokraten (29,8%) bilden seitdem die erste formell linke Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg.


EU-Beitritt

Am 23. Juli 2009 reichte die neue isländische Regierung nach heftiger Debatte im Althingi ihren Antrag auf Beitritt zur EU ein - obwohl die isländische Sozialdemokratie die einzige politische Partei im Land ist, die sich eindeutig für einen EU-Beitritt ausspricht. Alle anderen Parteien sind in dieser Frage gespalten, die Beschlusslage der Linksgrünen ist klar ablehnend.

Hintergrund war wohl, dass nur im Rahmen der EU eine Lösung für die desaströse finanzielle Situation des isländischen Staates vorstellbar schien. Binnen weniger Wochen beantwortete die isländische Regierung den mehrere tausend Seiten starken Fragenkatalog der EU-Kommission. Ihre Hoffnung war, noch während der schwedischen Ratspräsidentschaft im Dezember 2009 offiziell die Beitrittsverhandlungen eröffnen zu können.

Die 100 Seiten starke Stellungnahme der Europäischen Kommission wurde jedoch erst am 24. Februar 2010 veröffentlicht. Die zur Eröffnung der Beitrittsverhandlungen notwendige Entschließung des Europäischen Rats wird wohl erst im Juni 2010 erfolgen. Die Regierungen Großbritanniens und der Niederlande wollen diese Verzögerung als HebeI für ihre Verhandlungen über die Übernahme der Icesave-Schulden nutzen. Das EU-Mitgliedsland Großbritannien hat Island sogar zusammen mit Al Qaeda auf die Terrorliste gesetzt, um isländische Vermögenswerte einzufrieren.


Der Icesave-Streit

Bei der Icesave-Bank handelt es sich um eine private isländische Bank, die auf dem Höhepunkt des neoliberalen Casinos in Großbritannien und den Niederlanden Onlinekonten mit hohen Zinsversprechungen eröffnete. Nach dem Bankrott von Icesave zahlten Großbritannien und die Niederlande die Anleger weitgehend aus und fordern nun 3,9 Mrd. Euro vom isländischen Staat zurück.

Rechtsgrundlage dafür seien die EWR-Verträge, die eine Einlagensicherung von gut 20.000 Euro pro Anleger durch den Staat vorsehen, in dem die Bank angesiedelt ist. Island ist Mitglied des Europäischen Wirtscbaftsraums (EWR), dennoch gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen, weil die EWR-Regeln nur den Fall des Zusammenbruchs einzelner Banken, aber nicht eines ganzen Bankensystems vorsehen. Darüberhinaus ist fraglich, ob nicht Großbritannien seine Finanzaufsichtspflicht vernachlässigt hat, da eine effektive Kontrolle der riesigen Icesave-Geschäfte in London durch die kleine isländische Aufsicht offensichtlich nicht möglich war.

Dennoch hat sich die isländische Regierung bereit erklärt, die 3,9 Mrd. Euro zu zahlen - das bedeutet für jede isländische Familie etwa 48.000 Euro. Der Streit entzündete sich an der Frage der Rückzahlungsbedingungen. So hat Großbritannien eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung Islands abgelehnt, Island soll zudem noch 5,5% Zinsen zahlen.

Dennoch verabschiedete das Althingi nach heftiger und kontroverser Debatte Ende Dezember 2009 das Knebelgesetz mit knapper Mehrheit. Der linke Flügel der Linksgrünen um Lilja Mosesdóttir stimmte dagegen. Daraufhin unterzeichnete ein Viertel der Wahlberechtigten eine Petition gegen das Gesetz, wenige Tage später verweigerte der isländische Staatspräsident Olafur Grimmson seine Unterschrift. Die isländische Verfassung sieht in diesem Fall ein Referendum innerhalb von zwei Monaten vor. So kam es zur ersten direktdemokratischen Entscheidung über die Folgen der Finanzkrise.


Das Referendum

Trotz aller Bemühungen scheiterte der Versuch des isländischen Finanzministers Steingrimmur Sigfusson, vor dem Referendum ein neues Abkommen zu schließen und das Referendum damit ins Leere laufen zu lassen. Am 6. März 2010 kam es zur Abstimmung: 93,2% stimmten gegen die Annahme des Gesetzes, weniger als 2% dafür. Die Wahlbeteiligung von knapp 63% war durchaus hoch, wenn man bedenkt, dass die Regierung zur Nichtteilnahme aufrief - jedenfalls die Ministerpräsidentin - und keinerlei "Wahlkampf" stattfand.

Auch wenn es letztlich primär um Zahlungsmodalitäten ging, wurde in der internationalen Öffentlichkeit das Referendum sehr wohl als Rebellion gegen die Abwälzung der Krise auf die Bevölkerung wahrgenommen. "Islands Bürger rebellieren gegen die Banker-Elite" schlagzeilte der Spiegel und "Island unterwirft sich nicht" die Frankfurter Rundschau. Rating-Agenturen drohten unmittelbar nach dem Referendum mit Abwertung, und die deutschen Banken, die mit 16 Mrd. Euro in Island hängen, zeigten sich besorgt.

Olafur Grimmson wurde nach dem Referendum mit den Worten zitiert, man müsse sich "bei der Wahl zwischen der Demokratie und den Finanzmärkten für die Demokratie entscheiden". Dem kann man nur uneingeschränkt zustimmen. Nicht nur in Island.


Tor zur Arktis

Trotz der Verzögerungspolitik durch Großbritannien und die Niederlande, die auch von der deutschen Regierungskoalition unterstützt wird, wird es wahrscheinlich im Juni 2010 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen kommen. Schließlich hat die EU ein virulentes Interesse an Island als Tor zur Arktis. In der Arktis lagern die größten unerschlossenen Öl- und Gasvorkommen der Welt. Aufgrund des zu erwartenden Klimawandels wird mit einem eisfreien arktischen Ozean im Jahre 2040 gerechnet - ein Umstand, der die Ausbeutungsbedingungen erheblich erleichtert. Das mag sich zynisch anhören, liegt aber im Kalkül der Geostrategie.

Die Lage Islands und seine Mitgliedschaft im Arktischen Rat würden der EU den Zugriff auf diese Region und die Teilnahme am "greatgame" dort ermöglichen, "wo die EU bislang nahezu abwesend war", wie der schwedische Außenminister Carl Bildt formulierte. Im Bericht der EU-Kommission heißt es: "Generell könnte Island angesichts seiner geografischen Lage eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Politik der EU im arktischen Raum spielen." Diese Ambition der EU war übrigens auf den Titelseiten der großen US-amerikanischen Zeitungen zu finden, während sie in der europäischen veröffentlichten Meinung kaum diskutiert wurde. Schließlich ist die EU edel, hilfreich und gut und nicht von imperialen Interessen geleitet.


Der Lissabonvertrag

Die isländische Regierung hat nach dem Crash in Übereinstimmung mit dem IWF rigide Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Diese werden nicht als Einstieg in den Ausstieg aus dem kapitalistischen Wahnsinn begriffen, sondern als Übergangslösung. Der Beitritt zur EU - mithin auch zum Lissabonvertrag und seinen Grundlagenverträgen - würde eine vollständige Wiederherstellung des freien Kapitalverkehrs erzwingen. So heißt es in der Stellungnahme der EU-Kommission: "Derzeit unterliegen Finanzgeschäfte zwischen Island und dem Ausland umfassenden Devisenkontrollen. Einige dieser Kontrollen wurden im April 2009 sogar verschärft. Hier muss Island durch Liberalisierungsmaßnahmen die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des freien Kapitalverkehrs gewährleisten." Hier seien noch "erhebliche Anstrengungen" erforderlich.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Regularien des IWF erheblich mehr Spielraum für Kapitalverkehrskontrollen lassen als die EU-Verträge. Auch wenn das Image umgekehrt ist: Die Verträge auf der Grundlage des Lissabonvertrags sind erheblich marktextremer als der (zu Recht) viel gescholtene IWF: Regelungen, wie er sie nach dem Crash in Island eingeführt hat, wären auf EU-Grundlage gar nicht möglich gewesen.

Es gibt Punkte im Rahmen der Beitrittsverhandlungen, wo man sich von linker Seite auch eine Änderung der isländischen Politik wünscht, z. B. beim Walfang. In vielen Puiikten ist Island jedoch der EU weit voraus, etwa in Fragen der Geschlechtergleichstellung (hier liegt Island weltweit auf Platz eins), der Fischereipolitik und vor allem der Demokratie. Wie wäre es etwa, wenn Island aufhörte, Wale zu jagen, und die EU Elemente der direkten Demokratie Islands einführte - z. B. Referenden? Das wäre sicher wünschenswert, ist aber leider noch unrealistisch.

Angesichts des Lavierens der EU in der Icesave-Frage, ihres Umgangs mit Griechenland, ihrer Verzögerungspolitik und der drohenden Aufhebung der isländischen Souveränität in der Fischereipolitik ist die Stimmung in Island mittlerweile gegen einen EU-Beitritt umgeschlagen. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung lehnen gegenwärtig einen Beitritt ab. Es ist schwer vorstellbar, dass sich das grundlegend ändern wird. Über so wichtige Fragen wie den Beitritt zur Europäischen Union entscheidet jedenfalls in Island, im Unterschied zu den meisten europäischen Staaten, am Ende der Souverän: die Bevölkerung.

(*) Isländisch: "Wir werden nicht zahlen!"


Andrej Hunko ist MdB für DIE LINKE. Er war Mitte März im Rahmen einer Delegationsreise des Bundestags in Island.


Staatsschuldenquote in % des BIP

LAND

Belgien
Deutschland
Frankreich
Griechenland
Irland
Italien
Luxemburg
Niederlande
Österreich
Portugal
Spanien
Euro-12
  
1999  
  
114,8
61,2
58,5
105,2
48,6
115,5
5,9
63,1
66,5
54,3
63,1
72,7
2000 2001
109,1 108 
60,2 59,4
56,8 57 
114   114,8
38,3 35,8
111,2 110,7
5,5 7,2
55,9 52,9
67   67,1
53,3 55,8
61,1 57,8
70,4 69,6
2002
105,4
60,9
59 
112,2
32,6
108 
7,5
52,6
66,7
58,4
55 
69,5
2003
100 
64,2
51,4
109,3
32 
106,3
7,1
54,3
65,4
60,3
51,2
70,8
2004
95,6
66 
48,9
110,5
29,9
105,8
7,5
55,7
65,2
61,9
48,9
71,3
2005
94,9
68 
46,5
110,5
29,8
105,6
7,8
57,6
64,4
65,2
46,5
71,7
  
2006  
  
91,7
68,9
67,1
108,9
29,6
106,3
7,9
57,9
64,1
68,5
44,2
71,9
  
2007  
  
  
  
  
95,6
25,1
103,5
  
  
  
63,6
36,1
  
  
2008  
  
  
  
  
99,2
44,1
105,8
  
  
  
66,3
39,7
  
2009



112,6
65,8
114,6


77,4
54,3

Quelle: Österreichische Nationalbank (1998-2006), Wikipedia (2007-2009)


*


Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 25. Jg., April 2010, Seite 14
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2010