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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1449: Serie zu Krisentheorie und -politik, Teil 1


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 - September 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

SERIE ZU KRISENTHEORIE UND -POLITIK
I. Die Profitklemme
Treiben Arbeitskämpfe das Kapital in die Krise?

Von Ingo Schmidt


"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg" (Pierre de Boisguillebert, 1704)

In der bürgerlichen Presse wechseln Meldungen über einen neuen Aufschwung und Warnungen vor einer neuen Krise einander beinahe täglich ab. Die hierin zum Ausdruck kommende Verunsicherung auf Seiten der herrschenden Klasse ist an sich schon Grund genug, sich mit den Ursachen von Wirtschaftskrisen und mit Krisenpolitik zu beschäftigen.
Mit dieser Ausgabe der SoZ beginnen wir deshalb eine Serie zu und Krisenpolitik. Alle Beiträge dieser Serie gehen jeweils einem der marxistischen Theorie nach und klopfen ihn auf seine und aktuelle politische Relevanz ab. Nichtmarxistische werden, sofern sie in der linken Debatte eine Rolle spielen, aus Perspektive vorgestellt.
Zu Krisen wie zu vielen anderen Fragen hat Marx selbst nur Theoriefragmente hinterlassen. Entsprechend buntscheckig und widersprüchlich sind die auf verschiedene Aspekte seines Werkes aufbauenden Krisentheorien. Wer auf eindeutige Antworten aus ist, wird dies als Nachteil empfinden. Wer sich auf das Abenteuer der Realitätserkundung und der damit verbundenen Unwägbarkeiten einlässt, wird in den marxistischen Krisentheorien und ihren Widersprüchen ein reiches Arsenal gedanklicher Provokationen finden.
Selbstverständlich ist dies kein Selbstzweck sondern Teil der Suche nach einer erfolgversprechenden sozialistischen Politik. Wann immer die aktuelle Krise ihre nächste Etappe erreicht oder sonstige einschneidende wirtschaftliche oder wirtschaftspolitische Ereignisse dies nahelegen, werden wir die Serie durch aktuelle Beiträge unterbrechen.


Fragt man Unternehmer, ist die Sache sonnenklar: Krisen werden verursacht durch überhöhte Löhne, Steuern und Regulierungen. Hohe Kosten fressen Gewinnmargen auf und sind für rückläufige Investitionen, Konjunkturrückgang und Arbeitslosigkeit verantwortlich. Aus Sicht des einzelnen Unternehmens stimmt das auch: Würden dessen Kosten bei gleichbleibendem Umsatz sinken, würden die Gewinne steigen und damit auch der Spielraum für Investitionen. Gleichwohl kann man vom einzelnen Unternehmen nicht aufs Allgemeine, den kapitalistischen Weltmarkt, schließen: Wenn alle Unternehmen ihre Kosten senken, bleiben die Umsätze nicht gleich, sondern sinken ebenfalls, weil die Kosten der Unternehmen zugleich Steuereinnahmen bzw. Lohneinkommen darstellen, die als Umsätze an die Unternehmen zurückfließen.

Die neoklassische Wirtschaftstheorie kennt den Unterschied zwischen Besonderem und Allgemeinem natürlich nicht, weil sie die Perspektive des Besonderen, Einzelnen, der natürlich Unternehmer und nicht Arbeiter ist, zum allgemeingültigen Gesetz ernannt hat. Überraschend ist dagegen, dass der Lohn auch im Marxismus, nach eigenem Anspruch die Theorie des großen Ganzen, mitunter als Krisenursache gesehen wird (Goodwin 1967).

Die Akkumulation von Kapital - so argumentieren Anhänger der Theorie der Profitklemme - führt zu steigender Beschäftigung bzw. zur Verringerung der industriellen Reservearmee. Unter diesen Bedingungen können die Beschäftigten ohne Angst vor Arbeitsplatzverlust steigende Löhne durchsetzen. Da dies nicht nur in einzelnen Branchen, sondern in der gesamten Wirtschaft geschieht, findet eine Umverteilung von den Profiten zu den Löhnen statt. Die Profitrate sinkt, der Stachel der Akkumulation erlahmt und die Investitionen sinken - dies führt zur Krise, der Wiederauffüllung der Reservearmee und folglich zu einer sinkenden Verhandlungsmacht der Beschäftigten. Das Auf und Ab von Löhnen bzw. Profitraten verleiht dem kapitalistischen Akkumulationsprozess seinen zyklischen Verlauf und kann nur durch Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise überwunden werden.

Strategische Ansatzpunkte für deren Aufhebung enthält die Theorie der periodisch wiederkehrenden Profitklemme allerdings nicht. Der krisenbedingte Anstieg der Arbeitslosigkeit führt jedes Mal zur Schwächung der Arbeiterbewegung und bereitet mit dem Wiederanstieg der Profitrate den nächsten kapitalistischen Aufschwung vor. In den 60er Jahren schien es jedoch, als hätte die keynesianische Wirtschaftspolitik den kapitalistischen Krisenzyklus beendet und Arbeitslosigkeit zu einer sozialpolitisch leicht zu verarbeitenden Marginalie reduziert. Angesichts dieser Prosperitätsphase wurde die Theorie von der Profitklemme neu interpretiert (Glyn/Sutcliffe 1974). Ohne Angst vor Arbeitsplatzverlust würden immer weitergehende Lohnforderungen gestellt und könnten angesichts der Knappheit an Arbeitskräften auch durchgesetzt werden. Das Kapital sei daher langfristig in einer Profitklemme gefangen, während die Arbeiterbewegung ihre Machtposition schrittweise ausbaue und den Übergang zum Sozialismus vorantreibe.

Empirisch lassen sich zyklische Schwankungen der Lohnquote - das ist der Anteil der Lohn- und Gehaltseinkommen am gesamten Volkseinkommen - sowohl während der Prosperitätsphase in den 50er und 60er Jahren als auch während der danach einsetzenden Phase verringerter Wachstumsraten beobachten. Die Verschiebung in der Einkommensverteilung führt selbstverständlich auch zu niedrigeren Profitraten.

In den 70er Jahren stieg die Lohnquote trotz einer Serie von Konjunktur-, Währungs- und Fiskalkrisen in vielen kapitalistischen Zentren weiter an. Tatsächlich wirkte, wie die Theoretiker einer langfristigen Profitklemme vorausgesagt hatten, die in der Prosperitätsphase erworbene Kampfkraft der Arbeiterbewegung trotz der Wiederkehr von Krisen und Massenarbeitslosigkeit zunächst noch nach. Mit einer wichtigen Ausnahme: In den USA setzte der Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, der in anderen Zentren erst mit der Hinwendung zum Neoliberalismus in den frühen 80er Jahren beginnen sollte, bereits in den 50er Jahren - auf dem Höhepunkt der Nachkriegsprosperität - ein.

Ein langfristiger Anstieg der Lohnquote fand in Amerika nicht statt. Dafür leitete die Verallgemeinerung des Neoliberalismus in den 80er Jahren in allen kapitalistischen Zentren eine langfristige Senkung der Lohnquote ein. Zyklische Schwankungen lassen sich zwar immer noch beobachten, doch die Lohnsteigerungen, die jeder Boom mit sich bringt, werden im Vergleich zum allgemeinen Wirtschaftswachstum und insbesondere zur Produktivitätsentwicklung immer geringer. Produktivitätsgewinne fließen in immer höherem Maße in die Taschen des Kapitals. Unternehmer klagen weiter über hohe Löhne, weil ihnen jeder noch so niedrige Lohn und erst recht dessen Bezieher, der Arbeiter, zuwider ist.

Ihr Problem ist aber gewiss kein Mangel an Profit, sondern ein Mangel an rentablen Investitionsmöglichkeiten. Eine durch steigende Löhne verursachte Profitklemme lässt sich empirisch also bestenfalls in der Vergangenheit, nicht aber in der Gegenwart feststellen. Trotzdem ist die Beschäftigung mit dieser Theorie wichtig für die Strategiebildung in der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Linken, weil sie unabhängig von ihrer theoretischen Konsistenz und ihrem empirischen Gehalt höchst wirkungsmächtig wurde - als nachträgliche Erklärung für den angeblich unvermeidlichen Übergang zum Neoliberalismus.

Die Theorie der Profitklemme konnte zwar die Krise voraussagen, hat aber nicht berücksichtigt, dass mit dem Eintreten der Krise die Arbeitslosigkeit ansteigen und die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht ausgehöhlt würde. Das Kapital arbeitete gezielt auf eine Wiederherstellung der Reservearmee hin und nutzte diese als Ausgangspunkt für eine neoliberale Offensive.

Seither haben Theoretiker des Dritten Wegs und der gewerkschaftlichen Lohnzurückhaltung die Theorie der Profitklemme neu interpretiert. An dem Argument, Lohnforderungen führten zu sinkender Profitrate und Krise, halten sie fest. Allerdings wurde die Schlussfolgerung, die Krise leite den Übergang zum Sozialismus ein, durch die These ersetzt, gewerkschaftliche Lohnforderungen und eine keynesianische Wirtschaftspolitik provozierten das Kapital unweigerlich zu Rationalisierung und Standortverlagerung und seien daher im Interesse der abhängig Beschäftigten zu unterlassen (Scharpf 1987).

Damit schließt sich der Kreis zur neoklassischen Theorie, die Arbeitslosigkeit ebenfalls als eine Folge zu hoher Löhne ansieht. Strategische Alternativen der Arbeiterbewegung sind nur außerhalb dieses Zirkels von Neoklassik und Profitklemmen-Marxismus zu finden.

Es lässt sich von einer jeweiligen wirtschaftlichen Lage eben nicht unmittelbar auf eine politische Entwicklung schließen. Mit Hilfe der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit konnte das Kapital nach den 70er Jahren den Trend steigender Lohnquoten bzw. sinkender Profitraten politisch durchbrechen. Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, dass der damit eingeleitete neue Trend zu immer höheren Profiten zum Ausbruch der Großen Krise 2007 beigetragen hat.

Es kommt jetzt auf die Arbeiterbewegung an, diesem Trend, der durch die Krise noch verstärkt wurde, eine politische Alternative entgegenzusetzen. Die Widersprüche des Kapitalismus führen zu immer neuen Krisen, daraus entsteht jedoch kein Selbstläufer in Richtung Sozialismus.


- A. Glyn/B. Sutcliffe, Die Profitklemme. Arbeitskampf und Kapitalkrise am Beispiel Großbritanniens, Berlin 1974.
- R. M. Goodwin, "A growth cycle", in: C. H. Feinstein et al. (Hg.), Socialism, Capitalism, and Economic Growth, Cambridge, Mass., 1967.
- F. W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt/New York 1987.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 25.Jg., September 2010, S. 19
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2010