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ONKOLOGIE/2093: Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die onkologische Versorgung in Schleswig-Holstein (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 6, Juni 2022

Mit einem blauen Auge davongekommen?

von Uwe Groenewold


ONKOLOGIE. Weniger Vor- und Nachsorge, weniger Diagnosen, weniger Behandlungen - auf den ersten Blick hat die Corona-Pandemie die onkologische Versorgung in Schleswig-Holstein in den vergangenen zwei Jahren stark beeinträchtigt. Doch wie schlimm ist es wirklich? Haben sich vorhandene Versorgungslücken weiter verschärft? Aktuelle Zahlen lassen noch keine abschließende Bewertung zu.


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Laut Krebsregister gab es von 2015 bis 2017 in Schleswig-Holstein 19.400 Krebsneuerkrankungen jährlich. Rund 3,5 % der Bevölkerung sind in den vergangenen zehn Jahren an Krebs erkrankt, über 100.000 Menschen im Land leben mit Krebs (relative 5-Jahres-Überlebensrate: Frauen 67 %, Männer 61 %).

8.900 Menschen versterben jährlich. Brust- und Prostatakrebs werden am häufigsten diagnostiziert, danach folgen Lungen- und Darmkrebs.
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Auskünfte der an der Versorgung beteiligten Einrichtungen lassen aber erste Rückschlüsse zu. Tendenz: Für ein endgültiges Fazit ist die Datenlage noch zu dünn, doch so schlimm, wie anfangs befürchtet, wird es hoffentlich nicht werden.

"Wenn wir auf die Registerdaten 2020 gucken, sehen wir, dass es im April und Mai bei besonders häufig auftretenden Krebserkrankungen wie Brust-, Darm-, Lungen- oder Prostatakrebs erhebliche Rückgänge der diagnostizierten Fallzahlen um 20 bis knapp 50 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gegeben hat", sagt Prof. Alexander Katalinic, der die Daten des Krebsregisters Schleswig-Holstein im Institut für Krebsepidemiologie der Universität Lübeck auswertet und eine entsprechende Analyse für das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt angefertigt hat.

Die wichtigsten Ergebnisse: Brustkrebsdiagnosen sind im April 2020 um 49 %, im Mai 2020 um 35 % zurückgegangen; beim malignen Melanom belief sich der Rückgang im April 2020 auf 35, beim Darmkrebs auf 22 % . Zwar habe es in den Folgemonaten Aufholbewegungen gegeben - beim malignen Melanom etwa im Mai eine Fallzahlsteigerung um 35 % gegenüber dem Vorjahr - aufs Jahr gesehen sei es bei allen Entitäten jedoch zu einem Rückgang von etwa 5 - 10 % gekommen, so Katalinic. Exakt betrug dieser bei Darmkrebs 8,5 % und bei Brustkrebs 4,9 %.

Darüber hinaus haben die Lübecker Epidemiologen auch die Stadienverteilung der diagnostizierten Krebserkrankungen von 2019 und 2020 miteinander verglichen. Katalinic: "Hier haben wir 2020 keine Änderung gegenüber dem Vorjahr feststellen können, es sind also nicht vermehrt schwere Fälle aufgrund verspäteter Diagnosen aufgetreten."

Ob sich dies 2021 geändert hat, wird Gegenstand weiterer Untersuchungen sein, so Katalinic. Und auch, ob sich die Sterblichkeit nach einer Krebserkrankung tatsächlich erhöht hat, werde man erst in einigen Jahren wissen, wenn belastbare Daten hierzu vorliegen. Der Sozialmediziner selbst schätzt die Auswirkungen der Pandemie auf die Versorgung von Krebserkrankten "nicht so dramatisch wie andere Institutionen und Einrichtungen ein: Krebs ist keine akute Erkrankung. Ein Mammakarzinom benötigt etwa zehn Jahre, bis es auf zwei Zentimeter gewachsen ist; eine Diagnoseverschiebung um zwei bis drei Monate ist prognostisch nicht relevant. Es kann gut sein, dass hier weniger Schaden entstanden ist, als gedacht."

Auch die AOK Nordwest hat für das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt aktuelle Landeszahlen ausgewertet, die sich insbesondere auf die Vorsorge und Behandlung von gesetzlich versicherten Patienten beziehen. Beim Mammografie-Screening gingen die Teilnahmequoten 2020 um 5,6 % gegenüber dem Vorjahr zurück, bei den präventiven und diagnostischen Koloskopien im ersten Halbjahr 2021 um 8,4 % gegenüber dem gleichen Zeitraum vor der Pandemie 2019. Bei den operativen Eingriffen bei Mamma-Neubildungen und Darmkrebsoperationen kam es zu einem "dem Pandemieverlauf angepassten Wechsel zwischen Rückgang und Zunahme", der etwa von einem Minus von 14 % bei den Darmkrebsoperationen in der zweiten Welle von Oktober 2020 bis Februar 2021 bis zu einem Plus von 18 % bei Brustkrebspatientinnen zwischen Juni und August 2021 reichte.

Insgesamt wurden nach AOK-Angaben während der Pandemie weniger Krebspatienten versorgt: Ambulante onkologische Behandlungsfälle sind 2020 um 3,5 % gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen, im ersten Halbjahr 2021 nochmals um 1,6 %. In schleswig-holsteinischen Krankenhäusern wurden 2020 im Vergleich zu 2019 insgesamt 4,3 % weniger AOK-versicherte Krebspatienten stationär behandelt. Dieser rückläufige Trend setzte sich 2021 weiter fort.

Für AOK-Vorstandschef Tom Ackermann geben insbesondere die Rückgänge bei den Krebsfrüherkennungs- und Vorsorgeuntersuchungen Anlass zur Besorgnis. "So könnten zum Beispiel die Rückgänge bei den Früherkennungskoloskopien, aber auch bei den therapeutischen Koloskopien mittelfristig zu einem Anstieg höherer Schweregrade in den Krebsregistern und zu einer höheren Sterblichkeit der Patientinnen und Patienten führen." Es sei noch zu früh, um diese Auswirkungen seriös belegen zu können, so Ackermann. "Aber es ist zu befürchten, dass Tumore, Vorstufen oder andere Erkrankungen in der Pandemie später entdeckt und behandelt worden sind." Eine Konsequenz aus diesen Entwicklungen sei für die AOK Nordwest, "dass wir unsere Versicherten noch stärker als bisher über die Krebsfrüherkennung informieren wollen. Trotz breiter allgemeiner gesellschaftlicher Akzeptanz der Krebsfrüherkennung bedarf es der weiteren Auseinandersetzung mit partiellem Desinteresse, Ängsten und der möglichen Beeinträchtigung durch Schamgefühle und Tabus."

Auch das Ärzteteam im zum UKSH gehörenden Universitären Cancer Center Schleswig-Holstein (UCCSH) befürchtet ein Versorgungsdefizit durch Corona. "Wir sehen diese Gefahr mit großer Sorge", sagt Prof. Claudia Baldus, leitende Onkologin vom UKSH in Kiel, "umso wichtiger ist es, in der Bevölkerung das Vertrauen in Arztpraxen und Ambulanzen als sichere Orte zu stärken und immer wieder den Nutzen der wichtigsten Vorsorgeuntersuchungen zum Beispiel für Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Darmkrebs, Hautkrebs und Prostatakrebs zu verdeutlichen - damit wir Krebs früh erkennen und besser behandeln können."

Dass es gelingen kann, Menschen selbst in Pandemiezeiten zu Früherkennung und Vorsorge zu motivieren, unterstreicht die im Sommer 2021 gestartete Präventionsstudie Hanse Lungen-Check (www.hanse-lungencheck.de). Hier werden Menschen zwischen 55 und 79 Jahren, die rauchen oder früher einmal geraucht haben, auf ihr mögliches Lungenkrebsrisiko untersucht. Beteiligt sind neben der Medizinischen Hochschule Hannover die Lungenklinik Großhansdorf und der Lübecker Campus des UKSH. "Viele Probanden nehmen weite Wege und lange Wartezeiten in Kauf, um an der Studie und der Früherkennung teilnehmen zu können", erläutert Prof. Martin Reck aus Großhansdorf. Bei den Probanden werde zunächst per Fragebogen das individuelle Krebsrisiko in den nächsten sechs Jahren ermittelt. Diejenigen mit erhöhtem Risiko werden zu einer kostenlosen Lungenkrebsvorsorge geladen, die auch eine CT-Aufnahme in einem mobilen Studien-Truck beinhaltet, der alle zwei Wochen zwischen den drei Standorten wechselt. Über 5.000 Probanden mit einem Risikoprofil seien bereits registriert, so Reck, die CT-Termine der kommenden sechs Wochen seien zu 100 % gebucht - pandemiebedingte Einschränkungen erwarten er und seine Lübecker Kollegin Dr. Sabine Bohnet nicht: "Das Interesse an dem Programm ist unvermindert hoch."

Gleichwohl hat die Pandemie in vielen Bereichen der Krebsversorgung den Finger in die Wunde gelegt. "Versorgungslücken schließen" lautete dann auch das Motto des diesjährigen Weltkrebstages im Februar. Dass es im Flächenland Schleswig-Holstein nach wie vor Versorgungslücken gebe, daran lässt Prof. Frank Gieseler, Vorsitzender der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft, keine Zweifel: Die sektorenübergreifende Versorgung funktioniere nicht reibungslos, in vielen Landesteilen fehle es insbesondere an hämato- onkologischen Fachärzten. "Dort fühlen sich die Patienten oft und zu Recht alleingelassen, weil für sie wichtige Fragen gar nicht gestellt, geschweige denn beantwortet werden können", sagt Gieseler.

Dem kann Dr. Thomas Maurer, Vorsitzender des Hausärzteverbands in Schleswig-Holstein, nur zustimmen: "Fachärztliche onkologische Versorgung findet nahezu ausschließlich in Zentren statt - und die sind in der Stadt. Krebspatienten vom Land kommen da oft zu kurz." Die Tumorbehandlung werde von den Fachärzten gesteuert - für "alles rund um den Krebs herum" seien jedoch Allgemeinmediziner zuständig, so Maurer. "Eine funktionierende Onkologie ohne Hausärzte gibt es nicht." Dies sei bereits vor der Pandemie so gewesen und habe sich in den vergangenen zwei Jahren auch nicht verändert. Dass Krebspatienten aus Angst vor einer Infektion in dieser Zeit den Gang in die Hausarztpraxis gescheut haben, hat er nicht festgestellt. "Wer ernsthaft krank ist und Beschwerden hat, war auch in der Sprechstunde."

"Bei Patienten, die ihre Behandlung ohne Angaben von Gründen abgesagt haben, können wir nur vermuten, dass die Angst vor dem Virus eine Rolle gespielt hat."
Prof. Thomas Herrmann, Heide

In den Kliniken des Landes sorgten insbesondere die ersten Pandemiemonate im Frühjahr 2020 für Umstellungen und Veränderungen, die allerdings zügig zur Routine wurden. "Grundsätzlich hat sich bei uns an der Versorgungssituation für Krebspatienten durch die Pandemie nichts verändert. Wir konnten auch in den Lockdown-Zeiten alle notwendigen Behandlungen zeitnah anbieten und mussten glücklicherweise keine Therapien einschränken", sagt Prof. Thomas Herrmann, leitender Onkologe im Westküstenklinikum Heide. 2020 sei die Zahl der Erstdiagnosen im Onkologischen Zentrum zwar leicht zurückgegangen. Aber der Rückgang sei zu gering, um daraus Rückschlüsse auf die Pandemie zu ziehen. "Es gab Phasen, in denen wir bei den Patienten Unsicherheit gespürt haben, ob der Zeitpunkt für eine Behandlung oder eine Untersuchung jetzt günstig ist. Wenn die Ängste klar formuliert wurden, konnten wir die auch nehmen. Bei Patienten, die ihre Behandlung ohne Angaben von Gründen abgesagt haben, können wir nur vermuten, dass die Angst vor dem Virus eine Rolle gespielt hat."

Insgesamt sei das Westküstenklinikum bislang gut durch die Pandemie gekommen, so Herrmann. Entwarnung für die onkologische Versorgung will er jedoch nicht geben. "Die Pandemie ist noch nicht vorbei und ich kann mir gut vorstellen, dass uns in der Onkologie das Thema COVID-19 aufgrund des hohen Anteils besonders gefährdeter Patienten auch künftig mehr als in anderen Fachgebieten beschäftigen wird."

Auch im Flensburger Malteser Krankenhaus St. Franziskus hielten sich die Einschränkungen in der Versorgung von Krebspatienten in Grenzen, wie Chefärztin Prof. Nadezda Basara erläutert. "Nötige Therapien wie Chemotherapien, Bestrahlungen und Operationen konnten wir in nahezu normalem Umfang fortführen. Die geplanten Untersuchungen wurden vornehmlich in unserem Ambulanten Zentrum für Hämatologie und Onkologie durchgeführt, um als Corona-Cluster-Krankenhaus die Kapazitäten für die stationäre Versorgung von COVID-19-Patienten frei zu halten." Gleichwohl, so Basara, seien viele Patienten aus Angst vor Infektionen später zu einer geplanten Behandlung gekommen. Die Onkologin befürchtet hier negative Auswirkungen: "Untersuchungen zeigen, dass bei zahlreichen Krebserkrankungen bereits ein vierwöchiger Aufschub der Behandlung negative Auswirkungen auf das Überleben der Betroffenen hat."

Von Klinikseite seien elektive Operationen nur dann verschoben worden, wenn dies vertretbar gewesen sei. "Krebspatienten sind auf eine individuelle Versorgung angewiesen, denn Krankheitsverläufe und Therapien unterscheiden sich je nach Tumorart stark. Die Behandlung eines chronischen Leidens lässt sich nicht endlos aufschieben." Die sektorenübergreifende Zusammenarbeit hat Basara auch zu Beginn der Pandemie in guter Erinnerung. "Schleswig-Holstein ist bekannt als ein Land mit großem Teamgeist. Der Austausch mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten war sehr gut." Auch die anfänglichen logistischen Herausforderungen bei den Anschlussheilbehandlungen seien zügig abgearbeitet worden, so Basara.

Im Reha-Bereich kam es mit Pandemiebeginn landes- und bundesweit zu deutlichen Versorgungseinschränkungen. Das bestätigt auch Dr. Jan Schmielau für das Ameos Reha Klinikum Ratzeburg. "Im Frühjahr 2020 wurde das onkologische Rehabilitationsangebot bei uns kurzzeitig ausgesetzt, um die Rehabilitanden vor dem damals noch unbekannten Corona-Virus zu schützen. Dank hoher Schutzmaßnahmen konnten wir die Belegung jedoch Schritt für Schritt wieder erhöhen. Wir merken aber natürlich, dass viele Patienten einer Reha skeptisch gegenüberstehen und die Nachfrage etwas geringer ist als üblich."

Auch haben sich die Anwendungen pandemiebedingt verändert, nicht alle Therapieangebote konnten in gleicher Weise aufrechterhalten werden. Angebote in Innenräumen wie Wirbelsäulen- und Wassergymnastik mussten reduziert oder gestrichen werden, Sportangebote dagegen wurden, wann immer möglich, ins Freie verlegt. Tai-Chi im Grünen, Entspannungsübungen im Wald, Bildhauerkurse unter freiem Himmel - in Anlehnung an das aktuelle Infektionsgeschehen, so Schmielau, "passen wir unser Therapieprogramm zum Schutz unsere Rehabilitanden flexibel an."

Dass Patienten mit Blut- und Krebserkrankungen sowie immunsupprimierte Patienten weiterhin ein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf haben, darauf wies die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in einer Stellungnahme hin. Ebenso haben immunsupprimierte Patienten etwa mit aktiven soliden Tumorerkrankungen ein erhöhtes Risiko, nicht ausreichend auf Impfung oder Booster anzusprechen. Eine medikamentöse Prophylaxe mit der Antikörperkombination Tixagevimab/Cilgavimab sei für Patienten mit eingeschränkter Immunantwort zwar empfehlenswert, heißt es in der Stellungnahme, doch sei sie kein Ersatz für Impfung und persönliche Schutzmaßnahmen wie Mund-Nasen-Masken, Händehygiene und Abstandhalten.

Diese Botschaft ist bei Krebspatienten in Schleswig-Holstein offensichtlich längst angekommen. Im UKSH ist eine Registerstudie mit Krebspatienten, die sich mit dem Corona-Virus infiziert hatten, initiiert worden (COVICA-Register für Krebspatienten mit SARS-CoV-2-Infektion in Schleswig-Holstein). Untersucht werden soll, wie sich die Infektion auf Behandlung, Verlauf und Prognose auswirkt. "Wir haben mit mehreren Hundert Teilnehmern gerechnet, doch selbst Monate nach Studienstart hatten wir erst deutlich unter 30 Patientinnen und Patienten rekrutiert", berichtet Katalinic. Dies, so der Lübecker Epidemiologe, sei ein deutliches Indiz dafür, dass sich Krebspatienten in Schleswig-Holstein besonders und erfolgreich vor einer SARS-CoV-2-Infektion schützen.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 6, Juni 2022
75. Jahrgang, Seite 8-11
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 2. August 2022

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