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NEUROLOGIE/2067: Erfolgreiches Delir-Management ist möglich (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2022

Erfolgreiches Delir-Management ist möglich

von Uwe Groenewold


DELIR. Für Intensivpatienten bedeutet ein Delir längerer Klinikaufenthalt, schlechteres Behandlungsergebnis und erhöhte Letalität. Prävention, rasche Diagnostik und effektive Therapien durch interdisziplinäre und berufsgruppenübergreifende Teams sind für den Behandlungserfolg maßgeblich - das ist ein Ergebnis der "Arbeitstagung NeuroIntensiv Medizin" (ANIM) während der 39. gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft.


Das Delir auf Intensivstationen gehörte zu den Schwerpunktthemen des virtuellen Kongresses, gleich mehrere Symposien beschäftigten sich mit dem gefährlichen Symptomkomplex, der durch Verwirrtheit, Aufmerksamkeits-, Orientierungs- und Bewusstseinsstörungen gekennzeichnet ist. Beim Delir handelt es sich um eine akute Störung zerebraler Funktionen, etwa 30-80 % der Intensivpatienten sind hiervon betroffen. Die frühere Bezeichnung "Durchgangssyndrom" suggeriere eine passagere Erkrankung, erläuterte Prof. Julian Bösel aus Kassel. Dem sei allerdings nicht so, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen seien häufig stark ausgeprägt. Bei etwa 25 % der Patienten bleiben nach einem Delir kognitive Funktionsstörungen bestehen, die mit einem milden Demenzverlauf vergleichbar seien.

Dr. Joji Kuramatsu aus Erlangen und der Kieler Pflegewissenschaftler Dr. Peter Nydahl appellierten an alle Berufsgruppen auf der Intensivstation, sich des Delirs und seiner kurz- und langfristigen Komplikationen besser bewusst zu sein. Akute Kognitionsstörungen würden oftmals noch als unvermeidbare Folgen der Schwere der Grunderkrankung angesehen oder als Auswirkung diverser auslösender Faktoren der Intensivmedizin. Dabei gebe es eine ausreichende Zahl an Screening-Instrumenten, um zu einer differenzierten Diagnose und entsprechenden Behandlungsempfehlungen zu kommen. "Wer nur nach Medikamenten und Dosierungen fragt, hat das Delir-Management noch nicht verstanden", so Nydahl. Ein erfolgreiches Delir-Management setze sich aus regelmäßigem Screening, Behandlung der Ursachen, einer Pflegetherapie, Medikamentengabe bei Stress sowie einem Monitoring der Komplikationen zusammen, erläuterte Nydahl auf Anfrage des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes. Um die Zusammenarbeit der Berufsgruppen auf Intensivstationen bei schweren Krankheitsbildern wie dem Delir weiter zu optimieren, plädiert er für gemeinsames Üben: "Die Zeit ist reif für interprofessionelles Training mit Ärzten, Therapeuten und Pflegenden."

Die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnose unterstrich Friederike Baumgarte, Medizinstudentin der Universität Kiel, am Beispiel Schlaganfall. "Schlaganfallbedingte neurologische Defizite wie Aphasie, Neglect und Dysphagie sind relevante Risikofaktoren für die Entstehung eines Delirs, können jedoch gleichzeitig eine große Barriere bei der Diagnostik desselben darstellen", erläuterte Baumgarte. Es gebe daher großen Bedarf für einen objektiven und interpretationsunabhängigen Test, der unmittelbar am Krankenbett durchgeführt werden könne. Mit einem Ein-Kanal-EEG komme man diesem Ziel nun eventuell näher. Schon länger sei bekannt, dass bei deliranten Patienten charakteristische EEG-Veränderungen auftreten. Deshalb beschäftigen sich verschiedene Studien mit der Nutzung möglichst weniger Elektroden, um die Delir-Diagnostik in den klinischen Alltag integrieren zu können. In Kiel werde jetzt ein neues Ein-Kanal-EEG-Gerät an einer Kohorte akuter Schlaganfallpatienten getestet, so Baumgarte.

Ein weiteres Kongressthema: Jährlich treten in Deutschland etwa 3.000 Querschnittslähmungen neu auf - davon 1.000 traumatische und 2.000 nicht-traumatische. Heilung ist bislang nicht möglich, Wissenschaftler in aller Welt arbeiten seit Jahrzehnten an tragfähigen Lösungen. Seit Mai 2019 werden Patienten mit akuter traumatischer zervikaler Querschnittlähmung in 14 Zentren in Deutschland, Schweiz, Spanien, Italien und Tschechien in die NISCI-Studie ("Nogo Inhibition in Spinal Cord Injury") eingeschlossen. Mittels eines gegen das Nogo-Protein gerichteten Antikörpers, der direkt in den Liquor verabreicht wird, soll die Wachstumshemmung im Zentralnervensystem blockiert und damit die Wiederaussprossung verletzter Nerven angeregt werden. Primäres Studienziel ist, die motorische Erholung im Bereich der oberen Extremitäten signifikant zu verbessern. Von der Erreichung des Ziels sind die Wissenschaftler um den Heidelberger Studienleiter Prof. Norbert Weidner noch weit entfernt. Jedoch läuft nach erfolgreicher Phase I-Studie, in der die Sicherheit des Wirkstoffs untersucht wurde, die Phase II, in der auch die Wirksamkeit des Antikörpers geprüft wird. 96 Patienten haben bereits innerhalb von 28 Tagen nach Querschnittlähmung das Medikament oder ein Placebo erhalten, 132 sollen es bis Ende des Jahres werden. Mit ersten Ergebnissen kann dann 2023 gerechnet werden.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2022
75. Jahrgang, Seite 34
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022

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