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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1813: In die Jahre gekommen - Die globale Freihandelsordnung


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 - März 2014
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

In die Jahre gekommen
Die globale Freihandelsordnung

Von Ingo Schmidt



"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg"
(Pierre de Boisguillebert, 1704)  


Am 1. Januar 1994 trat der Vertrag über die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) zwischen Kanada, Mexiko und den USA in Kraft. Mitte April desselben Jahres folgte nach siebenjährigen Verhandlungen die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO). Ein Jahr zuvor war auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen die Marschrichtung für die EU-Osterweiterung festgelegt worden. Zehn neue Mitgliedstaaten, darunter Polen, Ungarn und die baltischen Staaten, wurden nach gut zehnjährigen Verhandlungen im Frühjahr 2004 aufgenommen.


Mit diesen Freihandelsverträgen nahm die Weltordnung nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Weitmarktöffnung Chinas, das der WTO im Dezember 2001 beitrat, Gestalt an. Diese Abkommen sollten private Wirtschaftsinteressen gegen staatliche Sozial- und Umweltstandards durchsetzen. Die gleiche Prioritätensetzung hatte den Strukturanpassungsprogrammen zugrunde gelegen, die der IWF und die Weltbank den von der internationalen Schuldenkrise betroffenen Ländern des Südens in den 80er Jahren auferlegt hatten. In den 90er Jahren wurde das Prinzip des politisch garantierten Marktzutritts auf die Länder des Ostens ausgedehnt und seither auch auf expandierende Wirtschaftsbereiche, insbesondere auf den Handel mit Dienstleistungen und den Schutz geistigen Eigentums.


Die neuen Herrscher Osteuropas

Dass die neue Weltordnung gegebenenfalls auch mit Waffengewalt durchgesetzt würde, hatten die USA und ihre Verbündeten bereits mit dem Irakkrieg 1990 deutlich gemacht. Der Eindämmung mächtigerer Staaten, allen voran den Atommächten Russland, China und Indien, diente die Osterweiterung der NATO, die in drei Stufen erfolgte: 1999, 2004 und 2009. Auf diese Weise sicherten sich die USA zugleich ihren Einfluss in Europa.

In Westeuropa gab es, insbesondere im Vorfeld des zweiten Krieges gegen den Irak 2003, immer wieder Stimmen, Europa als sozialen Gegenpol zu den freihändlerisch-militaristischen USA zu entwickeln. Den neuen Herrschern in Osteuropa galten die USA dagegen als Garant der Unabhängigkeit gegenüber der Kollaboration, die westeuropäische Sozialdemokraten und russische "Kommunisten" im Namen der Entspannungspolitik betrieben hatten.

Die Vorstellung Osteuropa würde, kaum dass es die Herrschaft Stalins und seiner Nachfolger abgeschüttelt hatte, von den Nachfahren Eduard Bernsteins regiert, war vollkommen irreal. Schließlich konnten die neuen Sozialdemokraten Osteuropas den Versuchungen der Selbstbereicherung ebenso wenig widerstehen wie ihre "kommunistischen" Vorgänger den Karrieren in Staats- und Parteiapparaten. Sie wurden wegen ihrer Korruption alsbald abgewählt - um mindestens ebenso korrupten Oligarchencliquen und ihrer politischen Entourage Platz zu machen.

Auch diese waren freilich Knechte der neuen Herrschaft, die sich in Osteuropa durchsetzte. Sie wurde weder von westeuropäischen Sozialdemokraten noch von postkommunistischen Kremlherren ausgeübt, sondern von den Eigentümern und Managern privaten Kapitals. Abkommen und Institutionen wie NAFTA, EU und die WTO dienten der Absicherung ihrer Herrschaft. Diese stehen nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zu den Funktionen des Nationalstaats, sondern unterstützen vielmehr die Verschiebung von seinen sozialstaatlichen zu seinen repressiven Funktionen. Freihandel bedeutet nicht das Ende staatlicher Intervention, sondern deren Transformation vom sozialen Ausgleich zur Marktöffnung und Privatisierung.

Die Rolle Deutschlands

So wenig sich die Staaten nach dem Kalten Krieg im Weltmarkt auflösten, so wenig verschwanden die Machtgefälle zwischen den Staaten. Allerdings gab es massive Umschichtungen. Am augenfälligsten ist die Abwertung der ehemaligen Supermacht Sowjetunion zur Regionalmacht Russland. Mit dem Ende der Sowjetunion entstand ein Machtvakuum, das die USA teilweise zu füllen verstanden, ohne sich nach der Rolle des regionalen Statthalters zu drängen.

Dazu fühlten sich die Deutschen berufen. Nach dem Vollzug der deutschen Einheit warnten britische Konservative und deutsche Antideutsche, ein gerade entstehendes Viertes Reich werde nach der Weltmacht greifen. Diesen Warnungen lag die Vorstellung zugrunde, die Kräfte, die Hitler zur Anzettelung zweier Weltkriege getrieben hätten, seien durch den Kalten Krieg und die Spaltung Deutschlands nur unterdrückt worden, sie bestünden unverändert fort.

Dem war nicht so. Mit der Bodenreform in der DDR sowie dem Verlust Ostpreußens, Pommerns und Schlesiens an Polen bzw. die Tschechoslowakei war dem Bündnis zwischen Schwerindustrie und Junkertum - die treibende Kraft des deutschen Imperialismus - ein für allemal der Boden entzogen. Nach der Maueröffnung 1989 hatten weder deutsche noch anderswo beheimatete Kapitalisten ein Interesse daran, die vorkapitalistische, junkerliche Produktionsweise wiederherzustellen. Folgerichtig wurden die Ergebnisse der Bodenreform in der DDR im Zwei-plus-vier-Vertrag festgeschrieben. Zudem ist die Schwerindustrie bis zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der deutschen Bourgeoisie der Weltmarkt mehr als die Weltmacht. Daran hat sich auch nach 1990 nichts geändert. Die Gelegenheit, die Geschäftsbedingungen in den neuen Märkten Osteuropas zu bestimmen, wollte man sich freilich nicht entgehen lassen. Dafür erkannten Kohl und Genscher 1991 die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens an und trieben damit den Zerfall Jugoslawiens voran. Dafür zogen Schröder und Fischer 1998 in den Krieg gegen Serbien. Deshalb drang die Bundesregierung darauf, dass die Staaten Osteuropas ihren EU-Beitritt nicht als gleichberechtigte Partner aushandeln konnten, sondern einzeln ihre Anerkennung des EU-Regelwerks beweisen mussten.


Neue Peripherien

Der Erfolg blieb nicht aus. Deutsche Unternehmen dominieren nicht nur die Absatzmärkte Osteuropas. Sie beschäftigen zudem billige Arbeitskräfte, sei es durch Produktionsverlagerung nach oder Arbeitsmigration aus Osteuropa. Sie müssen als Sündenbock für den Unmut über die zunehmende Arbeitsmarktkonkurrenz herhalten. Die Internationalisierung des Kapitals führt, sofern keine politische Gegenbewegung entsteht, zur Spaltung der Arbeiter unterschiedlicher Herkunft. Und sie führt zu Wirtschaftskrisen. Osteuropa, allen voran die Vorzeigemarktwirtschaften im Baltikum, fielen Schuldenkrise und Spardiktat schon 2008/2009 zum Opfer, noch bevor die südeuropäischen Peripherien vom gleichen Schicksal ereilt wurden.

Die Brüsseler und Berliner Herren des Marktes sind in Osteuropa mittlerweile ebenso verachtet wie früher die Verwalter des Fünfjahrplans. Nach der Diskreditierung real existierender "Sozialismen" und Kapitalismen erscheint vielen Osteuropäern der Traum nationaler Größe als einzige Alternative zu den Problemen des Alltags. Dabei stehen sie vor den gleichen Problemen der Existenzunsicherheit wie die Arbeiter, Arbeitslose, Studenten und Rentner in anderen Ländern.

Wenn überhaupt, lässt sich hieraus ein Internationalismus von unten entwickeln, der der Internationale des Kapitals und dem damit verbundenen Nationalismus für das Volk entgegengestellt werden kann. Das müssen sich auch die Zapatistas gedacht haben, als sie die NAFTA-Gründung mit ihrem Aufstand in Chiapas begrüßten. Mit ihrer Einladung, Linke verschiedenster Überzeugungen mögen bei einer Reihe intergalaktischer Treffen eine gemeinsame Strategie ausarbeiten, legten sie den Grundstein der globalisierungskritischen Bewegung. Der poetisch-utopische Überschwang der Zapatistas und ersten Sozialforen hat die Kriege und Krisen seit der Jahrhundertwende nicht überlebt, bleibt aber eine Inspiration für die realistisch zu kalkulierenden Kämpfe unserer Tage.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 29. Jg., März 2014, S. 17
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2014