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GERIATRIE/280: Symposium "Medikation im Alter - zwischen Multimedikation und Unterversorgung" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2017

Symposium
"Zu wenig" als neues Problem

von Horst Kreussler


Erst "Misuse", dann "Overuse", jetzt "Underuse": Auf dem
Gerinet-Symposium suchten Experten nach dem rechten Maß.


Neue Erkenntnisse der Altersmedizin in der Pharmakologie, in der Neurologie, Kardiologie, in der Gerontopsychiatrie oder auch in der Pflege sollten stärker als bisher im medizinischen Alltag umgesetzt werden, um eine angemessene Behandlung wachsender Patientengruppen zu erreichen. So lautete das Fazit des 3. Symposiums der frei-gemeinnützigen Hamburger Krankenhäuser mit geriatrischen Abteilungen ("Gerinet"). Die sechs Häuser - Albertinenhaus und Amalie Sieveking-Krankenhaus, dazu Agaplesion Diakoniekrankenhaus, Katholisches Marienkrankenhaus, Wilhelmsburger Krankenhaus Groß-Sand und Bethesda Krankenhaus - versorgen auch das Einzugsgebiet Süd-Holstein mit zahlreichen Patienten, wie zum Teil auch umgekehrt schleswig-holsteinische Kliniken (z. B. Geesthacht-Siemerswalde) geriatrische (Reha-)Patienten aus Hamburg betreuen.

Die Kliniken seien mittlerweile gut vernetzt, "mehr als wir anfangs zu hoffen gewagt hatten", freute sich Albertinenhaus-Geschäftsführer Ralf Zastrau. Gemeinsam wolle man das therapeutische Grundproblem des rechten Maßes angehen: Machen wir - etwa aus falscher Sparsamkeit - zu wenig, so kontrollieren wir vielleicht die Symptome weitgehend, ohne aber die Ursachen anzugehen und vergeben damit wichtige Chancen. Tun wir aber - von manchen kritisiert - zu viel mit teurer Medizintechnik und Medikamenten, ist der Nutzen für den Patienten oft fraglich.

In der Tat, pflichtete der stellvertretende Präsident der Ärztekammer Hamburg (und langjähriger Hausärzte-Chef) Klaus Schäfer bei: "Viele ältere Patienten haben bereits den Überblick über ihre Medikamente verloren." Einiges könne zur Stärkung altersmedizinischen Wissens bei Ärzten und dadurch auch für Patienten getan werden. So müsse jede medizinische Fakultät einen Lehrstuhl für Geriatrie haben. Mehr altersmedizinische Aus-, Weiter- und Fortbildung forderten die Deutschen Ärztetage seit 1998, ferner eine bessere geriatrische Infrastruktur, eine bessere ambulant-stationäre Verzahnung und eine kontinuierliche Berichterstattung über Alter und Leben. Geriatrie, so Schäfer, sei kein Spezialfach im Sinne etwa eines geforderten "Facharztes für Geriatrie", sondern eine Querschnittsaufgabe der gesamten Medizin. Dabei müssten die Sorgen älterer Menschen, dem medizinischen Versorgungssystem ausgeliefert zu sein, ernst genommen werden: "Wir sind hier schon ein Stück weitergekommen, zum Beispiel in der Palliativmedizin, aber längst noch nicht weit genug."

Das gilt wohl auch für das herausragende Thema des Symposiums "Medikation im Alter - zwischen Multimedikation und Unterversorgung", das der Heidelberger Ordinarius Prof. Walter E. Haefeli (Abteilung Klinische Pharmakologie und Phamakoepidemiologie) behandelte. Seine Botschaft: Beide Seiten sind heute wichtig, nicht nur die Kontrolle von häufig beklagter Multimedikation in der Klinik, sondern auch das Gegenteil, die Vermeidung von Unterversorgung. Also nicht einfach - wie der Berichterstatter vor dem Referat dachte - "gerade so viel wie nötig, aber vor allem so wenig wie möglich", sondern differenzierter. Es beginnt nach Haefeli mit der wichtigen Prävention beim älteren Menschen, weil sonst die Gefahr zunehmender, akkumulierender therapiebedürftiger Defizite bestehe: Multimorbidität, abnehmende Elastizität und Belastbarkeit, geringe homöostatische Reserven, zunehmende Verletzlichkeit, beginnende kognitive Einschränkungen, Abhängigkeit und viele Kriterien mehr, die den Gebrechlichkeits-Index (Frailty-Index) bestimmen. Mit zunehmender Behinderung bzw. Morbidität müssten sich die Therapieziele ändern, von der Sekundärprävention über die Heilung bis zur Symptomkontrolle wie vor allem Schmerzlinderung. Entsprechend änderten sich die ärztlichen Herausforderungen, auch an die richtige Medikation. Am Ende sei für den Patienten oft nicht das längere Überleben, die allgemeine Lebensqualität, die Autonomie oder der Verbleib zu Hause entscheidend, sondern die Linderung der aktuellen Beschwerden, d. h. oft die Schmerzfreiheit.

Große Herausforderungen für den Arzt seien Wechselwirkungen zwischen der Medikation und den Begleiterkrankungen komorbider Patienten, etwa mit Herzerkrankungen, Depression und Diabetes oder die Interaktion zwischen Ernährung, Krankheiten und Medikamenten. Wichtig seien auch die verschiedenen Nebenwirkungen aus Verordnungskaskaden, die nicht etwa vernachlässigt, sondern "stark angegangen" werden sollten. Überhaupt sei nach seiner Erfahrung das "zu wenig" das größere Problem, z. B. sehe er bei Myokardpatienten eine 60-prozentige Unterversorgung mit Betablockern. "Underuse" sei auch nicht immer mit dem Argument zweifelhaften Nutzens (Priscus-Liste!) bei Älteren zu begründen, denn manche Medikamente wie Anti-Osteoporotika wirkten nach Studienergebnissen bei über 70-Jährigen sogar schneller und besser. Problem allerdings: die beschränkte Evidenz von Therapien bei Älteren. Fazit: Nicht Overuse, nicht Misuse, aber auch nicht Underuse, sondern rationales und zugleich patientengerechtes Verordnen, eben das "rechte Maß".

Mit ähnlicher Aussage referierte danach aus der Praxis PD Daniel Kopf, Chefarzt der Geriatrie im Hamburger Marienkrankenhaus, mit der Botschaft, häufig interagierende körperliche und seelische Störungen im Alter wie zum Beispiel Entzündungskrankheiten und Depression seien nebeneinander gut behandelbar. Und: "Heute können wir auch einzelne mit dem Lebensalter verbundene Krankheiten wie das - zumal postoperative - Delir besser behandeln." Schwierigere Fälle seien nunmehr auch ambulant in anerkannten geriatrischen Institutsambulanzen therapierbar.

In der Diskussion fiel eine Frage auf: Warum verordnen Ärzte ihren geriatrischen Patienten zu wenig - liegt es am Kenntnisstand? Interessante Antwort: Eher, weil früher zu viel verordnet wurde - nunmehr nach Warnungen der Fall ins Gegenteil. Von einem Extrem ins andere, das kommt uns in diesen Zeiten bekannt vor.


Gerinet
Der 2015 gegründete Qualitätsverbund bündelt das altersmedizinische Know-How der freigemeinnützigen Krankenhäuser in Hamburg. Ziel ist, die Qualität der geriatrischen Versorgung flächendeckend zu verbessern.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201709/h17094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, September 2017, Seite 33
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2017

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