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GERIATRIE/317: Die Selbstdiskriminierung des Alters durchbrechen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2022

Die Selbstdiskriminierung des Alters durchbrechen

von Uwe Groenewold


GERIATRIE. Alt werden und alt sein hat nicht nur mit guten biologischen Voraussetzungen zu tun. Altern ist ein Entwicklungsprozess, der von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Beim jüngsten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie in Frankfurt standen die Begriffe Resilienz und Vulnerabilität im Mittelpunkt der Diskussionen.


Große persönliche Widerstandskraft gegen Krisen aller Art und eine geringe Anfälligkeit für Erkrankungen sind den vielfältigen Vorträgen und Diskussionen zufolge ganz offensichtlich entscheidende Voraussetzungen, um gut durchs Leben zu kommen und die Chancen für ein hohes Alter in guter Gesundheit deutlich zu erhöhen.

Hundertjährige Leben verlaufen sehr unterschiedlich, erklärt Prof. Daniela Jopp, Psychologin und Altersforscherin an der Universität Lausanne. Sie hat in der Schweiz eine Studie mit hochbetagten Menschen aufgelegt und weitere Untersuchungen analysiert. Zwar seien über 100-Jährige häufig stark gesundheitlich beeinträchtigt - 94 % haben Seh- oder Hörprobleme, 72 % sind in ihrer Mobilität eingeschränkt - doch gleichzeitig führen mehr Hochbetagte als in früheren Befragungen ein selbstständiges Leben, ihre kognitive Leistungsfähigkeit hat sich gegenüber älteren Untersuchungen verbessert und ihre Lebenszufriedenheit ist gestiegen - auf über 80 %. Sie liegt damit sogar über der von 80- bis 95-Jährigen. "Ältere Menschen setzen eher auf kognitive Strategien, mit denen sie ein Problem umbewerten. Sie konzentrieren sich nicht auf ihren Gesundheitszustand, sondern eher darauf, dass sie am Leben sind - und schätzen dies", so das Fazit der Wissenschaftlerin.

Ähnlich sehen die Auffassungen von Experten aus, die das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt befragt hat. Das hohe Alter in Kombination mit dem großen Schatz der Lebenserfahrung führen zu Gelassenheit und innerer Ruhe, sagt Dr. Meike Reh, Leiterin des Bereichs Frührehabilitation und Geriatrie in der Westküstenklinik Heide. Der Fokus bei 100-Jährigen liege vermutlich mehr auf der Tatsache, noch "dabei sein" zu dürfen und sei weniger auf Krankheiten zentriert. "Eine gewisse genetische Prädisposition sowie eine kontinuierliche körperliche Aktivität, das Leben in Bewegung halten, fördern sicherlich eine gesunde Alterung", so Reh. Ein interessengeleitetes Leben und weiterhin vorhandener innerer Ansporn seien wesentliche Voraussetzungen für ein langes Leben, erläutert Jens Leymann, Chefarzt der Ameos-Klinik für Geriatrie Ratzeburg. Menschen, die auch im hohen Alter noch Ziele verfolgen, seien meist körperlich und geistig fitter (siehe Kurzinterview unten).

Das kann Prof. Susanne Sturm, Altersforscherin der Uni Greifswald, nur bestätigen. Ihren Untersuchungen zufolge leben Menschen, die das Älterwerden mit einer persönlichen Weiterentwicklung verbinden, die Ideen und Pläne realisieren und neue Dinge lernen wollen, bis zu 13 Jahre länger. Ihre Daten (https://doi.org/10.1037/pspp0000412) hat sie aus dem Deutschen Alterssurvey gewonnen, in dem 1996 rund 2.400 Studienteilnehmende zwischen 40 und 85 zu ihrer Sicht auf das Älterwerden befragt wurden. 23 Jahre lang wurde dokumentiert, wer wann verstarb; insgesamt waren das 871 Personen. Unterschiedliche Sichtweisen auf das Älterwerden wurden von Sturm differenziert betrachtet, auch weitere psychische und gesundheitsbezogene Faktoren, die zu Langlebigkeit beitragen können, in den Analysen berücksichtigt. "Bemerkenswert ist, dass es vergleichsweise unwichtig für ein langes Leben ist, ob Menschen das Älterwerden mit körperlichen oder sozialen Verlusten verbinden", so die Greifswalder Wissenschaftlerin. Ihr Appell: Menschen sollten darin unterstützt werden, das Älterwerden aktiv zu gestalten. "Als Erzfeind des gesunden Alterns entpuppt sich die Einstellung, sich selbst zu beschränken, weil es für diesen Plan oder jene Aktivität vermeintlich schon zu spät sei. Menschen lernen ihr ganzes Leben lang negative Bilder vom Alter und neigen deshalb dazu, diese auf sich selbst anzuwenden, wenn sie dann alt sind. Diese Altersselbstdiskriminierung gilt es zu durchbrechen", resümiert Susanne Wurm.

Unabhängig davon werden chronische Erkrankungen und Multimorbidität mit zunehmendem Alter wahrscheinlicher. "Fortschreitendes Alter ist der größte Risikofaktor für den Ausbruch von Krankheiten - die Funktion der Körpersysteme nimmt ab dem 30. Lebensjahr erheblich ab", sagt Prof. Andrea Maier, Altersforscherin mit Professuren in Singapur und Amsterdam. "Es ist also nicht verkehrt, sich schon in der sogenannten Rushhour des Lebens Gedanken über die Gesundheit im Alter zu machen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen." Der Schlüssel zu einem langen, gesunden Leben sei Resilienz, die physische Widerstandskraft, um die Herausforderungen des Lebens mit möglichst wenigen Beeinträchtigungen zu meistern, so Maier: "Resilienz stärkt die Fähigkeit, mit täglichen Stressoren umzugehen. Diese können auf molekularer, zellulärer und organischer Ebene liegen, aber auch auf sozialer Ebene oder einen Bezug zur Umwelt haben. Eine bessere Belastbarkeit führt also zu einem geringeren biologischen Alter, was mit einem geringeren Risiko für altersbedingte Erkrankungen einhergeht." Die eigene Belastbarkeit aktiv zu stärken, gelinge mit ausreichendem Schlaf, regelmäßiger Bewegung, gesunder Ernährung und einem guten sozialen Netzwerk. Ihr Ziel: Durch frühzeitige Interventionen die Vulnerabilität der alternden Gesellschaft beeinflussen. "Es reicht meiner Meinung nach nicht mehr aus, erst zu reagieren, wenn jemand bereits erkrankt ist. Die gesamte Gesundheitsvorsorge muss viel früher ansetzen, um den Bedürfnissen einer alternden Gesellschaft gerecht zu werden."


"Vor allem ältere Erwachsene können bereits von einer leichten Zunahme der körperlichen Aktivität bei geringer Intensität profitieren."
Ahmad Aziz


Eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE, https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000200884) hat gezeigt, dass das menschliche Gehirn bereits von leichter körperlicher Aktivität profitiert. Mittels MRT-Aufnahmen konnten die DZNE-Forscher nachweisen, dass sich körperliche Aktivität in verschiedenen Hirnregionen durch Volumenzunahme bemerkbar macht. "Das ist grundsätzlich eine sehr gute Nachricht - insbesondere für Bewegungsmuffel", sagt Forschungsgruppenleiter Ahmad Aziz. "Unsere Studienergebnisse weisen darauf hin, dass schon kleine Verhaltensänderungen, wie etwa 15 Minuten am Tag Spazierengehen oder die Treppe statt des Aufzugs zu nehmen, eine erhebliche positive Wirkung auf das Gehirn haben und möglicherweise altersbedingtem Verlust an Hirnsubstanz sowie der Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen entgegenwirken können. Vor allem ältere Erwachsene können bereits von einer leichten Zunahme der körperlichen Aktivität bei geringer Intensität profitieren."

Dies wird im Bereich Frührehabilitation und Geriatrie in der Westküstenklinik Heide seit langem umgesetzt, wie Leiterin Dr. Meike Reh bestätigte. Ausdauer-, Kraft- und Koordinationstraining werde auch über 90-jährigen Patienten angeboten und könne sogar dazu führen, dass "ein älterer Patient das Leistungsniveau eines nicht-trainierten 30-Jährigen erlangen" könne. Die medizinische Trainingstherapie sei mit einem modernen Fitnessprogramm vergleichbar und werde von älteren Patienten sehr geschätzt. Auch diese gehen absolut mit der Zeit, wie Reh konstatiert: "Wünschenswert ist zukünftig eine Erweiterung unseres Angebotes mit einer Virtual-Reality-Therapie, die generell auch bei Älteren eine hohe Motivationsbereitschaft generiert."

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Leymann: "Innerer Ansporn spielt wichtige Rolle!"

"Worauf freut man sich und was möchte man im Leben noch erreichen?"


Was ist maßgeblich dafür, dass einige Menschen die Herausforderungen des Alters besser meistern als andere?

Jens Leymann, Chefarzt der Ameos-Klinik für Geriatrie Ratzeburg: "Hier kommen verschiedene Faktoren zusammen. Natürlich ist ein gesunder Lebensstil entscheidend, um die Herausforderungen des Alterns besser zu meistern. In unserer Klinik beobachten wir aber immer wieder, dass auch Ziele, Interessen und der innere Ansporn eine wichtige Rolle spielen. Gibt es noch ein größeres Ziel, auf welches hingearbeitet wird? Worauf freut man sich und was möchte man im Leben noch erreichen? Menschen mit solchen offenen Meilensteinen sind meist körperlich und geistig fitter."


In einer aktuellen 100-Jährigen-Studie haben die Hochbetagten eine größere Lebenszufriedenheit angegeben als 80- bis 95-Jährige. Was könnten Gründe dafür sein?

Leymann: "Ich denke, dass Lebenszufriedenheit nicht die Folge, sondern die Voraussetzung für ein so hohes Alter ist. In Gesprächen mit 100-Jährigen konnte ich erfahren, dass sie weiterhin ein großes Interesse am Alltags- aber auch am Weltgeschehen haben. Sie haben weiterhin Ziele, die sie zwar ihren körperlichen Möglichkeiten anpassen müssen, aber durchaus verfolgen."


Eine andere aktuelle Studie besagt, dass sich auch im Alter bereits leichte körperliche Aktivität positiv auf das Gehirn auswirkt. Welche Therapien und Maßnahmen bieten sich an, um geistig und körperlich altersgemäß so fit wie möglich zu bleiben?

Leymann: "Wir raten zu täglicher Aktivität: Spaziergänge oder ein individuelles Trainingsprogramm. In unserer Klinik für Geriatrie blicken wir immer individuell auf den einzelnen Patienten: Wo sind Defizite, wie ist die Allgemeine Leistungsfähigkeit und wo können wir ansetzen? Aus dieser Analyse generieren wir ein individuell abgestimmtes Trainingsprogramm mit Elementen der Atemtherapie, des Kreislauftrainings und kräftigender Muskelübungen. Erstaunlich ist, dass Ältere dabei durchaus besser "bei der Stange" bleiben als Jüngere. Wichtig ist, dass unsere Patientinnen und Patienten Übungen erlernen, welche sie einfach in den häuslichen Alltag übernehmen können. Das Trainingsgerät kann durch ein Handtuch oder eine kleine Wasserflasche ersetzt werden. In erster Linie soll die Bewegung den älteren Menschen Freude und mehr Energie schenken."

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2022
75. Jahrgang, Seite 38-39
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 15. November 2022

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