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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1800: Protestsymbol Klobürste


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2 - Februar 2014
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Protestsymbol Klobürste
Hamburg: Widerstand gegen Überwachungsstaat und Kontrollwahn der Polizei

Von Florian Osuch



Soziale Bewegungen trotzen einem "Gefahrengebiet" in Hamburg.


Was für ein Januar in Hamburg! Die Polizei hatte nach Ausschreitungen bei einer Demonstration für den Erhalt des besetzten Zentrums Rote Flora über weite Teile der westlichen Innenstadt ein "Gefahrengebiet" verhängt. Betroffen waren die Bezirke Altona, St. Pauli und Sternschanze, wo insgesamt etwa 80.000 Menschen leben. In dieser Sonderzone konnten die Beamten verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen und Platzverweise und Aufenthaltsverbote aussprechen. Von ihren Sonderbefugnissen machte die Polizei massiv Gebrauch. Oft reichte ein bis über das Kinn gezogener Schal oder eine Kapuzenjacke, um kontrolliert zu werden. Bis zu tausend Personen sollen von der Maßnahme betroffen gewesen sein.

Doch die sozialen Bewegungen in Hamburg trotzten dem "Gefahrengebiet". Zwischen der Einrichtung der Sonderzone am 4. Januar bis zu deren Auflösung am 13. Januar fanden jeden Abend Demonstrationen statt. Die als "Stadtteilrundgang" deklarierten Umzüge waren meist nicht offen angekündigt. Die Aktivisten informierten sich per Handzettel oder SMS. So zogen anfangs einige Dutzend, dann Abend für Abend mehrere hundert Personen durch die Stadtteile Sternschanze und St. Pauli.


Kapitulation vor kreativem Umgang

Als die Tagesschau über das "Gefahrengebiet" berichtete und ein Mann zu sehen war, der mit einer Klobürste in der Hand gerade durchsucht werden sollte, hatte die Bewegung ihr Symbol. Binnen weniger Tagen waren die Polizeimassnahmen zum Gespött geworden. Anwohner gingen in die Offensive und packten sich allerlei außergewöhnliche Gegenstände in ihre Taschen. So kam es, dass genervte Beamte Kinderspielzeug, Küchenkleingeräte, Bücher ("Gewaltfreie Kommunikation"), Vibratoren und andere Sexspielzeuge oder Klorollen bei den Kontrollen fanden, aber keine gefährlichen Gegenstände. Stolz hatte die Polizei anfangs verkündet - es war kurz nach Silvester -, vereinzelt Feuerwerkskörper sichergestellt zu haben.

Die Proteste wurden täglich größer und bunter. Mit einer Lärmdemo demonstrierten Anwohner gegen die Polizeischikanen in ihrem Viertel. Es gab offene Briefe von Gewerbetreibenden, und mehrere hundert Personen trafen sich zu einer Kissenschlacht auf der Reeperbahn. Bis zu 600 Menschen beteiligten sich an einer Fahrraddemo quer durch die Hamburger City und das "Gefahrengebiet".

Die Polizei war bisweilen überfordert und reagierte zu Beginn mit Einkesselungen und Ingewahrsamnahmen. Als die "Spaziergänge" mehr Zulauf erhielten, kapitulierte sie schließlich.

Von den Parteien war es die Linkspartei, die von Beginn an die Maßnahmen kritisierte. Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Bürgerschaftsfraktion der LINKEN, kritisierte, die Polizei würde ihre Kompetenzen "selbständig und massiv ausweiten - zulasten der Grundrechte von Bewohnern und Besuchern". Später schlossen sich auch die Grünen, Piraten und die FDP der Kritik an. Am 18. Januar erklärte die Polizei das "Gefahrengebiet" für aufgelöst.


Schnellschuss

Die Sonderzone war eingerichtet worden, nachdem es in Hamburg am 21. Dezember zu heftigen Krawallen gekommen war. Die Polizei hatte eine Demonstration für den Erhalt der Roten Flora nach nur einhundert Metern gestoppt. Daraufhin kam es zu massiven Ausschreitungen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten sprach von einem "Komplettversagen der Hamburger Innenpolitik". Bundessprecher Thomas Wüppesahl hielt die "Zerschlagung der Demonstration" für rechtswidrig. Die Polizei habe wie eine "Ordnungsmacht des finsteren Mittelalters" gehandelt.

Die Medien in der Stadt debattierten den "Gewaltausbruch"; zuvor bedeutsame Themen wie die Verdrängung und der knappe Wohnraum in Hamburg rückten in den Hintergrund. Dann berichtete die Polizei am 28. Dezember von einer Attacke auf eine Dienststelle. Die Stadt war geschockt. Eine Mordkommission wurde mit den Ermittlungen betraut. Es gab Aufrufe zur Solidarität mit der Hamburger Polizei.

Der vermeintliche Angriff war der Auslöser für die Einrichtung des "Gefahrengebiets". Später sollte sich herausstellen, dass es gar keinen Angriff auf die Polizeiwache gegeben hatte (siehe Kasten). So kam es, dass die Kritik am Kurs der Polizei lauter wurde. Die Einrichtung des "Gefahrengebiets" erwies sich als Schnellschuss.


Der Senat rudert zurück

Der Hamburger Senat verlor zunehmend die Deutungshoheit. Kritik an der "Gefahrenzone" wurde auch bundesweit laut. SPD-Bürgermeister Scholz schickte seinen Finanzsenator ins Rennen: Peter Tschentscher erklärte, die Stadt wolle die Rote Flora zurückkaufen.

Im Jahr 2001 hatte ein SPD-Grüne-Senat das Gelände und Gebäude für gerade einmal 190.000 Euro an einen Immobilienspekulanten verscherbelt. Jetzt bot Finanzsenator Tschentscher dem Eigentümer 1,1 Millionen Euro für Grundstück und Rote Flora. Sollte der Besitzer Klausmartin Kretschmer das Angebot nicht annehmen, werde die Stadt von ihrem Wiederkaufsrecht Gebrauch machen und nur den einstigen Verkaufspreis bezahlen.

Mitte Januar trat zudem eine Änderung im Bebauungsplan für das Areal in Kraft. Dem Flora-Besitzer ist es nun unmöglich, das Zentrum abzureißen oder baulich zu verändern, denn für solche Vorhaben bräuchte er eine Genehmigung der Baubehörde des Bezirks Altona.

Nach Auflösung des "Gefahrengebiets" demonstrierten am 18. Januar in Hamburg bis zu 6.000 Menschen unter dem Motto "Recht auf Stadt". So wurden wieder die ursprünglich auf der Flora-Demonstation vom 21.12. angesprochenen Themen in das Zentrum der Debatte gerückt: steigende Mieten, Immobilienspekulation, Vertreibung usw. Die Demonstration führte quer durch die ehemalige Polizeisonderzone vorbei an der besetzten Roten Flora und den "Esso-Häusern" auf der Reeperbahn.

Die Esso-Häuser in St. Pauli sind zum Symbol für Immobilienspekulation geworden. Ein Investor ließ die Sozialbauten verfallen, jetzt gelten sie als einsturzgefährdet, die Bewohner mussten ihre Wohnungen verlassen. Auch die Forderungen der Flüchtlingsgruppe "Lampedusa in Hamburg" wurde wieder aufgegriffen. Für den 1. März rufen sie zu einer Großdemonstration und Parade durch die Hamburger Innenstadt auf.


Näheres unter:
www.rechtaufstadt.net, http://lampedusa-hamburg.info und www.rote-flora.de.


KASTEN
 
Anschlag auf Polizeiwache nur erfunden?

Ende Dezember behauptete die Hamburger Polizei, am 28. Dezember habe es eine Attacke auf ein Polizeirevier gegeben. Bis zu 40 Personen, teilweise mit Schals des FC St. Pauli vermummt, hätten eine Wache auf der Reeperbahn attackiert und herauseilende Beamte gezielt mit Flaschen und Steinen beworfen. Ein 45jähriger Polizist sei dabei schwer verletzt worden.
Der Hamburger Anwalt Andreas Beuth erhob eine Woche später den Vorwurf, den Angriff habe es gar nicht gegeben. Im Rahmen seiner anwaltlichen Tätigkeit seien ihm "schwerwiegende und begründete Zweifel" an der Version der Polizei gekommen. Es habe weder 40 Vermummte gegeben, noch "Personen vor der Davidwache, deren Plan und Ziel es gewesen wäre, das Polizeirevier oder deren Beamte zu attackieren". Der Anwalt, der auch die Rote Flora in juristischen Fragen berät, sah politische Interessen der Polizeiführung hinter den "Falschbehauptungen". Die Polizei habe auf die Einrichtung "eines unbefristeten Gefahrengebiets" geschielt, sagte er.
Die Polizei rückte später von ihrer ersten Version etwas ab. Der Vorfall, bei dem ein Beamter schwer verletzt worden war, habe sich nicht vor der Davidwache, sondern einen Häuserblock weiter abgespielt. Spiegel online machte einen Augenzeugen ausfindig. Dieser berichtete von Geschrei zwischen mehreren Personen ("Keiner war vermummt") und der Polizei. Für ihn sah dies jedoch eher nach einer Pöbelei aus, "wie sie im Kiez schon mal vorkommt".

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2, 29. Jg., Februar 2014, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2014