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ARBEITSMEDIZIN/290: Wenn Arbeit auf die Knochen geht (BAuA)


baua: Aktuell 4/09 - Amtliche Mitteilungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

Berufsspezifische Arbeitsunfähigkeit durch Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland

Wenn Arbeit auf die Knochen geht


Allgemein gesehen treten Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) häufig auf und haben verschiedenste Ursachen. Dennoch gibt es eine Reihe von berufstypischen Belastungen, motorischen Anforderungen und physikalischen Einwirkungen, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung dieser Erkrankungen spielen. Eine wirksame Prävention setzt bei der Verringerung der arbeitsbedingten Ursachen an. Dazu müssen jedoch die Berufsgruppen bekannt sein, die ein erhöhtes Risiko für das Auftreten bestimmter Erkrankungen aufweisen. Die BAuA führte deshalb ein Projekt durch, bei dem Arbeitsunfähigkeitsstatistiken detailliert auf arbeitsbezogene degenerative Erkrankungen im Muskel- und Skelett-System ausgewertet wurden.

In die Auswertung flossen die Arbeitsunfähigkeitsdaten von vier gesetzlichen Krankenkassen (Bundesverband der AOK und BKK, TK, Gmünder Ersatzkasse) für das Jahr 2003 ein. Bei der Aggregation der Daten mussten Kompromisse gemacht werden, da die einzelnen Kassen Arbeitsunfähigkeiten nicht einheitlich definieren und erfassen. Trotzdem umfasste der zusammengeführte Datensatz über 18 Millionen Versicherte. Die Repräsentativität der Daten muss deshalb insbesondere für abhängig Versicherte in Blue-Collar-Berufen als besonders hoch eingeschätzt werden.

Die alters- und geschlechtsbezogene Auswertung der Daten zeigt deutlich, dass Muskel-Skelett-Erkrankungen nicht in allen Fällen häufig sind. Von hoher Bedeutung sind lediglich Rückenschmerzen (M54), Bandscheibenschäden (M53) und Enthesopathien (M77), einer Gruppe von krankhaften Störungen meist gelenknaher Sehnenansatzpunkte. Auch steigt die AU-Fall-Häufigkeit nicht bei allen Muskel-Skelett-Erkrankungen mit dem Alter an. Typisch für das höhere Alter sind Arbeitsunfähigkeitsfälle durch Arthrosen, Rückenerkrankungen und Enthesopathien. Derartige detaillierte Kenntnisse zur Häufigkeit und zum Altersverlauf von Muskel-Skelett-Erkrankung sind eine wichtige Grundlage für die prognostische Bewertung bei Beschäftigten.

Rückenerkrankungen (Diagnosegruppen M50, M51, M53 und M54) treten häufig auf und sind eindeutig altersbezogen. Die Datenanalyse bestätigt die herausragende Bedeutung von Rückenbeschwerden (M54). Zudem unterstreicht sie, dass speziell Beschäftigte in industriellen und technischen Berufen beider Geschlechter ein erhöhtes Risiko für Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Rückenerkrankungen haben. Insbesondere sind Berufe betroffen, von denen angenommen werden muss, dass die Beschäftigen hier in typischer Weise hohen physischen Belastungen ausgesetzt sind. Beispiele sind Straßenreiniger, Abfallbeseitiger, Straßenwarte, Emaillierer, Feuerverzinker und andere Metalloberflächenveredler, Halbzeugputzer und sonstige Formgießerberufe, Waldarbeiter, Waldnutzer, Stauer, Möbelpacker, Fleisch- und Wurstwarenhersteller, Polsterer, Matratzenhersteller, Gerüstbauer und Formgießer.

Durchaus häufig ist auch Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Erkrankungen der oberen Extremitäten. Zu verweisen ist auf Schulterläsionen (M75) und Enthesopathien (M77). Auch die Diagnosegruppe, in der das häufig diskutierte Karpaltunnelsyndrom (G56) verschlüsselt ist, trägt zumindest gelegentlich zu Arbeitsunfähigkeit bei. Frauen trifft diese Erkrankung deutlich häufiger als Männer. Das Auftreten des Karpaltunnelsyndroms ist klar altersabhängig. Auch hier findet sich ein typisches Spektrum an Berufen, in denen Arbeitsunfähigkeit besonders häufig ist. Dies betrifft insbesondere Männer und Frauen in Berufen wie Polsterer, Matratzenhersteller, Verpackungsmittelhersteller, Drahtverformer und -verarbeiter, Schuhwarenhersteller, Bauschlosser, Warenmaler und -lackierer, Metallarbeiter, Kunststoffverarbeiter, Tischler, Fleischer, Halbzeugputzer und sonstige Formgießerberufe, Waldarbeiter, Gerüstbauer, Fleisch-, Wurstwarenhersteller, Metallzieher, Former, Kernmacher, Formgießer, Stahlschmiede. Für viele dieser Berufe sind hoch repetitive Handbewegungen in Kombination mit kraftvollem Zugreifen und extremen Handpositionen (beispielsweise Polsterer) typisch.

Arbeitsunfähigkeiten aufgrund von degenerativen Kniegelenkserkrankungen sind aktuell in Deutschland in einer Reihe Berufen überdurchschnittlich häufig. Männer sind allgemein und berufsbezogen öfter aufgrund von Gonarthrosen und Kniebinnenschäden arbeitsunfähig als Frauen. Die vorliegende Auswertung weist auf einen relativ hohen, durch berufsbezogene präventive Maßnahmen vermeidbaren Anteil an Arbeitsunfähigkeitsfällen in einigen Berufen hin. Die Auswertung unter Anwendung der Berufsklassifikation gibt jedoch keinen direkten Hinweis auf die zugrundeliegenden Risikofaktoren in den Berufen. Arbeitsunfähigkeitsdaten sind dafür nur bedingt geeignet. Insbesondere in den betroffenen Berufen, die von Männern ausgeübt werden (Fliesenleger, Möbelpacker, Waldarbeiter), sind typisch kniebelastende Tätigkeiten zu vermuten (Knien, Heben und Tragen von schweren Lasten). Andererseits muss angenommen werden, dass bei Frauen auch andere berufliche und sonstige Risikofaktoren (stehende Tätigkeit, Klimaeinfluss, Übergewicht) in den jeweiligen Berufen von Bedeutung sind.

Ebenfalls konnte die branchenbezogene Auswertung von Arbeitsunfähigkeitsstatistiken, hier am Beispiel der Land- und Forstwirtschaft, die besondere Gesundheitsgefährdung in physisch besonders belasteten Berufsgruppen der Land- und Forstwirtschaft abbilden. Betroffen sind in diesem Tätigkeitsbereich insbesondere Gärtnerinnen und Gärtner sowie Waldarbeiterinnen und Waldarbeiter, außerdem Tierpflegerinnen und Melkerinnen. Das Spektrum der Diagnosen, aufgrund derer Beschäftigte in diesen Berufen häufiger arbeitsunfähig sind, gibt eindeutige Hinweise auf die Art der physischen Belastung. Bei Gärtnerinnen und Gärtnern dominieren so zum Beispiel Erkrankungen der Sehnen, Sehnenansätze und des Sehnengleitgewebes als Hinweis auf die hoch repetitiven manuellen Belastungen. Arthrosen und Rückenerkrankungen stehen dagegen bei Waldarbeitern als Hinweis auf die hohen biomechanischen Belastungen durch das Heben und Tragen von Lasten und die Zwangshaltungen im Vordergrund.

Dennoch dürfen die Ergebnisse nicht im Sinne von direkten Ursache-Wirkungsbeziehungen interpretiert werden. Letztlich gestattet die Beschreibung von Tätigkeiten über Berufstitel nur eine grobe Einschätzung des Spektrums der tatsächlichen Belastungen. Aussagen, dass durch den Beruf eine bestimmte Erkrankung "kausal verursacht" wird, sind darum nicht statthaft. Unabhängig von dieser Frage sind Beschäftigte in den betroffenen Berufen durch die resultierenden Funktionseinschränkungen der Erkrankungen offensichtlich häufiger als andere Erwerbstätige nicht in der Lage, die Anforderungen in ihrer Tätigkeit zu erfüllen. Um physische Belastungen zu verringern, sollten Präventionsprogramme gezielt in den betroffenen Berufen etabliert werden.

Durch die berufsspezifische Auswertung der Krankheitsartenstatistik lassen sich aktuelle Schwerpunktbereiche für die Prävention in Deutschland aufzeigen. Werden die Daten der Krankenkassen über Jahre fortlaufend ausgewertet, können Veränderungen und Entwicklungen des Erkrankungsrisikos in Einzelberufen dargestellt werden. Dies ermöglicht die Identifikation von Zielgruppen mit erhöhten Morbiditätsrisiken und die Entwicklung spezifischer Angebote an solche Gruppen. Zudem ist auch die Evaluation durchgeführter Präventionsmaßnahmen in Tätigkeitsbereichen denkbar.

Das Projekt zielte auch darauf ab, auf Grundlage der Auswertung Schwerpunktbereiche für die Prävention zu benennen. Dazu wurden die einzelnen Berufe nach der Häufigkeit bewertet, mit der Arbeitsunfähigkeiten im Beruf und in Einzeldiagnosen den Bevölkerungsdurchschnitt signifikant überschreiten. Hier gibt es sowohl bei Männern als auch Frauen Berufe, die dieses Kriterium nicht nur in einer Diagnosegruppe, sondern in einem ganzen Spektrum von Diagnosen erfüllen.

Bei Männern dominieren ausschließlich industrielle und landwirtschaftliche Berufe. Bei Frauen zeigen sich sehr hohe Arbeitsunfähigkeitsraten aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen aber auch in einigen Serviceberufen, wie zum Beispiel Helfern in der Krankenpflege und hauswirtschaftlichen Betreuern. Insgesamt wären nach dieser Rangliste 2,2 Millionen Männer und 1,8 Millionen Frauen in Berufen beschäftigt, die ein erhöhtes Risiko für Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen aufweisen. Präventionsansätze sollten vorrangig auf diese fokussieren.

Der Forschungsbericht der BAuA "Berufsspezifische Arbeitsunfähigkeit durch Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland"; Falk Liebers, Gustav Caffier; ISBN: 978-3-88261-107-6; 244 Seiten; steht als PDF auf der BAuA-Homepage unter der Adresse

http://www.baua.de/de/Publikationen/Fachbeitraege/F1996.html


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Quelle:
baua Aktuell Nr. 4/09, Seite 3-4
Herausgeber:
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2010