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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1531: Arabische Revolution und Freihandel mit EU


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Europa-Nordafrika
Die>arabische Revolution und der Freihandel mit der EU
Die Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen sind noch nicht absehbar

Von Bernhard Schmid


Die für Ende März geplante Konferenz der "Union für das Mittelmeer" ist verschoben worden. Doch auch ihre politischen Prämissen stimmen nicht mehr.


Aufgeschoben ist, in diesem Falle muss man wohl sagen: leider, nicht aufgehoben. Ursprünglich sollte die sog. "Konferenz von Karthago" Ende März statffinden, doch Anfang des Monats wurde sie um zwei bis drei Monate verschoben.

Karthago - französisch Carthage - ist nicht nur eine aus der Antike bekannte Stadt, sondern auch ein Vorort von Tunis, wo der tunesische Präsidentenpalast steht. An der Konferenz sollten und sollen, neben Spitzenpolitikern Tunesiens, vor allem führende Vertreter der Europäischen Union teilnehmen, unter ihnen die Außenministerin der Union, Catherine Ashton. Inhaltlich geht es insbesondere darum, nach den politischen Umbrüchen in Tunesien ein angeblich "bewährtes" Wirtschaftsmodell festzuzurren - und auch nach dem Abgang des alten Regimes einen autoritären Neoliberalismus hinter nunmehr demokaratisierter Fassade beizubehalten.

Vereinbart worden war diese Konferenz am 10. Februar telefonisch zwischen dem damaligen tunesischen Übergangspremierminister Mohamed Ghannouchi und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Obwohl Deutschland politisch keine so wichtige Rolle in Nordafrika spielt wie die frühere Kolonialmacht, im Falle Tunesiens auch Protektoratsmacht, Frankreich, hat die führende Wirtschaftsmacht des europäischen Kontinents doch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.


Ein holpriger Übergang

Der Übergangspremier Mohamed Ghannouchi - ein "Überbleibsel" des alten Regimes, denn er amtierte seit dem 17. November 1999 als Regierungschef des gestürzten Präsidenten Ben Ali - ist inzwischen durch die tunesische Demokratiebewegung gleichfalls gestürzt worden. Nach mehreren Wochen zähen Hinhaltens und äußerst massiven Protesten musste er am 27. Februar seinen Hut nehmen. Zu seinem Nachfolger wurde der 84-jährige Béji Caïd Essebsi ernannt, der zwar in der Vergangenheit ebenfalls als Innenminister des Regimes amtierte, allerdings nicht unter dem verhassten Ben Ali, sondern unter dessen Amtsvorgänger Habib Bourguiba. Letzterer war Staatschef vom Jahr der Unabhängigkeit 1956 an bis zu seiner Absetzung durch Ben Ali im November 1987.

Essebsi, der es bislang geschafft hat, nicht so schlecht beleumdet zu sein wie sein Vorgänger Ghannouchi, hat den Protesten an mindestens einem zentralen Punkt stattgegeben: Das nächste Parlament, das am 24. Juli dieses Jahres gewählt wird, soll als Verfassungsgebende Versammlung fungieren und neue politische Spielregeln ausarbeiten. Erst danach, und nach erneuten Wahlen, soll sich eine neue politische Führung konsolidieren können. Eine Überarbeitung der Verfassung war eine der grundlegenden Forderungen der (linken und sonstigen) Opposition gewesen.

Sehr fraglich ist bislang jedoch, ob auch das "Wirtschaftsmodell" einer gründlicheren Veränderung unterzogen wird. Das wäre nötig, möchte man den Hoffnungen, Wünschen und Forderungen der sozialen Unterklassen - die seit der Arbeitslosenrevolte vom Dezember 2010 und dann im Rahmen der tunesischen Demokratiebewegung in Bewegung gekommen sind - mit halbwegs befriedigenden Antworten entsprechen. Doch auch der Druck derer, die nicht wollen, dass dieses "Wirtschaftsmodell" ernsthaft angetastet wird, ist stark.

Die arbeiten mit Zuckerbrot und Peitsche. Ersteres besteht in der großzügigen Ankündigung, etwa seitens der EU, den tunesischen politischen Eliten "unterstützend" und "beratend" bei den allfälligen "Reformen" zur Seite zu stehen. Letztere handhaben unterdessen die wirtschaftlichen Investoren, übrigens ausländische wie einheimische: Angesichts der anhaltenden Streiks auf breiter Front, der häufig stattfindenden Demonstrationen und übrigen politisch-sozialen Konflikte in Tunesien drohen sie derzeit massiv damit, ihre Gelder abzuziehen und im "ruhigeren" Marokko anzulegen. (Auch dort haben inzwischen allerdings massive soziale Proteste stattgefunden, etwa am 20. Februar und am 20. März, ohne bisher zum Sturz der Monarchie zu führen.)


Arbeitslos sind die Gebildeten

Die Ursachen der Revolte, die sich in Tunesien im Dezember 2010 und Januar 2011 schnell zu einer Umsturzbewegung ausgeweitet hat, liegen in politischen Faktoren, aber auch in den ökonomischen Strukturen. Eines der Konfliktthemen waren die Arbeitsplätze, die für wachsende Teile der jüngeren Generation nur noch im so genannten "informellen Sektor" (besonders in den Bereichen Schmuggel und illegalisierter Import von Waren aus Europa oder Ostasien) zu finden sind. Zu diesem Teil der nachwachsenden Generation zählte auch der 26-jährige Mohammed Bouazizi, der mit seiner Selbstverbrennung am 17. Dezember die Revolte ausgelöst hat.

Die tunesische (und auch die marokkanische) Ökonomie ist dabei keineswegs generell unfähig, "Arbeitsplätze anzubieten" - nur eben nicht auf einem Niveau, das dem Schul- und Ausbildungsniveau vieler Angehöriger der jungen Generationen entsprechen würde. In allen drei zentralen Ländern des Maghreb - Marokko, Algerien, Tunesien - liegt die Arbeitslosenquote bei den beruflich "Unqualifizierten", die sog. einfache Tätigkeiten in Landwirtschaft oder Industrie verrichten, jeweils unter fünf Prozent. Erst mit steigendem Schul- oder gar Hochschulabschluss wächst das Risiko, arbeitslos zu bleiben, spürbar. In Marokko bspw. stieg es in den letzten Jahren beinahe linear mit fortschreitendem Bildungsniveau. Dort betrug die gesamtgesellschaftliche Arbeitslosenrate zuletzt 9,1%, die Arbeitslosigkeit bei den unter 30-jährigen - die meist wesentlich besser ausgebildet sind als die Generation ihrer Eltern - hingegen 17,6% (Zahlen für 2008). Unter den Hochschulabgängern betrug sie gar 29% im Jahr 2000 und sank acht Jahre später (ausweislich der offiziellen Statistik) auf 20%. In der Zeit waren neue Wirtschaftszweige aufgebaut worden, da sich nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA manche Banken und Finanzdienstleister in Marokko ansiedelten.


Freihandelsbeziehungen

Besonders Tunesien und Marokko, mit zeitlicher Verzögerung und auf anderen Wegen übrigens auch Ägypten, erfuhren in den letzten Jahren starke Transformationen ihrer Nationalökonomien. Diese führten zu einer verstärkten Spezialisierung im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung. Ein Faktor war dabei der Abschluss von Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union - jeweils bilaterale Verträge zwischen der EU als Ganzes und je einem Land. Die ersten beiden dieser Assoziierungsverträge zum Zwecke der Herausbildung einer bilateralen Freihandelszone wurden mit Tunesien am 17. Juli 1995, und mit Marokko am 26. Februar 1996 unterzeichnet, drei bzw. vier Jahre später traten sie in Kraft. Innerhalb eines Zeitraums von zwölf Jahren sehen sie den vollständigen Abbau von Zollschranken vor.

Dies bedeutet aber, dass ganze Wirtschaftsbranchen und Produktionszweige in diesen Ländern - die zuvor oft, auf vergleichsweise geringem Produktivitätsniveau, für den einheimischen Bedarf produzierten - durch die produktivere EU-Industrie "plattgemacht" werden. Die tunesische oder marokkanische Verarbeitung von Agrarprodukten zu Lebensmitteln oder die Herstellung von Schuhen und Kleidern etwa kann unter diesen Bedingungen im erbarmungslosen Konkurrenzkampf oft nicht bestehen. Die Konsequenz ist, dass viele bisher bestehende Arbeitsplätze zerstört wurden.

Dass dennoch gesamtgesellschaftlich die Arbeitslosigkeit (jedenfalls nach offiziellen Zahlen) in allen drei Hauptländern des Maghreb von 2000 bis 2008/09 abnahm, hängt damit zusammen, dass sich stattdessen dort spezialisierte Produktionszweige, besonders aus Europa, ansiedelten. Sie fertigen Zuliefererprodukte für den EU-Binnenmarkt, in der Regel jedoch jeweils in Form von "Nischenproduktionen". So produziert Tunesien für die europäische Automobilindustrie. Aber nicht die Herstellung von Fahrzeugteilen wurde dorthin vergeben, sondern die - geringere Qualifikationen in Anspruch nehmende - Herstellung von Ausstattungsartikeln wie etwa Autoteppiche oder Sitzbezüge. Die Fahrzeugteile selbst werden in Spanien oder Osteuropa hergestellt, zusammenmontiert werden die Autos in Frankreich oder Deutschland.

Auch die Auslagerung von Call Centern, besonders aus Ländern wie Frankreich, spielt eine zentrale Rolle für die derzeitige tunesische Dienstleistungsökonomie. Neben Europäern investieren auch reiche Araber aus den Golfstaaten, etwa in Tunesien im Dienstleistungs- und Tourismussektor, und haben dabei oft einheimische Wirtschaftakteure verdrängt - jedenfalls bevor die Weltwirtschaftskrise 2008/09 auch die Emirate am Golf (wie Dubai) heftig erwischte.

Die Handlangertätigkeiten, die nach Nordafrika ausgelagert werden und bislang dort bestehende Produktionen verdrängen oder ersetzen, nehmen jedoch ganz überwiegend ein geringes Qualifikationsniveau in Anspruch. Die besser ausgebildeten jungen Leute kann man dafür schlichtweg nicht gebrauchen. Und da sie dank ihres schulischen Niveaus über eine gewisse Reflexionsfähigkeit verfügen, gelten sie den "guten Familien" - die in ihren jeweiligen Ländern der politischen Macht nahe stehen und die wichtigsten Entscheidungen in der Wirtschaft fällen - sogar als gefährliche Störenfriede. Man sieht sie deswegen lieber Leib und Leben riskieren, um ("illegal") auszuwandern, oder aber im informellen Wirtschaftssektor ihr Dasein fristen.


Von Euro-Med zur Union für das Mittelmeer

Den politischen Rahmen für diese ökonomischen Beziehungen zwischen der EU und Nordafrika bildete zunächst der sog. "EuroMed"-Prozess oder Prozess "für eine Europa-Mittelmeer-Partnerschaft", der durch eine internationale Konferenz in Barcelona im November 1995 lanciert wurde. Diese "Partnerschaft" sollte eine europäische Antwort auf die Klagen aus Ländern am Südufer des Mittelmeers sein, sie würden wirtschaftlich marginalisiert, weil Europa seine Investitionen in Folge des Umbruchs von 1989 in Richtung Osten umverlagert habe.

Der "EuroMed-Prozess" basierte vor allem auf bilateralen Verträgen der EU mit einem Dutzend Ländern im Süden und Osten des Mittelmeers. Im Juli 2008 wurde er durch die Gründung (am 13./14. Juli) der "Union für das Mittelmeer", französisch abgekürzt UPM, abgelöst. Letztere beruhte auf einer politischen Initiative des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, sie handelte Frankreich jedoch erhebliche politische Konflikte mit Berlin ein, da die deutschen Eliten fürchteten, hier werde der EU auf ihrer Südflanke ein größerer Klotz ans Bein gebunden, während die europäischen Kapitalinteressen in Wirklichkeit eher in Richtung Russland und Asien zu verfolgen seien.

Um sich einen Einfluss auf das Projekt zu bewahren, setzte die deutsche Bundesregierung damals durch, dass nicht nur die Mittelmeeranrainer Frankreich und Italien an dem Projekt teilnähmen, sondern die gesamte Europäische Union, mit allen 27 Mitgliedsländern. Nun reicht sie bis Finnland, dadurch wurde sie jedoch überdehnt und zugleich ihres politischen Inhalts entleert; ferner verfügt sie zwar über regionale Strukturen, aber über kein eigenes Budget. Berlin hatte die Ambitionen Nicolas Sarkozys an diesem Punkt ausgebremst.

Seit den Umbrüchen in Nordafrika ist das Projekt weitgehend tot, denn Sarkozy hatte die UPM mit Hilfe der Diktaturen am Südrand des Mittelmeers aufbauen wollen. Eines ihrer wichtigsten Standbeine war etwa das Regime Hosni Mubaraks, der bis zu seinem Sturz Vizepräsident der UMP war. Nunmehr wird das Projekt auf völlig neuer Grundlage lanciert werden müssen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 26.Jg., April 2011, S. 13
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2011