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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2180: 150 Jahre "Das Kapital" - Ein ungelöster Fall


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10 Oktober 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

150 Jahre Das Kapital
Ein ungelöster Fall

von Ingo Schmidt


Das Kapital ist einer jener Krimis, bei denen die Leser schon früh wissen, wer der Bösewicht ist. Ob er gefasst wird, bleibt aber bis zum Ende offen. Bisher wurde er nicht gefasst. Deswegen ist seit Marx' Tod eine Reihe weiterer Folgen geschrieben worden.


Die Geschichte beginnt in einer gespenstischen Welt. Sie wirkt friedlich und frei. Sie wird von Menschen bewohnt, die untereinander Waren tauschen. Jeder gibt, was er hat, aber nicht braucht, und jede nimmt, was sie braucht, aber nicht hat. Getauscht werden die verschiedensten Dinge, die nur eines gemeinsam haben: Alle haben den gleichen Wert. Deshalb kann sich auch niemand nach dem Kaufmannsmotto "Billig einkaufen, teuer verkaufen" auf Kosten der jeweiligen Tauschpartner bereichern. Trotzdem, das ist das Gespenstische an dieser Tauschwelt, werden einige wenige immer reicher, während sich alle anderen abmühen, nicht ärmer zu werden. Unter diesen wächst der Unmut. Wie können einige soviel Reichtum anhäufen in einer Welt, in der doch alle gleich sind und Gleichwertiges tauschen? Sie sind empört, können sich die zunehmende Ungleichheit aber nicht erklären. Schließlich heuern sie einen Detektiv an. Karl Marx verspricht, der Sache auf den Grund zu gehen. Nach jahrelangen Recherchen legt er 1867 seinen Abschlussbericht vor und schreibt den Namen des Täters gleich auf den Titel: Das Kapital. Eine Organisation, die im Namen des freien Austauschs unter Gleichen die Bereicherung einer Minderheit vorantreibt. Tatort: Fabrik. Die Opfer: Lohnarbeiter und Umwelt.


Folge I: Der Verbrecher wird sich selber richten

Zur Überraschung seiner Auftraggeber behauptet Marx, besagte Organisation sei keinesfalls eine kriminelle Vereinigung. Sie operiere in aller Öffentlichkeit, ihre Führung breche kein Recht, sondern habe die moralischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit in die juristischen Formen privaten Eigentums und Vertragsfreiheit gegossen. Allerdings hätten nur Personen, die über Privateigentum an Produktionsmitteln verfügen, Zugang zur Führung der - in Marx' Worten - kapitalistischen Organisation der Produktion. Auch seine Auftraggeber seien übrigens Mitglieder der Organisation, hätten allerdings das Pech, dass ihre Arbeitskraft die einzige Ware sei, die sie im Tausch gegen Lebensmittel anzubieten hätten. Dagegen hätte die kapitalistische Führung der Organisation das Glück, dass die Anwendung dieser Arbeitskraft in der Fabrik mehr Wert schaffe als sie in der Anschaffung koste. Dieser Mehrwert werde am Markt durch Verkauf der in der Fabrik hergestellten Ware realisiert und falle den Kapitalisten zu, weil die bei der Herstellung verwendeten Produktionsmittel und Arbeitskraft ihr Eigentum seien.

Die Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten sei also legal und darüber hinaus notwendig, weil nur die Aneignung und Reinvestition dieses Mehrwerts es den Kapitalisten erlaube, in der Konkurrenz, die sie untereinander austragen, zu bestehen. Sie seien nicht unbedingt moralisch verkommene, auf die Ausbeutung ihrer Arbeiter erpichte Subjekte, sondern Triebtäter, die nicht aus Markt und Führungspositionen verdrängt werden wollen.

Wenn die Arbeiter der Ausbeutung entfliehen wollten, müssten sie zunächst selbst zu Gesetzesbrechern werden, sich die Produktionsmittel von den Kapitalisten aneignen und in eigener Regie betreiben. Die Aussichten dafür seien gar nicht so schlecht. Infolge der Konkurrenz untereinander werden einzelne Kapitalisten nämlich in die Pleite getrieben, die verbliebenen von Krisen geplagt. Lassen sie viel produzieren, um der Konkurrenz Marktanteile abzujagen, steigen mit der Nachfrage nach Arbeitskraft auch die Löhne, die Profitrate gerät unter Druck. Fahren die Kapitalisten die Produktion dann zurück, um über höhere Arbeitslosigkeit die Löhne wieder zu senken, fehlt es an Massenkaufkraft, um die zuvor in großer Zahl hergestellten Waren abzusetzen. Es kommt zu einer Überproduktionskrise.

Versuchen Kapitalisten dem Zyklus von Profitklemme und Nachfragemangel durch die Einführung arbeitssparender Technologien zu entgehen, sägen sie am mehrwertschaffenden Ast lebendiger Arbeitskraft. Infolge von Kapitalkonzentration und Krisen werden die Kapitalisten zu einer vom Aussterben bedrohten Art, während die mit der Kapitalakkumulation gewachsenen Reihen des Proletariats dem sozialistischen Umsturz die notwendige Massenbasis verschaffen.

Um diese Basis zur Vollstreckung des historischen Urteils über die Kapitalisten zu mobilisieren, gründen Marx' Anhänger Gewerkschaften, Parteien und Arbeiterbildungsvereine. Allerdings schwindet der revolutionäre Elan, als Mitte der 1890er Jahre ein anhaltender Aufschwung einsetzt, der im Kapital nicht vorgesehen ist. Mit dem Aufschwung steigen die Löhne vieler Arbeiter, die Zahl der Kapitalisten ist zwar gesunken, ihr Zusammenhalt untereinander aber gestiegen. Die Idee, Partei- und Gewerkschaftsführungen könnten sich mit Konzernspitzen und Regierungen auf soziale Reformen verständigen, ohne die kapitalistische Organisation zu zerstören, gewinnt immer mehr Anhänger.

Marx ist tot. Aber eine neue Generation von Detektiven fragt sich, wie es seinen Prognosen zum Trotz zu einem anhaltenden Aufschwung kommen konnte. Sie gehen Das Kapital nochmals durch. Hat Marx etwas übersehen? Oder hat sich der Kapitalismus so sehr geändert, dass seine Analyse der neuen Zeit angepasst werden muss? Sie fahnden nach den Ursachen des Aufschwungs, aber auch nach Sollbruchstellen. Eine Spur führt in die Vorstandsetagen von Konzernen, Kartellen und Konglomeraten. Eine andere führt auf den Weltmarkt.


Folge II: Die Regel und die Ausnahmen

Das Ermittlungsergebnis der jungen Detektivgeneration: Eine neue Welle der Kolonialisierung hat großen Unternehmen erlaubt, Investitionen in Übersee, insbesondere in Schifffahrt und Eisenbahnen zu tätigen. Diese haben einen allgemeinen Aufschwung ausgelöst. Angesichts der natürlichen Grenzen der räumlichen Expansion werde es aber zu politischen Konflikten unter den Kolonialmächten kommen. So kam es denn auch. Und aus den Schützengräben stieg die revolutionäre Welle auf. Sie führte aber nur in Russland, wo mehr Bauern als Arbeiter in den Uniformen steckten, zum Sieg.

Die Arbeiterbewegungen im Westen unterlagen der organisierten Konterrevolution, während Bauernbewegungen die antikoloniale Revolution in vielen Ländern zum Sieg führten. Dadurch, so folgerten Mitglieder der Detektei Marx, werde der Weltmarkt eingeschnürt, es komme zu Absatzkrisen und endlich zu der von Marx vorausgesagten Arbeiterrevolution. Die Krise kam. Allerdings schon in den 30er Jahren, als nur die Sowjetunion aus dem kapitalistischen Weltmarkt herausgefallen war. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Zahl nichtkapitalistischer Länder stieg, kam es dagegen zu einem Aufschwung, der den am Ende des 19. Jahrhunderts noch bei weitem übertraf. Während in der Detektei noch darüber gegrübelt wurde, wie viel der Neokolonialismus zum neuerlichen Aufschwung beigetragen hatte, kam es zu unerwarteten Arbeiterrevolten.

Die Ursache: Mit dem Aufschwung waren Arbeitshetze und eine die Reallöhne aufzehrende Inflation einhergegangen. Außer den Arbeitern revoltierten auch die Frauen. Vom Aufschwung in den Arbeitsmarkt gezogen, sollten sie Doppelschicht arbeiten: im Haushalt und in der Firma. Und es revoltierte die Jugend, die in fremdbestimmter Arbeit und einer unter dem Wohlstandmüll erstickenden Natur wenig Zukunft für sich sah. Nicht die Krise, sondern der Aufschwung hatte zum Aufstand geführt. Bevor die verschiedenen Aufstandszentren sich jedoch zu einer gemeinsamen Front gegen die kapitalistische Organisation zusammenschließen konnten, begannen die Kapitalisten, die Welt auf den Kopf zu stellen. Dabei verloren ihre linken Gegner den Boden unter den Füßen.


Folge III: Ein zäher Hund

Der seit den frühen 1980er Jahren erfolgte Aus- und Umbau der kapitalistischen Organisation in ein undurchsichtiges Netz von Waren- und Kapitalströmen war bei Marx bestenfalls zwischen den Zeilen zu finden. Bei seinen Nachfolgern fast gar nicht. Bis in die Revolten der 70er Jahre gingen die meisten von ihnen davon aus, dass die große Krise noch kommen werde. Die Bauernrevolutionen im Süden seien nur ein Umweg zur Generalabrechnung der Arbeiter mit der Bestie gewesen. Doch dann mussten sie erkennen, dass Revolten, die während des Aufschwungs begonnen hatten, sich in der Krise keineswegs zur Revolution zuspitzten.

Dafür lernten die Kapitalisten, die Krise als Waffe im Klassenkampf zu nutzen. Eine Serie von Finanz- und Fiskalkrisen diente als Hebel, um soziale Dienste und Absicherungen zurückzufahren und öffentliche Betriebe zu privatisieren. Automation, Zergliederung hierarchischer Produktionsabläufe und Standortverlagerungen haben den alten Organisationszentren der Arbeiterklasse ihre Grundlage entzogen und die Klasse damit nahezu handlungsunfähig gemacht. Der Geld- und Kapitalfetisch, von dem Marx nur in Andeutungen gesprochen hatte, wurde zur Massenreligion, je mehr undurchschaubare Produktions- und Distributionsnetzwerke von den Knotenpunkten der Finanzwelt ausgehend gesteuert wurden.


Vorschau

Marx und die Detektive haben sich geirrt. Nicht ein von Konkurrenzkampf und Krisen erschöpfter Haufen Kapitalisten hatte den im Klassenkampf gestählten Proletariern aller Länder die Organisation des gesellschaftlichen Lebensprozesses zwecks kollektiver Selbstverwaltung abzutreten. Vielmehr haben die Kapitalisten jede Herausforderung durch die Arbeiterbewegung und andere soziale Bewegungen in neue, von ihnen kontrollierte Produktionsprozesse und Märkte verwandelt. Dabei haben sie eine Welt geschaffen, die jener, die Marx im Kapital beschreibt, zum Verwechseln ähnlich sieht. Die aber auch die Narben der Kämpfe trägt, die gegen das Kapital geführt wurden. Eine Welt, der es heute an einer systemischen Herausforderung fehlt, die den Ausgang aus selbstzerstörerischen Krisen vorantreiben könnte. Eine kapitalistische Welt, die so ungeliebt ist, dass die Abwesenheit einer solchen Herausforderung überraschen muss.

Eine neue Generation von Detektiven wird Das Kapital weiterentwickeln und neue Spuren zu dessen Überwindung finden. Vielleicht. Wir arbeiten daran.


Sachdienliche Hinweise zur Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen die kapitalistische Organisation bieten die Beiträge in:
Das Kapital@150. Russische Revolution@100. Hrsg. Ingo Schmidt. Hamburg: VSA, 2017 (320 S., 24,80 EUR).

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, 32. Jg., Oktober 2017, S. 24
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2017

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