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PSYCHOSOMATIK/126: Wie die Kultur unsere Gefühle steuert (idw)


Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
Medizin - Kommunikation, 14.03.2011

Wie die Kultur unsere Gefühle steuert - Sag mir woher du kommst und ich sage dir, was dich bedrückt


Essen - In Deutschland leben mehr als 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Studien belegen, dass Migranten bei Scheidungen oder familiären Krisen psychisch verletzbarer sind als Einheimische. Sie suchen sich dabei auch seltener medizinische Hilfe. Hürden sind vor allem fehlende Sprachkenntnisse bei den Zugereisten und fehlende Kulturkenntnisse bei den behandelnden Ärzten. Wie eine muttersprachliche Psychotherapie die Therapietreue der Patienten verbessert und Diagnosen zuverlässiger macht, diskutieren Experten auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Dieser findet vom 23. bis 26. März 2011 in Essen statt.

Türkische Migrantinnen leiden unter Eheproblemen erheblich mehr als etwa westeuropäische Frauen. In einer Untersuchung gaben sie an, dass ehelicher Streit und Trennung für sie die größte psychische Belastung darstellt - noch vor Ereignissen wie dem Tod eines Angehörigen oder einer schweren Krankheit. "Der enge Zusammenhang zwischen einer gescheiterten partnerschaftlichen Beziehung und einer posttraumatischen Belastungsstörung kann mit der sehr hohen Wertigkeit der Ehe in bestimmten Kulturen und besonders im Kontext der Heiratsmigration erklärt werden", sagt Privatdozentin Dr. med. Yesim Erim vom Universitätsklinikum Essen. Diesen Frauen sei deshalb nicht mit dem Rat geholfen, sich doch vom Ehemann loszusagen und ein eigenes Leben anzufangen. "Das würde verkennen, dass es für türkischstämmige Frauen kein Rollenmuster für die Gestaltung des sozialen Lebens nach einer Trennung oder Scheidung gibt", so die Ärztin und Psychotherapeutin. Dies ändere sich jedoch zunehmend. "Auch suchen erstmals türkische Männer nach psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten. Alleine zu wohnen und alleinerziehend zu sein, bereiten ihnen Probleme", schildert Erim ihre Erfahrungen aus der interkulturellen Ambulanz in Essen.

Bislang finden hierzulande Migranten in erster Linie deutsche und damit deutschsprachige Psychotherapeuten vor. "Das ist insofern problematisch, als zahlreiche psychische Belastungen nur vor dem Hintergrund ihres kulturellen Kontextes verstehbar werden", sagt Erim. Auch die muttersprachliche Behandlung sei hilfreich, denn Patienten nehmen eine Therapie dann eher in Anspruch. Der Therapeut könne zudem sicherer beurteilen, ob eine psychische Störung vorliegt.

Nach Ansicht von Wissenschaftlern bestimmen Normen und Erwartungen einer Kultur unseren Gefühlshaushalt viel stärker als bislang angenommen: "Dieser Erkenntnis müssen wir Rechnung tragen und die Psychotherapie interkulturell ausrichten", fordert die Expertin. Während beispielsweise eine Abtreibung in Russland nur selten ein psychisches Trauma bei den Betroffenen auslöse, sei es in den USA ganz anders: Dort geht eine Abtreibung sehr häufig mit einer schweren seelischen Krise einher. "Die kulturellen Standards eines Landes entscheiden mit darüber, was einen Menschen seelisch krank werden lässt."

Psychotherapie müsse in Zukunft mehr sein als eine Therapiemethode westeuropäischer Prägung. "Nur wenn wir uns auf die Probleme und Denkweise der Migrantinnen und Migranten einlassen", so Erim, "wird es uns gelingen, die Akzeptanz von Psychotherapie bei den Zugereisten zu erhöhen." Dass dies nötig ist, belegen mehrere Gesundheitssurveys: Migranten erkranken häufiger an Depressionen und anderen seelischen Leiden als Einheimische. Inwiefern kulturelle Faktoren die Psyche unterschiedlich belasten und wie die Behandlung von Migranten verbessert werden sollte, ist auch Thema der Pressekonferenz im Rahmen des Deutschen Kongresses für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am 24. März 2011 in Essen.


Literatur:

Yesim Erim et al:
Traumaerlebnisse, Posttraumatische Belastungsstörung und Kohärenzgefühl bei türkischsprachigen Patienten einer psychosomatischen Universitätsambulanz
In: Zeitschrift für Medizinische Psychologie, 2009, 18, 108-116

Psychotherapie im Dialog 11 (4):
Schwerpunktheft Migration

Kongressveranstaltungen zum Thema:
Plenarveranstaltung:
Interkulturelle Psychosomatik -
Alle gleich und doch verschieden?
Freitag, 25. März 2011, 9.00 bis 12.30 Uhr
Congress Center West, Saal Europa

Symposium:
Interkulturelle Psychosomatik
Freitag, 25. März 2011, 14.00 bis 15.30 Uhr
Congress Center West, Saal Berlin

State of the Art:
Interkulturelle Aspekte in der Psychotherapie
Freitag, 25. März 2011, 16.00 bis 17.30 Uhr
Congress Center Süd, Konferenzraum T

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/de/institution76


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
Medizin - Kommunikation, 14.03.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2011