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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2011: Gespräch - Aus dem Alltag junger Männer in einer Flüchtlingsunterkunft


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, März 2016
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Die Politik wacht erst auf, wenn es brennt"
Aus dem Alltag junger Männer in einer Flüchtlingsunterkunft - ein Gespräch mit Karsten Schneider


Karsten Schneider(*) ist Sozialarbeiter in einer städtischen Einrichtung in Norddeutschland, in der rund 30 männliche jugendliche Flüchtlinge untergebracht sind. In einem ausführlichen Gespräch mit der SoZ berichtet er über seine alltäglichen Erfahrungen und Erkenntnisse.


SoZ: Wie sehen deine Erfahrungen mit den jugendlichen Flüchtlingen aus? Was erlebst du in diesen Wochen und Monaten?

Karsten Schneider: Naja, ich erlebe alles mögliche. Da ich schon etwas älter bin, über 40, treten mir die jungen Männer bei allen Kommunikationsschwierigkeiten mit großem Respekt gegenüber. In der Regel kommen sie aus dem Irak, Syrien, Afghanistan, die meisten jedoch aus Syrien. Da nur ein Teil von ihnen englisch spricht und wir über Ecken kommunizieren müssen, ist die Kommunikation mitunter mühsam. Wenn man die jungen Männer aber näher kennt und weiß, wie man die Verbindung hinkriegt, wird das besser.

Im tagtäglichen Umgang läuft das aus meiner Sicht richtig gut. Manchmal ist es nicht so leicht, ein Ordnungssystem zu erarbeiten, denn ich hab keine Lust, meine Zeit mit Aufräumen von Frühstücks- und Mittagstischen zu verbringen. Es dauert eine Zeit, bis man die Jungs so weit hat, dass sie ihren Kram selber aufräumen. Das ist ein Lernprozess. Vielleicht sind meine Maßstäbe auch zu hoch, wenn man in einer Einrichtung arbeitet, wo alles sehr improvisiert ist. Es gibt zwei Sozialarbeiter für 30 junge Männer, da ist es schwierig, für normale Ordnung zu sorgen.


SoZ: Wie lange sind die Jugendlichen schon da?

Karsten Schneider: Das ist unterschiedlich, einige zweieinhalb Monate, einige wenige Wochen, das ist stets ein fließender Prozess. Oft ziehen sie schon weiter, nachdem gerade erst ein Vertrauensverhältnis mit uns und untereinander entstanden ist. Dann geht einer oder mehrere weg, neue kommen dazu, mit neuen Konflikten.

Man darf nicht unterschätzen, mit welchen Erfahrungen die Männer hierherkommen: aus ihren Ländern und auf der Flucht. Das sorgt jedesmal für neue Unruhe. Dazu kommt die Hölle der elektronischen Kommunikationsmittel. In der Regel kommunizieren die Männer über Handys mit ihren Familien und dann passieren solche Sachen, dass die Familien erzählen, was in ihrem Ort passiert ist, wer was mit ihnen gemacht hat, beispielsweise, dass Kurden das Dorf angegriffen haben. Daraus kann dann plötzlich eine Schlägerei entstehen zwischen Jungen, die aus Kurdistan bzw. aus Syrisch-Kurdistan gekommen sind, und anderen Syrern - obwohl sie sich vorher gut verstanden haben. Niemand kann es sich erklären, der Auslöser ist eine Nachricht, von der man gar nicht weiß, ob sie stimmt. Daraus ergeben sich dann oft Schlägereien, die manchmal richtig brutal sind. Danach sind die Männer entsetzt darüber, was sie angestellt haben. Solche Situationen können Teil des normalen Alltags sein.


SoZ: Wird da die Polizei gerufen?

Karsten Schneider: Die Polizei muss manchmal gerufen werden, manchmal beruhigt es sich von selber.


SoZ: Traut man sich, dazwischen zu gehen?

Karsten Schneider: Man kann als Sozialarbeiter beruhigend dazwischen gehen, und wenn da eine Beziehung aufgebaut ist, funktioniert das auch, aber manchmal rufen sie auch selber die Polizei.


SoZ: Haben sie deren Nummer?

Karsten Schneider: Ja klar. Diese junge Menschen sind auf der Ebene der Kommunikation fitter als ich. Sie sind sehr schnell orientiert und sprechen sich auch ab. Wenn die Polizei kommt, sind die Sachen dann manchmal auch schon geklärt. Es ist bei uns noch nie jemand festgenommen worden, die Sachverhalte ließen sich alle klären, aber in Windeseile hat sich da manchmal eine Atmosphäre aufgeschaukelt.

Häufig liegt es auch an der gähnenden Langeweile, weil die jungen Männer warten, warten, warten - nicht zuletzt auf die Behördenbesuche. Dann kommt es zu solchen Explosionen. Man kann sagen, da gibt es einen Zusammenhang, den gibt es aber nicht immer. Es ist ein Auf und Ab, das macht die Arbeit als Sozialarbeiter ziemlich aufreibend.


SoZ: Im Zusammenhang mit den Sylvesterereignissen in Köln wurde darauf verwiesen, dass diese Übergriffe von jungen, alleinstehenden männlichen Flüchtlingen begangen wurden. Habt ihr erlebt, dass junge Männer bei euch in der Einrichtung irgendwie Kleinkriminalität drinnen oder draußen begangen haben?

Karsten Schneider: Also ich kenn' das nicht. Wir hatten Angst, dass da Leute aus der Drogenszene vor den Einrichtungen auftauchen könnten, um ihre Sachen zu verticken, das ist bisher aber noch nicht passiert. Wir haben auch noch keine Anwerbeversuche bemerkt. Mein Eindruck ist, bei aller Vorsicht, dass solche Sachen bislang nicht über solche Einrichtungen selber laufen.


SoZ: Habt ihr über die Ereignisse in Köln mit den jungen Flüchtlingen gesprochen?

Karsten Schneider: Lange Zeit haben die das gar nicht mitgekriegt. Sie lesen keine deutschen Zeitungen, Fernsehen gibt es nicht in ihrer Sprache. Es ist ganz langsam durchgedrungen, wir haben versucht, es anzusprechen, aber das ist nicht leicht, wir können wenig tun außer sagen: Wir stehen zu euch, wir machen weiterhin mit euch die Arbeit. Es hat auch nicht so eine große Rolle spielen können, ich bin ja in einer Einrichtung, die neu aufgemacht wurde.


SoZ: Habt ihr professionelle Übersetzer?

Karsten Schneider: Wir haben ordentliche Dolmetscher, die selber aus dem arabischen Raum kommen, die auch Gerichtsübersetzungen machen. Aber ich habe auch gehört, dass es unter den geflüchteten jungen Männern richtige Sprachtalente gibt, die nach vier Monaten gut Hochdeutsch sprechen, sie haben das Talent und meistens auch eine entsprechende Schulausbildung hinter sich. Die machen solche Arbeiten, kriegen aber nichts dafür. Es sind meist diejenigen, die sich am schnellsten hier zurecht finden.

Zu den Übersetzern möchte ich was sagen: Diese Menschen sind wirklich in einer extremen Stresssituation, nicht in unserer Einrichtung, aber wir hören es von Übersetzern, die auch bei uns tätig waren. Deren Job ist es, von morgens bis abends die Elendsberichte der Flüchtlinge anzuhören und zu übersetzen. Von den Behörden wird ja teilweise bis ins Detail nachgefragt, bis in die tiefste Intimität, was da passiert ist, warum die Menschen auf der Flucht sind. Und die Übersetzer gehen wirklich an ihre Grenzen. Ich habe mit Übersetzern gesprochen, die sagen, niemand hilft uns. Wir wissen nicht mehr, wie wir diese ganzen Sachen abends mit uns herumtragen können.


SoZ: So manche Pannen der Bürokratie, die jetzt offenbar werden, bedeuten ja für die jungen Männer, dass ihre Situation des Herumhängens und Wartens auf unabsehbare Zeit verlängert wird. Das muss doch fürchterliche Konsequenzen haben.

Karsten Schneider: Das ist die absolute Katastrophe. Das beste ist ja noch, wenn es zu einer Familienzusammenführung kommt. Da möchte ich betonen, dass die Position, die jetzt oft eingenommen wird, dass nämlich der Familiennachzug in Frage gestellt wird, aus meiner Sicht die absolute Katastrophe ist. Natürlich ist es so, dass manchmal die Kräftigsten, Intelligentesten aus den Städten weggeschickt werden, um die schlechte Situation der Familie aufzubessern. Das ist oft so bei Migration, auch bei Arbeitsmigration.

Aber es ist auch so, dass sie vorgeschickt werden und die Familien nachkommen sollen. Und wenn das in Frage gestellt wird, bedeutet das, dass die Familien auseinandergerissen werden - und damit auch die familiären Autoritätsstrukturen. Dadurch wird die Orientierungslosigkeit hier in unserer Gesellschaft nur noch größer, denn an was sollen sie sich orientieren? Die alten Sachen sind weg und an die neuen Sachen kommen sie nicht ran. Die jungen Männer hängen irgendwo dazwischen und wenn sie nicht möglichst schnell in Schulen reinkommen, studieren und einen Arbeitsplatz finden, ist natürlich die Gefahr groß, dass sie sich an den falschen Vorbildern orientieren - das ist bei allen Menschen so.


SoZ: Und dann bilden sie Gruppen oder auch Banden?

Karsten Schneider: Dazu kann ich nichts sagen, ich kann es bei uns nicht feststellen. Dem steht in gewisser Weise auch entgegen, dass sie bei uns nur vorübergehend bleiben. Es gibt Freundschaftsbeziehungen unter den Jugendlichen, worüber ich froh bin, weil das auch gegenseitige Unterstützung ist. Wir schauen immer darauf, dass da nicht neue Grenzen entstehen, wir gegen die andern, also dass diese Sachen nicht exklusiv entlang einer Nationalität oder Religion verlaufen. Manchmal gibt es solche Bruchlinien, wenn die sich verkloppen wegen irgendwelcher Auseinandersetzungen, da muss man aufpassen, dass es danach wieder Friedensgespräche gibt, die die Lage tatsächlich beruhigen.


SoZ: Solche Freundschaften entstehen aber eher unter Landsleuten?

Karsten Schneider: In der Regel. Es gibt ja auch sprachliche Hindernisse, ein Syrer versteht nicht automatisch einen Paschtu sprechenden Afghanen.


SoZ: Führt denn die Tatsache, dass sich die jungen Männer über einen längeren Zeitraum in einer relativ geschlossenen Einrichtung befinden oder in das normale Leben hier nicht integriert sind, weil sie wenig Außenkontakte haben, zu erhöhter Aggressivität?

Karsten Schneider: Das hab ich bisher so noch nicht festgestellt. Die Aggressivität ist aus meiner Sicht die Kombination zwischen Langeweile und Emotionen, die plötzlich hochkommen, wie ich vorhin beschrieben habe. Wir versuchen deshalb, sog. Freizeitangebote zu machen, Sport etwa. Das ist aus unserer Sicht total wichtig, weil körperliche Bewegung, das Sich-auspowern-Können, Sich-zeigen-Können, auch im Körperlichen, insbesondere für junge Männer extrem wichtig ist. Das ist überall so.

Aber das Angebot ist natürlich beschränkt. Wenn es gelingt, zwei Stunden so was mit einem Fussballverein zu organisieren, oder in einer Halle mit Schülermannschaften oder richtigen Vereinen Basketball zu spielen, dann ist das gut. Am besten funktionieren die Sachen da, wo die Jungs schnell etwa in einen Fussballverein integriert werden. Zwei sind bei uns, die haben in Syrien geboxt, die haben wir in einen Boxclub vermitteln können. Der eine war sogar Trainer für Kinder. Das läuft total gut. Und die fühlen sich auch wohl.


SoZ: Da entstehen ja auch Kontakte.

Karsten Schneider: Ja, die gehen dann nicht nur zwei Stunden zum Training, sondern bleiben den ganzen Nachmittag oder Abend weg, denn dann quatscht man auch, bleibt da, guckt sich um usw.


SoZ: Wie genau sind die jungen Männer bei euch untergebracht?

Karsten Schneider: Es sind vier Leute in einem Zimmer, wie in einer Kaserne. Die sanitären Einrichtungen sind knapp. Einmal am Tag kommen Frauen, auch meist mit migrantischem Hintergrund, die putzen. Wir müssen aber den jungen Männern klar machen, dass das eben nur einmal am Tag ist und niemand ständig hinter ihnen herräumt. Da sie aus einer Kultur kommen, wo die Frauen der Familie den Haushalt machen, tun sie sich schwer mit Tätigkeiten, die hier eine Selbstverständlichkeit sind, Geschirr abräumen, spülen, putzen. Natürlich will jeder männlich sein und solche weiblichen Tätigkeiten eigentlich nicht machen. In einer Bundeswehrkaserne gibt es die gleichen Probleme, und wenn es da nicht Befehl und Gehorsam gäbe, würde es auch dort unordentlich zugehen.


SoZ: Gibt es Möglichkeiten, es ihnen so zu vermitteln, dass sie bereitwillig mithelfen?

Karsten Schneider: Die einzige Möglichkeit ist, dass wir als Männer das vormachen, das tun wir. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, obwohl wir es anfangs nicht wollten, weil es eigentlich nicht unser Job ist, dass wir das mitmachen, wir organisieren das, weil wir hier einigermassen ordentlich zusammenleben wollen. Es klappt auch, ist aber immer wieder anstrengend, weil man dabei auch gerecht sein muss, damit keiner das Gesicht verliert.


SoZ: Was heißt das genau?

Karsten Schneider: Wenn ich beispielsweise zwei-, dreimal den gleichen Jungen zur Mithilfe auffordern würde, weil er beim ersten Mal die größte Bereitschaft erklärt hat, dann würde der spätestens beim dritten Mal sagen: Nein, denn dann würde er eine zu weibliche Rolle einnehmen. Deswegen muss man versuchen, alle daran zu beteiligen und ihnen vermitteln, dass das selbstverständliche Arbeiten sind.


SoZ: Wie sieht dein Tagesablauf aus?

Karsten Schneider: Wir kommen morgens zur Frühschicht. In der Regel haben die von der Nachtschicht schon den Tisch gedeckt. Wir gucken, ob alles da ist. Gegebenenfalls müssen wir noch mal kurz einkaufen gehen, denn das ist auch unser Job. Und dann kommen die Jungs so langsam aus ihren Betten.


SoZ: Gibt es einen Weckdienst?

Karsten Schneider: Ja. Sonst wäre der Tagesablauf schwierig. Wir schauen, dass wir um 8 Uhr frühstücken können. Das Frühstücken dauert schon mal anderthalb Stunden, das ist wichtig für die morgendliche Kommunikation. Wir sind eigentlich diejenigen, die das hinauszögern und versuchen, Gespräche entstehen zu lassen. Denn in der Nacht sind die Menschen einsam, da kommt wieder alles hoch, Tränen und Bitterkeit, Sehnsucht nach der Familie, Sehnsucht nach Zuhause, wie geht es weiter? Man muss versuchen, das ein wenig aufzufangen.

Dann gibt es Tagespläne. Entweder versuchen wir, ein Angebot zu machen, z.B. einen Ausflug, im Sommer ist das leichter. Manchmal versuchen wir auch, kulturelle Dinge zu besprechen, kulturelle Unterschiede, was mitunter aufgrund der notwendigen Übersetzungen schwierig sein kann. Im Nu ist der Vormittag rum. Dann gibt es Mittagessen, das kann kritisch sein, weil man nicht weiß, ob's schmeckt. Wir kriegen das Essen ja angeliefert, es wird sauber darauf geachtet, dass es auch für Muslime ordentlich ist, aber es ist halt nicht Mamas Küche.

Dann kommt der Nachmittag. Für die Leute, die gesagt haben, wir wollen Sport machen oder wir wollen was anderes machen, wird der Nachmittag interessant. Viele aber sitzen mit ihrem Handy und ihren Geräten herum, manchmal haben sie auch so Spielboxen, je jünger sie sind, desto stärker und länger beschäftigen sie sich damit.

Dann ist die Schicht zu Ende und wir bereiten die Sachen für das Abendessen vor. Zwischendurch geht es darum, Behördengänge vorzubereiten und zu besprechen. Da gibt es viele Ehrenamtler, die die Jungs dabei begleiten.

An dieser Stelle will ich den Ehrenamtlern einen großen Strauß Blumen überreichen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so viele gibt und dass sie so kontinuierlich dabei sind. Einige machen das schon seit zwei oder drei Jahren und sind schon fast professionell. Dabei sind mehr und mehr auch Männer aktiv. Früher waren es meist Frauen, jetzt kommen auch Männer dazu, was bei den Jungs gut ankommt.


SoZ: Wie alt sind sie in der Regel?

Karsten Schneider: Ich spreche von denen, die begleitende Dinge machen. Die sind in der Regel älter, viele sind Rentner. Es gibt viele sehr gebildete Leute und es sind insbesondere Leute aus kirchlichen Kreisen, das finde ich sehr beeindruckend. Dann gibt es auch solche, die im Rahmen der Arbeiterwohlfahrt früher andere Sachen gemacht haben. Das alles finde ich sehr sehr gut. Gleichzeitig gibt es jedoch einen Mangel an professioneller Hilfe.


SoZ: Meinst du professionelle Hilfe für die Ehrenamtler?

Karsten Schneider: Ja, bei uns gibt es ein geflügeltes Wort: Ehrenamt braucht Hauptamt. Ehrenamtler treffen sich und besprechen ihre Probleme, aber aus unserer Sicht geschieht das nicht kleinteilig genug.

Bei uns gibt es auch Supervision, aber mehr als Gruppensupervision. In unserer Stadt sind mindestens 450-500 Ehrenamtliche tätig. Die tragen sich häufig mit Sachen herum, die sie nur schwer in so einer Gruppe artikulieren können, denn da muss man ja manchmal auch nachbohren, und das kann in einer Gruppensupervision nicht stattfinden, das muss also kleinteilig gemacht werden, allein oder zu zweit. Dafür stellt die Stadt aber keine Kapazitäten zur Verfügung. Und das ist Staatsversagen.

Ich erlebe das hier jetzt als Sozialarbeiter, ich bin abgezogen worden aus einem anderen Bereich, wo ich eher stadtteilnahe Arbeit gemacht habe. Schon da war es so, dass wir uns um ein Problem erst gekümmert haben, wenn ein Fall aufgetaucht ist - case management nennt man das. Vorsorgende Sozialarbeit, Prävention in allen Bereichen findet überhaupt nicht mehr statt. Jugendzentren, Kinderbetreuung sind sukzessive zurückgefahren worden, wir sind diejenigen, die agieren, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Und jetzt werden wir noch mal von unserer Tätigkeit abgezogen, d.h. die anfallende Arbeit wird auf die verbleibenden Kollegen verlagert, für die stockt sich noch mehr Arbeit auf.

Ich bin in der glücklichen Situation, diese Tätigkeit schon seit mehreren Monaten machen zu können. Aber ich weiß von anderen Einrichtungen, wo Sozialarbeiter alle 14 Tage ausgetauscht werden mit der Begründung, dass ihre alte Arbeit nicht liegen bleiben darf. Das führt dazu, dass überhaupt keine Beziehungen entstehen, es ist ein Rein in die Kartoffeln, Raus aus den Kartoffeln. Man kann sagen, die größten Probleme gibt es in den Einrichtungen, wo ein Beziehungsaufbau nicht möglich ist. Da ist es auch schon vorgekommen, dass Sozialarbeiterinnen, vor allem jüngere, von den Jugendlichen zu sexuellen Handlungen aufgefordert werden. Wenn man kontinuierlich dabei ist, gibt es das nicht.

Da muss man sagen, hat die Politik in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten, egal ob sozialdemokratisch oder seitens der CDU oder ob es ein Sozialdezernent der Grünen war, grandios versagt, weil sie überall kürzt und erst dann aufwacht, wenn es brennt. Alles das, was in den 70er Jahren mal gemacht worden ist, die Vorfeldarbeit auf der gesamten Breite, ist weggefallen oder wurde in den privaten Bereich verlagert.


SoZ: Man könnte am Nachmittag ja auch Kurse anbieten, Sprachkurse oder eine Einführung in deutsche Verhältnisse.

Karsten Schneider: Das gibt es. Dafür steht eine ganze Lehrergeneration zur Verfügung, die jetzt in Pension geht, nicht wenige von ihnen haben eine Ausbildung in interkultureller Sprachvermittlung gemacht. Viele von denen bieten solche Sachen an. Das Problem ist auch da wieder nur, wie lange hältst du eine Gruppe zusammen, damit ein Sprachkurs auch wirklich eine gewisse Tiefe erreicht. Jeder weiß, dass das Ergebnis des Lernens sehr stark von der Stabilität einer Gruppe abhängt.

Die jungen Leute, die in ihrem Heimatland eine höhere Schulbildung gemacht haben und studieren wollen, nehmen jede Gelegenheit zum Spracherwerb und kulturellem Erwerb wahr. Die andern sind etwas zurückhaltender, was das formale Wissen anbelangt, aber gib ihnen die Möglichkeit, irgendwo zu arbeiten, das würden 99% sofort annehmen, wenn es was Ordentliches ist, sie wollen ja was tun. Die Erfahrung der Langeweile ist desaströs, einfach rumzuhängen und nichts zu tun zu haben.

Da fühl ich mich auch ein bisschen als Ankläger. Ich fand es positiv, als Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sich unlängst hinter die Kanzlerin mit ihrm "Wir schaffen das" gestellt und sich dabei mit der bayrischen Landesregierung angelegt hat. Ich hatte das Gefühl, der weiß, wovon er spricht. Er hat aber nicht gesagt, dass das Milliarden kosten wird, und auch nicht, woher die Milliarden kommen sollen. Meines Erachtens ist es absolut notwendig, Geld in die Hand zu nehmen und professionelle Hilfe zu schaffen, um diese Situation zu bewältigen, sonst werden die Konflikte, die in der deutschen und in der altimmigrantischen Bevölkerung vorhanden sind, irgendwann mal aufbrechen, wenn es diese Unterstützung nicht gibt.


SoZ: Angenommen, es wären die Mittel vorhanden, wie könnte eine Arbeitseinbindung aussehen?

Karsten Schneider: Was die jüngeren Leute angeht, wäre es überhaupt kein Problem, wenn Unternehmen nach einem entsprechenden Sprachkurs sie sofort einstellen und ihnen eine Ausbildung anbieten. Die Kosten dafür wären überschaubar, es muss nur der politische Wille da sein, an die Betriebe, auch an die städtischen Betriebe, muss auch die Forderung ergehen, dass sie diese Leute übernehmen. Warum können beispielsweise Gartenämter nicht junge Leute für bestimmte Tätigkeiten einstellen, mit ordentlicher Bezahlung? Warum sollen nicht junge Männer, die die Sprache schnell gelernt haben, nicht in einem Bereich, wo es nicht um justiziable Übersetzungen geht, sondern um Alltagsübersetzungen, für ihre Tätigkeit bezahlt werden? Dafür muss man natürlich Geld zur Verfügung stellen. Und dieses Geld ist da, es fehlt der politische Wille, es an dieser Stelle auszugeben.

(*) Name von der SoZ-Redaktion geändert.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 31. Jg., März 2016, S. 14+15
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2016

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