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PSYCHOSOMATIK/113: Symposium in Leipzig zu Wiedervereinigung und Psyche am 26.09.2009 (DGPM)


Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)
Pressemitteilung - Freitag, 25. September 2009

Real existierende Einheit - ein Sorgenkind

Symposium in Leipzig zu Wiedervereinigung und Psyche


Am Samstag, den 26. September 2009 veranstalten die östlichen Landesverbände der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) in Leipzig ein Symposium zu der Frage "20 Jahre deutsche Einheit - ist die Seele angekommen?". Vormittags, im wissenschaftlichen Teil des Symposiums, präsentieren namhafte Experten der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie im Anatomischen Institut Forschungsergebnisse zur besorgniserregenden psychosozialen Situation der Menschen in den östlichen Bundesländern und diskutieren über mögliche Wege aus der Krise. Veranstaltungsort für die öffentlichen Vorträge am Nachmittag ist die in diesem Kontext legendäre Leipziger Nikolaikirche. Prominente Protagonisten der friedlichen Revolution, die den Stein der Wiedervereinigung im Herbst 1989 ins Rollen brachte, sprechen dort über ihre damaligen Aufbruchshoffnungen und ihre ernüchternden Erfahrungen mit der real existierenden deutschen Einheit, die noch lange nicht in den Herzen der Menschen in Ost und West angekommen ist.

"Manchmal werde ich gefragt, was denn aus unseren Träumen von 1989 geworden ist", berichtet Dr. Reinhard Höppner, der damals als Präses der Synode der Evangelischen Kirche in der Kirchenprovinz Sachsen[1] dazu beigetragen hatte, dass sich unter sächsischen Kirchendächern eine kritische Masse formieren durfte und schließlich zur friedlichen Revolution geführt hat. "Dann muss ich vorsichtig sein, darf keinen vereinnahmen, denn es gab sehr unterschiedliche Träume in jenem Herbst", besinnt sich Höppner, der in den Jahren 1994-2002 als Ministerpräsident das Land Sachsen-Anhalt regierte. "Die einen hatten die DDR einfach satt und wollten raus, die anderen wollten sie demokratisch umgestalten", erinnert Höppner. Sowohl die Hoffnung auf goldene Zeiten im Westen als auch gesellschaftliche Aufbruchstimmung und Gestaltungswille sei aber bereits kurze Zeit nach dem Mauerfall einer oft abgrundtiefen Ernüchterung gewichen.

"Wir haben einmal für freie Wahlen gekämpft"

Statt der damals von der Politik versprochenen blühenden Landschaften brachen reihenweise die Betriebe zusammen und nie gekannte Arbeitslosigkeit machte sich breit. "Bald entpuppte sich die versprochene Freiheit vor allem als grenzenlose Entfesselung des Marktes. Kein Wunder, dass Verdruss entstand über die neuen Verhältnisse", erklärt Höppner. Die durch Arbeitslosigkeit und Abwanderung des begabten Nachwuchses in den Westen in den darauf folgenden 20 Jahren immer weiter verschärften sozialen Verwerfungen machten, so Höppner, anfällig für Rechtsradikalismus und Desinteresse an der Politik. "Wir haben einmal für freie Wahlen gekämpft. Heute geht kaum mehr die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger zur Wahl", beklagt Höppner.

Gesellschaftlicher Umbruch als Teil der globalen Krise

Höppner sieht die beschriebene Entwicklung als Teil der globalen Krise: Man könne die sozialistische Ideologie zwar einfach durch die kapitalistische austauschen. Aber das sei - wie schon 1990 vorauszusehen - nicht das Ende der Geschichte. Eine Ideologie des unbegrenzten Wachstums könne es auf unserer endlichen Erde eben nicht auf Dauer geben, das zeige die globale Wirtschaftskrise heute allzu deutlich. Auf der andauernden Suche nach einem gerechteren Zusammenleben der Menschen könne da nur die Besinnung auf qualitatives statt quantitativem Wachstum helfen, "nicht auf Haben, sondern auf Sein."

"Einheit durch Beitritt polito-logisch verständlich aber psycho-logisch fragwürdig"

"Nach einer beglückenden Einmütigkeit im Bestreben, die bestehenden Verhältnisse grundlegend zu verändern, trat bereits in der letzten Phase des Aufbruchs von 1989 ein tief greifender Dissens zutage, der im Kern bereits das Wie der deutschen Einheit betraf", berichtet Dr. Christof Ziemer, Berlin, damals Pfarrer der Kreuzkirche in Dresden und Superintendent des Kirchenbezirks Dresden-Mitte. "Statt der erhofften Mitgestaltungsmöglichkeiten erlebten die Menschen im Osten, dass die Ordnungen der bisherigen Bundesrepublik praktisch eins zu eins übernommen wurden und man sich daran anzupassen hatte", beklagt Ziemer. Die Einheit durch Beitritt der DDR zur damaligen Bundesrepublik sei zwar "polito-logisch verständlich aber psycho-logisch höchst fragwürdig", weil sie das Miteinander von Ost- und Westdeutschen auf Augenhöhe in vielen Lebensbezügen verdorben habe. Das kann Prof. Elmar Brähler, Leipzig, aus seiner sozialpsychologischen Forschungserfahrung der vergangenen 20 Jahre bestätigen: Sowohl Ost- als auch Westdeutsche fühlten sich demnach durch die Wende benachteiligt. So neigen Westdeutsche dazu, die Verschlechterung der Wirtschaftslage auf die Wiedervereinigung zurückzuführen. Ostdeutsche wiederum sehen sich um die Ziele der friedlichen Revolution betrogen, bemängeln die immer noch ungleichen Gehälter in Ost und West und erleben die Westdeutschen oftmals als arrogante "Besser-Wessis". Aber auch uralte Ressentiments, die bis weit in die Kaiserzeit zurückreichen, hielt das Gefälle im Blick der West- auf die Ostdeutschen noch aufrecht.

Arbeitslosigkeit unterhöhlt den Glauben an die Zukunft

Die sächsische Längsschnittstudie[2] (www.wiedervereinigung.de/sls/) ist ein aufwändiges sozialwissenschaftliches Projekt, das in seiner Aussagekraft zur Gesellschaftsentwicklung in den östlichen Bundesländern während und nach der Wende seinesgleichen sucht. Die Studie begleitet seit 1987 kontinuierlich eine Stichprobe junger Ostdeutscher des Geburtsjahrgangs 1973 auf ihrem Weg vom DDR- zum Bundesbürger. Sie ist damit ein zeithistorisch besonderes Zeugnis, das den Systemwechsel in der DDR und die sich daraus ergebenden individuellen Konsequenzen abbildet.

Die Daten zeigen, so PD Dr. Yve Stöbel-Richter, Leipzig, dass die Suche der derzeit noch rund 400 Studienteilnehmer nach einer neuen staatsbürgerlichen Identität keineswegs abgeschlossen ist. Sie fühlen sich zwar mehrheitlich schon als Bürger der Bundesrepublik, kommen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zurecht und wissen deren Möglichkeiten und Chancen zu schätzen. Die politischen Verhältnisse in der DDR wünsche sich kaum ein Studienteilnehmer zurück, berichtet Stöbel-Richter.

Andererseits wachse jedoch seit Jahren die Unzufriedenheit mit dem heutigen Gesellschaftssystem, insbesondere im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Sozial-, Familien- und Gesundheitspolitik. "Vor allem durch die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, von der über 70% der heute 36-Jährigen schon mindestens einmal betroffen waren, wurden die Verheißungen des Kapitalismus gründlich entzaubert", erklärt Stöbel-Richter. In der letzten Erhebung konnte nachgewiesen werden, dass die Betroffenen mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit weniger zuversichtlich in die Zukunft blicken, sich stärker vor einer persönlichen Niederlage fürchten, die Wende weniger positiv beurteilen und sich weniger Kinder wünschen. "Ein besonderes Alarmsignal ist, dass rund zwei Drittel der zum Zeitpunkt der Erhebung 34-Jährigen von Armut im Alter bedroht fühlen", führt Stöbel-Richter aus. Beim Systemvergleich DDR - heutige Bundesrepublik habe die DDR in sozialer Hinsicht von Jahr zu Jahr besser abgeschnitten, "vermutlich eine nach dem Untergang eines Staatssystems historisch einzigartige Erscheinung." Das gelte vor allem in Bezug auf die soziale Sicherheit, die Kinderbetreuung, das Verhältnis der Menschen untereinander, die Förderung der Familie, den Schutz gegenüber Kriminalität, die Schulbildung und die soziale Gerechtigkeit.

Wende als genuiner Akt der Aufklärung im Sinne Kants

"Die emotionalen Lasten der Einheit sind schlecht verteilt", so die Diagnose von Dr. Jochen Buhrmann, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Schwerin und Vorsitzender des DGPM-Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern. Um diese Schieflage zu korrigieren, sei es notwendig, dass die Wende endlich als beispielhafter Akt der Aufklärung anerkannt und gewürdigt werde. Aufklärung im wahrsten Sinne des Wortes war es nämlich, die von den Ostdeutschen geleistet wurde, legt man die Kant'sche Definition von Aufklärung als "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" zugrunde. Für Außenstehende ist es schier unermesslich, wie viel Zivilcourage und Mut zur Veränderung in eine völlig ungewisse Zukunft dazu notwendig war. Eigentlich, so Buhrmann, müssten spätestens im Rahmen der nun anstehenden 20-Jahr-Feiern alle Westdeutschen vor den Ostdeutschen respektvoll den Hut ziehen und zum Ausdruck bringen: "Die Wiedervereinigung haben wir euch zu verdanken". Dazu, so Buhrmann, müssten die Westdeutschen aber zunächst einmal bereit sein, ihre eigenen Überlegenheitsgefühle und Vorurteile gegenüber den Ostdeutschen kritisch zu reflektieren.

Opfer des DDR-Regimes - Aufarbeitungsdiskurs dringend nötig

Die Opfer der Verfolgung durch das DDR-Regime würden bislang noch viel zu wenig beachtet, ergänzt Buhrmann. Die Geschichten von Verrat, Inhaftierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung wirken nach und können die psychische und körperliche Gesundheit der Betroffenen bis zum heutigen Tag erheblich beeinträchtigen. Das bestätigt Dr. Karl-Heinz Bomberg, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Berlin. Als regimekritischer Liedermacher war Bomberg selbst 1984 drei Monate lang inhaftiert. "Therapeutische Hilfe ist möglich und erfordert Kompetenz sowie zeitlichen Abstand zu den Ereignissen", betont Bomberg. Darüber hinaus sei aber auch ein öffentlicher Aufarbeitungsdiskurs dringend notwendig, der der Würde der Opfer Rechnung tragen müsse. Zudem sei eine Erinnerungskultur erforderlich, die ein differenziertes DDR-Bild entwickelt. Die durchlebten Erfahrungen bewirkten, so Bomberg, eine erhöhte Wachsamkeit für weltweite politische Traumatisierungen in der Gegenwart.

Ohne politische Freiheit keine Psychotherapie?

Das DDR-Regime hatte erheblichen Einfluss auf die dort gängige Praxis der Psychotherapie. So war die Psychoanalyse verboten und hätte sich naturgemäß in einem repressiv-autoritären System auch nicht entwickeln können, so die Einschätzung des Psychoanalytikers Dr. Jochen Schade, Leipzig. Andererseits war die Ausübung von theoretisch weniger anspruchsvollen, aber klinisch erfolgreichen psychotherapeutischen Techniken möglich. "Dass die Gesellschaft auch in den westlichen Demokratien einen Einfluss auf die Psychotherapie ausübt, wird demgegenüber oft verleugnet", kritisiert Schade das gängige Klischee und beklagt in diesem Zusammenhang, dass die analytische Sozialpsychologie und Kulturtheorie keinen großen Stellenwert mehr besitze. "Die harmonische Verbindung von Freiheit und Einheit mag für Sonntagsreden geeignet sein, alltagstauglich ist sie nicht, da muss nichts weniger als die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit ausgehalten werden", resümiert Ziemer. Ob die Seele in der Einheit angekommen sei? "Warum sollte sie?" stellt Ziemer die Gegenfrage. Vielleicht reiche es, dass sie in der Wirklichkeit ankommt: "Wach für das, was nicht stimmt, gehalten von dem, was trägt und bereit für das, was kommt."


[1] Die Kirchenprovinz Sachsen (KPS) stimmte geographisch nicht mit dem heutigen
Freistaat Sachsen überein. Das Gebiet der KPS befand sich überwiegend im heutigen
Sachsen-Anhalt, ein kleiner Teil in Thüringen und nur sehr kleine Teile der KPS
befanden sich auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Sachsen.

[2] Autoren der Sächsischen Längsschnittstudie:
- Prof. Dr. Elmar Brähler und PD Dr. Yve Stöbel-Richter, Universität Leipzig,
   Selbständige Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie,
   www.uni-leipzig.de/~medpsy
- Prof. Dr. Peter Förster, Forschungsstelle Sozialanalysen, Leipzig
- Dr. habil. Hendrik Berth, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden,
   Technische Universität Dresden, Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie;
   www.medpsy.de


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Quelle:
Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)
Pressereferent der DGPM: Dr. Thomas Bißwanger-Heim
Gerstenhalmstr. 2, 79115 Freiburg
Tel. 0761 / 488 2 777 oder 0170 24 04 992, Fax 0761 / 488 2 778
E-Mail pressereferent@dgpm.de
Internet: www.dgpm.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2009