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UMWELT/209: 20 Jahre Umwelt und Gesundheit aus Sicht einer Nichtregierungsorganisation (umg)


umwelt · medizin · gesellschaft - 2/2010
Humanökologie - soziale Verantwortung - globales Überleben

20 Jahre Umwelt und Gesundheit aus Sicht einer Nichtregierungsorganisation

Von Erik Petersen


Im Jahre 1989 startete ein europaweiter Prozess mit dem Ziel, die schädlichen Umwelteinflüsse auf die Gesundheit zu verringern. Auf bislang 5 Ministerkonferenzen der WHO Europa-Region wurden die Grundlagen festgelegt und die Fortschritte und Versäumnisse diskutiert. Die letzte Ministerkonferenz vom 10.-12.3.2010 in Parma/Italien nannte als gegenwärtig wichtigste Herausforderungen insbesondere die gesundheitlichen und umweltbezogenen Folgen des Klimawandels, die gesundheitlichen Risiken für Kinder und andere vulnerable Gruppen sowie die sozioökonomischen und geschlechtsbezogenen Ungleichheiten in Bezug auf Umwelt und Gesundheit. Die folgende äußerst subjektive Würdigung ist das Resümee einer sich über fast 15 Jahre erstreckenden Begleitung des Prozesses Umwelt und Gesundheit in unterschiedlichen Funktionen aus der Nichtregierungs-Perspektive.



Frankfurt 1989

Nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1977 ihre Strategie "Gesundheit für Alle bis zum Jahr 2000" ins Leben gerufen hatte, folgte die WHO-Europa-Region 1980 mit einer "Europäischen Strategie Gesundheit für Alle". Dass bei diesem Prozess die Umwelt eine nicht geringe Rolle spielt, wurde spätestens nach dem Reaktor-Unfall von Tschernobyl 1986 deutlich. Auf höchster politischer Ebene kam jetzt der Zusammenhang von Umwelt und Gesundheit auf die Agenda. Es begann ein europaweiter Prozess mit dem Ziel, die Umwelt- und damit die Gesundheitssituation in Europa zu verbessern. Träger dieses Prozesses ist die WHO Europa Region, der zur Zeit 53 Staaten angehören.

"Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Umwelt, die ein höchstmögliches Maß an Gesundheit und Wohlbefinden ermöglicht", so haben es die europäischen Staaten in der "Europäischen Charta Umwelt und Gesundheit" formuliert. Die Charta wurde 1989 auf der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) initiierten 1. Europäischen Konferenz zu Umwelt und Gesundheit in Frankfurt am Main verabschiedet. Die Begrüßung der TeilnehmerInnen durch das gast-gebende Deutschland erfolgte durch Bundespräsident Richard von Weizsäcker (Abb. 1).


Helsinki 1994

Die 2. Europäische Ministerkonferenz für Umwelt und Gesundheit 1994 in Helsinki verabschiedete einen "Aktionsplan Umwelt und Gesundheit für Europa" und beschloss, dass jedes Land einen nationalen Aktionsplan für Umwelt und Gesundheit bis Ende 1997 entwickeln solle (siehe Tab. 1).

Als sich diese Nachricht unter deutschen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) herumgesprochen hatte und Nachfragen bei Ministerien, Behörden und anderen NGOs auf Unkenntnis gestoßen waren, witterten einige Protagonisten einen politischen Skandal. Es gelang auf Initiative der Interdisziplinären Gesellschaft für Umweltmedizin (IGUMED) 1996 ein breites "Bündnis Umwelt und Gesundheit" zu gründen. Ein früherer Geschäftsführer der deutschen Sektion der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), Till Bastian, wurde beauftragt, auf Grundlage der Helsinki-Beschlüsse Vorschläge der NGOs für einen deutschen Aktionsplan Umwelt und Gesundheit zu koordinieren und auszuarbeiten. Nach mehreren äußerst produktiven und auch turbulenten Treffen des Bündnisses, dem u.a. Greenpeace, der BUND, das Wuppertal Institut, die IPPNW, der Ökologische Ärztebund und die Ärztekammer Berlin angehörten, gelang es den Plan im Frühjahr 1998 fertig zu stellen (BASTIAN 1998, Abb. 2). Die damalige Frustration der NGOs über die als Untätigkeit wahrgenommene Politik der Regierung Kohl verdeutlicht u.a. das Editorial des Autors zur Veröffentlichung einer Kurzfassung des NGO-Aktionsplans in der Zeitschrift Arzt und Umwelt:

"Geradezu merkwürdig mutet es an, wenn die politisch verantwortlichen Minister wirkungsvolle Pläne - sogar Aktionspläne - verabschieden, sich selber Fristen setzen und dann absolut in Untätigkeit verharren bis kurz vor Ablauf der letzten Frist noch auf die Schnelle irgendetwas zusammengestellt wird, um dann auf der nächsten Ministertagung wieder mit hehren Programmen glänzen zu können..." (PETERSEN 1998).

Der Vorschlag der NGOs stellte in Anlehnung an die Helsinki-Beschlüsse tatsächlich Pläne mit konkreten Zielvorgaben in den wichtigsten Handlungsfeldern Wassergüte, Luftgüte, Lebensmittelqualität und -sicherheit, Abfallbehandlung und Bodenverschmutzung, Humanökolgie und Siedlungswesen, Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung, Unfälle sowie Umweltpolitik und Umwelthygienemanagement auf (BASTIAN 1998).

Als Teil des Bündnisses mit dem Fokus auf Kinder gründete sich bereits ein Jahr später das Netzwerk Kindergesundheit und Umwelt, das 1999 in London erstmals eine Kinderagenda für Gesundheit und Umwelt vorstellte, die späterhin mehrmals aktualisiert wurde (NETZWERK KINDERGESUNDHEIT UND UMWELT 1999-2010).

Die in den letzten Zügen liegende Regierung von Bundeskanzler Kohl mit der Umweltministerin Merkel kam mit ihren Hausaufgaben erst sehr spät in Gang und wurde dann abgewählt. Als dann die neue Regierung von Bundeskanzler Schröder mit zwei grünen Ministern in den entscheidenden Ministerien für Gesundheit (BMG) und Umwelt (BMU), Andrea Fischer und Jürgen Trittin, startete, erfasste die NGOs eine fast euphorische Aufbruchstimmung und die Sehnsucht nach Erfüllung einer lang gehegten Verknüpfung von Umwelt- und Gesundheitsbewegung. Die neue Regierung und auch die Grünen hatten allerdings erst einmal andere Sorgen als sich um die Basis zu kümmern.


Tab. 1: Wichtigste Ergebnisse der Europäischen Ministerkonferenzen 1989-2010 (Quelle: HARTMANN 2010; ergänzt und aktualisiert)

7./8.12.1989 Frankfurt a. M. (Deutschland)

Auf dieser 1. Konferenz (http://www.euro.who.int/eehc/conferences/20021107_4), an der die Umwelt- und Gesundheitsminister der europäischen Region der WHO teilnahmen, wurde als zentrales und wegweisendes Dokument die "Europäische Charta Umwelt und Gesundheit" verabschiedet. In dieser Charta heißt es:

Jeder Mensch hat Anspruch auf:

eine Umwelt, die ein höchstmögliches Maß an Gesundheit und Wohlbefinden ermöglicht,
auf Information und Anhörung über die Lage der Umwelt, sowie über Pläne, Entscheidungen und Maßnahmen, die voraussichtlich Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit haben und
auf Teilnahme am Prozess der Entscheidungsfindung

Als weiteres Ergebnis der Konferenz wurde das Europäische Zentrum für Umwelt und Gesundheit (European Centre for Environmental Health - ECEH) als Teil des WHO-Regionalbüros für Europa eingerichtet.


20.-22.6.1994 Helsinki (Finnland)

Unter dem Motto "Planung" ("Planning") fand 1994 in Helsinki/Finnland die 2. Europakonferenz Umwelt und Gesundheit
(http://www.euro.who.int/eehc/conferences/20021107_1) statt. In Vorbereitung dessen wurde vom ECEH der umfassende Situationsbericht "Concern for Europe's Tomorrow" (Sorge um Europas Zukunft) vorgelegt. Basierend auf diesem Bericht wurde von den Delegierten ein Europäischer"Aktionsplan Umwelt und Gesundheit für Europa" (Environmental Health Action Plan for Europe - EHAPE) verabschiedet. Die teilnehmenden Länder verpflichteten sich zudem, den Europäischen Aktionsplan jeweils durch Nationale Aktionspläne Umwelt und Gesundheit (National Environmental Health Action Plan - NEHAP) umzusetzen. Zur Koordination dieser Aufgabe wurde der Europäische Ausschuss für Umwelt und Gesundheit (European Environment and Health Committee - EEHC) eingerichtet.


16.-18.06.1999 London (Großbritannien)

Unter dem Motto "Partnerschaftliches Handeln" fand 1999 in London die 3. Europakonferenz Umwelt und Gesundheit
(http://www.euro.who.int/eehc/conferences/20021010_2) statt. Sie diente dem Austausch der bei der Aufstellung und Umsetzung der NEHAPs gemachten Erfahrungen. Die Erkenntnis, dass die Umsetzung der Nationalen Aktionspläne auf lokaler Ebene erfolgen muss, führte zu der Empfehlung, Lokale Aktionspläne Umwelt und Gesundheit (Local Environmental Health Action Plans - LEHAPs) zu entwickeln oder an bereits bestehende Programme, wie z. B. Gesunde Städte-Projekte oder Lokale Agenda 21-Initiativen anzuknüpfen.

Auf der Konferenz wurden folgende Dokumente verabschiedet:

Ministerdeklaration - befasst sich u. a. mit Themen wie Öffentlichkeitsbeteiligung und Zugang zu Informationen, Klimaveränderungen und Gesundheitsgefahren für Kinder
Charta Verkehr, Umwelt und Gesundheit - rückt insbesondere die Umwelt- und Gesundheitsaspekte bei der Verkehrspolitik in den Mittelpunkt
Protokoll über Wasser und Gesundheit - enthält wesentliche Bestimmungen für die Verringerung wasserbedingter Krankheiten

Im Rahmen eines "Forums Gesunder Planet" (Healthy Planet Forum) beteiligten sich auch Nichtstaatliche Organisationen (Non-Governmental Organizations - NGOs) an dieser Konferenz.


23.-25.06.2004 Budapest (Ungarn)

Die 4. Europakonferenz Umwelt und Gesundheit (http://www.euro.who.int/budapest2004) stand unter dem Motto "Die Zukunft unseren Kindern" ("The Future for our Children"). Damit wird anerkannt, dass Kinder und künftige Generationen den Kern einer nachhaltigen Entwicklung bilden. Eine Politik, die sie schützt, dient zugleich auch dem Schutz der gesamten Bevölkerung. NGOs trafen sich parallel auf dem Healthy Planet Forum.

Folgende Dokumente werden verabschiedet:

- Budapest Erklärung
- Aktionsplan zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in der Europäischen Union (CEHAPE)
- Erklärung der Europäischen Kommission zur Budapester Konferenz über Umwelt und Gesundheit
- Erklärung der Jugend


10.-12.3.2010 Parma (Italien)

Die 5. Europäische Ministerkonferenz Umwelt und Gesundheit (http://www.euro.who.int/parma2010) unter dem Thema "Schutz der Gesundheit der Kinder in einer sich verändernden Umwelt" beschloss u.a.

- Erklärung von Parma über Umwelt und Gesundheit
- Deklaration der Europäischen Kommission
- Parma Erklärung der Jugend



London 1999

Immerhin legte Deutschland dann pünktlich zur 3. Europäischen Ministerkonferenz 1999 in London sein Aktionsprogramm Umwelt und Gesundheit (APUG, www.apug.de) vor, was nur Dank der tatkräftigen Mithilfe des "Beraterkreises zum APUG" möglich wurde, dem seit 1997 neben Vertretern aus Ministerien und Oberbehörden vornehmlich Wissenschaftler und einige wenige weitere Behörden- und NGO-Vertreter angehörten. Bezeichnenderweise ließ dieses Programm keinen rechten Plan erkennen und so fanden sich auch von den Vorgaben der Helsinki-Konferenz oder den Anregungen der NGOs so gut wie nichts im APUG wieder.

Während die früheren Konferenzen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit getagt hatten, bezog die Londoner Konferenz gemäß ihres Mottos "Handeln in Partnerschaft" ganz offiziell zum ersten Male in größerem Maßstab auch NGOs mit ein. Auf dem "Healthy Planet Forum", das zeitgleich und ortsnah zur Ministerkonferenz stattfand, trafen sich NGO-VertreterInnen aus fast allen WHO-Mitgliedsländern untereinander und mit ihren Regierungsdelegationen. So kam es dort zu einem schon historischen Gespräch zwischen den deutschen NGO-Delegierten und der damaligen Ministerin Fischer. Es blieb das einzige Gespräch des Bündnisses mit der Leitung eines Ministeriums und seitdem wurde auch weder auf den Europäischen Ministerkonferenzen noch auf deutschen APUG-Konferenzen einer der zuständigen Minister gesichtet - mit Ausnahme von Frau Ministerin Schmidt (BMG) auf dem Kinderforum im November 2001 in München.

Zwar ist seit 2002 auch das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) einbezogen, die mangelnde finanzielle Ausstattung des APUG blieb von Anfang an ein Dilemma. Die am APUG beteiligten Ministerien und Oberbehörden versuchten das Problem zu entschärfen, indem bereits 2001 beschlossen wurde, den Fokus auf Kinder zu legen. Hieran waren auch die einbezogenen NGOs nicht zuletzt durch den "Beraterkreis" beteiligt. Auch auf der europäischen WHO-Ebene waren Bestrebungen im Gang, das Thema "Kinder" auch aus Gründen der stärkeren Akzeptanz in den Vordergrund zu rücken und so kam es dann zur Fokussierung auf Kindergesundheit und Umwelt in der nachfolgenden Konferenz.


Budapest 2004

Die 4. Europäische Ministerkonferenz vom 23.-25.6.2004 in Budapest (Ungarn) unter dem Motto "Die Zukunft unseren Kindern" stellte europaweit Kinder in den Mittelpunkt. Die dort verabschiedeten Dokumente "Budapest Deklaration" und "Aktionsplan zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in der europäischen Region (CEHAPE)" (WHO 2004) konkretisierten die bisherigen Beschlüsse mit dem Fokus auf Kinder. Leider konnte das "Healthy Planet Forum" nicht in räumlicher Nähe zur Ministerkonferenz stattfinden, sodass sich die Begegnungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Delegationen auf kurze Stippvisiten beschränkten. Es gab einen Kurzbesuch der offiziellen deutschen Delegation mit der damaligen Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Caspers-Merk (BMG) an der Spitze beim Informationsstand des Netzwerks Kindergesundheit und Umwelt und eine anschließende Diskussionsrunde mit Teilen der deutschen NGO-Vertretungen, in der es hauptsächlich um den Stellenwert der Fachrichtung "Umweltmedizin" in Deutschland ging. Der Beraterkreis hatte im Übrigen sein Mandat mittlerweile zurückgegeben, da die überwiegende Mehrzahl der Vertreter aus Wissenschaft und Verbänden eine Fortführung als nicht weiter sinnvoll erachteten. Als ein Grund wurde angeführt, dass die Sitzungen unproduktiv geworden seien und die Behörden letztlich die versammelten Kompetenzen nicht nutzen konnten oder wollten, sodass der ehrenamtliche Einsatz der Experten verpuffen würde. Alle Beteiligten mussten sich eingestehen, dass der Stellenwert des APUG bei den Leitungen der beteiligten Ministerien nicht allzu weit oben angesiedelt war.

Immerhin konnten mit eigenen APUG-Mitteln u.a. mehrere Modell-Projekte zu "Lokalen Aktivitäten" gefördert werden. Die Abschlussveranstaltung geriet 2006 allerdings eher zu einer Bankrott-Erklärung der Politik, als die zuständige Referatsleiterin des BMG zu guter Letzt zugeben musste, dass es bis auf weiteres keine Mittel und von daher auch keine Projektfinanzierungen mehr geben würde.

Nachdem das Bündnis Umwelt und Gesundheit der NGOs nach einem erfolglosen Kampf für eine Verstetigung mit Hilfe einer Anschubfinanzierung durch Ministerien und/oder Stiftungen sich mehr oder weniger auflöste, blieb das Netzwerk Kindergesundheit und Umwelt als Zusammenschluss mehrerer NGOs aus dem Bereich Kinder-Umwelt-Gesundheit übrig. Auf der Basis einiger kleinerer APUG-Projekte seit 2001 konnte das Netzwerk ein Mindestmaß an kritischer Begleitung organisieren. Die großen Verbände wie Greenpeace oder der BUND waren zu der Zeit schon lange nicht mehr mit von der Partie. Auch die NGOs mussten sich eingestehen, dass sie weder in der Lage gewesen waren, das Thema Umwelt und Gesundheit stärker in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken noch die Diskrepanzen innerhalb der NGOs selber zwischen Umwelt- und Gesundheitsbewegung zu überbrücken (PFAHL & GÖPEL 2004). Immer wichtiger wurde die europäische Vernetzung. Hier entwickelte sich die Health and Environment Alliance (HEAL) zum entscheidenden Koordinator der europäischen NGO-Koordination. Zusammen mit Women for a common Future (WECF) besetzen sie auch die NGO-Sitze in den Vorbereitungsgremien der Ministerkonferenzen - ausgestattet mit Projektmitteln der EU-Kommission.

2007 zog die Konferenz "Intergovernmental Midterm Review" in Wien eine Zwischenbilanz. Deutschland veröffentlichte einen im Grundtenor positiven Bericht "Eine lebenswerte Umwelt für Kinder" zur Umsetzung des WHO-Kinderaktionsplans CEHAPE (BMG/BMU 2007). Mit der Fertigstellung der Kinder- und Jugend-Gesundheitsstudie (KiGGS) einschließlich des Kinder-Umwelt-Surveys (KUS) und weiterer Module hat die Grundlagenforschung in Deutschland einen gewaltigen Schritt vorwärts getan. Erstmals liegen jetzt repräsentative Daten zur Gesundheitssituation und auch speziell zur gesundheitsbezogenen Umweltbelastung von Kindern und Jugendlichen vor (www.kiggs.de, www.umwelt-bundesamt.de/gesundheit/survey/us03/uprog.htm). Um diese Studien mussten die Protagonisten aus Robert Koch-Institut (RKI) und Umweltbundesamt (UBA) gemeinsam mit vielen Mitstreitern hart kämpfen und ein ums andere Mal drohte ein vorzeitiges Ende. Diejenigen, die dabei waren, werden sich mit Grausen an die Jubiläumsveranstaltung "3 Jahre APUG" 2002 in Berlin erinnern, wo ein öffentliches Gefeilsche um weitere Forschungsmittel den Zuhörern die Feierlaune austrieb. Zu guter Letzt ist ein europaweites Vorzeigeprojekt entstanden, worauf alle Beteiligten mit Recht stolz sein können. Die vorliegenden repräsentativen Daten waren bereits Grundlage für eine Fülle von Veröffentlichungen und haben weitere Programme angestoßen bzw. mit Daten unterfüttert (z.B. Aktionsplan Allergien, INFORM, Plattform Ernährung und Bewegung). Insbesondere auch Präventionsprojekte von NGOs können zur Legitimierung ihrer Ziele auf die Daten zurückgreifen (HAUSMANN & PETERSEN 2010, in diesem Heft ab S. 110). Mittlerweile sind KiGGS und KUS auch als public-file zur weiteren wissenschaftlichen Auswertung erhältlich. Beide Studien werden keine Fortsetzung finden, es wird aber wohl eine Geburts-Kohortenstudie zur Umweltbelastung von Kindern geben.


Parma 2010

Die 5. Europäische Ministerkonferenz 2010 in Parma/Italien "Schutz der Gesundheit der Kinder in einer sich verändernden Umwelt" präzisierte insbesondere die zukünftigen Schwerpunkte, vor allem die gesundheitlichen und umweltbezogenen Folgen des Klimawandels in der "Erklärung von Parma" (WHO 2010a). Der Fokus auf Kinder bleibt im Prinzip bestehen, wird aber erweitert durch andere vulnerable Gruppen, zu denen insbesondere ältere Menschen gehören - nicht zuletzt aufgrund der demographischen Entwicklung. Beide Bevölkerungsgruppen leiden auch im besonderen Maße unter den Folgen des Klimawandels. Die Ziele des bereits in Budapest beschlossenen Aktionsplans zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in der Europäischen Region (CEHAPE) werden bekräftigt. Hier sind bei den prioritären Zielen Vorsorge, Chancengerechtigkeit, Armutsbekämpfung und Gesundheitsförderung vorrangige Aspekte genannt (Tab. 2). Das Thema "Umweltgerechtigkeit" wird zukünftig verstärkt in den Fokus genommen (WHO 2010b, siehe auch die Dokumentation der WHO zum Thema auf S. 100 in diesem Heft).(1)


I. Wasser:
Verhütung von Magen-Darmerkrankungen und anderen gesundheitlichen Effekten, einschließlich Todesfällen, durch Bereitstellung von sauberem, bezahlbarem Wasser und guten sanitären Verhältnissen.

II. Unfälle und Verletzungen:
Verhütung und Verringerung von Unfällen und Verletzungen sowie Verringerung der Zahl der Erkrankungen als Folge von Bewegungsmangel durch die Schaffung sicherer und schützender Wohnverhältnisse.

III. Innenraum- und Außenluft:
Verhütung und Verminderung unter anderem von Atemwegserkrankungen und Asthmaanfällen durch Verringerung der Schadstoffbelastung in der Innenraum- und Außenluft.

IV. Chemische, physikalische und biologische Einwirkungen:
Verringerung des Risikos von Erkrankungen und Behinderungen als Folge von - auch bereits vorgeburtlichen - Belastungen durch gefährliche Chemikalien, physikalischen Einwirkungen (z.B. Lärm und UV-Strahlung) und biologischen Wirkstoffen sowie gefährlichen Arbeitsbedingungen der Mutter vor der Geburt, in der Kindheit und in der Jugend. Reduzierung der Zahl der Neuerkrankungen an Melanomen und anderen Formen von Hautkrebs im späteren Leben sowie anderen Krebsformen im Kindesalter.

Tab. 2: Die prioritären Ziele des Aktionsplans zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in der Europäischen Region (CEHAPE)


Fazit und Ausblick

Natürlich mussten die NGOs sich von vielen Illusionen verabschieden und den politischen Realitäten ins Auge blicken.(2) Daran gemessen hat der Prozess Umwelt und Gesundheit auch in Deutschland einiges vorangebracht, was sonst vielleicht gar nicht oder zumindest nicht in dem Umfang möglich gewesen wäre. An erster Stelle sind hier die Einbindung von NGOs und die beiden großen Studien KiGGS und KUS zu nennen. Auch die Einrichtung und Etablierung der APUG-Geschäftsstelle im UBA erwies sich als eine nachhaltige Maßnahme. Sie fungiert als Schnittstelle zur Vernetzung von Nachrichten und Akteuren innerhalb und außerhalb der Behörden. Mittlerweile existieren auch eine Anzahl von Informationsbroschüren für die Öffentlichkeit (siehe unter www.apug.de). Nach wie vor muss aber die mangelhafte Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit angemahnt werden. Hier haben aber auch die NGOs versagt, da die großen Umweltverbände in den letzten Jahren dem Thema eher skeptisch gegenüber standen. So gelang es auch nicht eine deutsche Jugendbeteiligung zu organisieren, die Delegationen der Jugend in Budapest 2004, Wien 2007 und Parma 2010 blieben ohne deutsche Beteiligung. Mit der Kette fehlende Öffentlichkeit → fehlender politischer Wille → fehlende Finanzmittel schließt sich der Kreis.

Auf der Habenseite muss auf jeden Fall auch das Bonner Büro des Europäischen Zentrums für Umwelt und Gesundheit (ECEH Bonn) genannt werden, das seit 2001 mit finanzieller Unterstützung des BMU zu den Themen Luftgüte, Chemikaliensicherheit, Umwelt- und Gesundheitsinformationssysteme, Wohnen, Lärm und Gesundheit sowie Sicherheit am Arbeitsplatz arbeitet und bedeutende Leitlinien publiziert, z.B. zum Thema Nachtlärm (WHO 2009).(3)

Ob die in Parma beschlossenen organisatorischen Neuerungen tatsächlich den Prozess beschleunigen und entbürokratisieren können, muss die Zukunft zeigen (WHO 2010c). Die inhaltlichen Prioritätensetzungen zeigen die WHO und den Umwelt und Gesundheit-Prozess auf der Höhe der Zeit. Zu guter Letzt darf nicht vergessen werden, dass die WHO-Europa-Region die Interessen von 53 Staaten unter einen Hut bringen muss, mit ganz unterschiedlichen historischen Hintergründen, politischen Systemen und umwelt- und gesundheitspolitischen Herausforderungen. Mit Bedauern muss rückblickend zur Kenntnis genommen werden, dass es seit 1999 keine völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen mehr gegeben hat. So bleiben die Beschlüsse trotz der Selbstverpflichtung abhängig von tages-, partei- und ressortpolitischen Ereignissen und Stimmungen und nicht zuletzt von einzelnen engagierten Personen, von denen es zum Glück auf allen Ebenen immer wieder welche gibt.


Anmerkungen

1) Zur Sichtweise der WHO siehe "The Journey to Parma: a tale of 20 years of environment and health action in Europe",
http://www.euro.who.int/Document/E93535.pdf.

2) Einen Überblick über die unterschiedlichen Perspektiven von Ministerien, Behörden und NGOs gibt die Tagungsdokumentation "20 Jahre Umwelt und Gesundheit in Europa: eine Zwischenbilanz" des Netzwerks Kindergesundheit und Umwelt unter
http://www.netzwerk-kindergesundheit.de → Veranstaltungen → 2009

3) weitere Informationen siehe http://www.euro.who.int/ecehbonn?language=german.


Kontakt:
Erik Petersen
Ökologischer Ärztebund e.V.
Frielinger Str. 31
28215 Bremen
Tel.: 0421/ 4 98 42-51
Fax: 0421/ 4 98 42-52
E-Mail: oekologischer-aerztebund@t-online.de
www.oekologischer-aerztebund.de


Nachweise:

BASTIAN, T. (1998): Aktionsplan Umwelt und Gesundheit in Europa. Ein Diskussionsbeitrag zur "Europäischen Charta" und zum "Helsinki-Plan" der WHO sowie zu den Umsetzungsvorschlägen der Bundesregierung, Interdisziplinäre Gesellschaft für Umweltmedizin (IGUMED), Eigenverlag, Bad Säckingen. Kurzfassung: Aktionsplan Umwelt und Gesundheit: Pläne der Regierung und Anmerkungen kritischer Ärzte, Arzt und Umwelt 11(3): 183-191.

BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT, BUNDESMINISTERIUM FÜR UMWELT, NATURSCHUTZ UND REAKTORSICHERHEIT (Hrsg.) (2007): Eine lebenswerte Umwelt für unsere Kinder, Bericht Deutschlands zur Umsetzung des "Aktionsplans zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in der Europäischen Region" der WHO (CEHAPE), Umweltbundesamt, Berlin, http://www.apug.de/archiv/pdf/WHO-Bericht_deutsch_2MB.pdf [letzter Zugriff: 5.5.2010].

HARTMANN, T. (Hrsg.) (2010): Meilensteine, Europäische Konferenzen, 'Umwelt und Gesundheit', Projekt Kinderumweltgesundheit, Hochschule (FH) Magdeburg-Stendal, http://www.kinderumweltgesundheit.de/KUG/index2/meilensteine/meile.html [letzter Zugriff: 29.4.2010].

HAUSMANN, J. & PETERSEN, E. (2010): Projekte von Nichtregierungsorganisationen zur Minderung umweltbezogener Gesundheitsgefahren in Deutschland und Europa unter Berücksichtigung der sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen, umw-med-ges 23(2): 26-31

NETZWERK KINDERGESUNDHEIT UND UMWELT (Hrsg.) (1999/2001/2004/2010): Kind-Umwelt-Gesundheit: Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen, mit Kinderagenda für Gesundheit und Umwelt, 1. Aufl. 1999, 2. akt. Aufl. 2001, 3. akt. Auflage 2004, 4. akt. Auflage 2010, Eigenverlag, Bremen; www.kinder-agenda.de.

PETERSEN, E. (1998): Aktionsplan Umwelt und Gesundheit, Editorial, Arzt und Umwelt 11(3): 179.

PFAHL G. & E. GÖPEL (2004): Blockierte Verhältnisse: Umweltbewegung und Gesundheitsförderung, umw-med-ges 17(2): 129-136.

WHO (2004): Aktionsplan zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in der Europäischen Region (CEHAPE), WHO Regional Office for Europe, Scherfigsvej 8, DK-2100 Copenhagen, Denmark,
http://www.euro.who.int/docu-ment/e83338g.pdf [letzter Zugriff: 5.5.2010].

WHO (2009): Night Noise Guidelines For Europe, WHO Regional Office for Europe, Scherfigsvej 8, DK-2100 Copenhagen, Denmark,
http://www.euro.who.int/Document/E92845.pdf [letzter Zugriff: 6.5.2010].

WHO (2010a): Erklärung von Parma. WHO Regional Office for Europe, Scherfigsvej 8, DK-2100 Copenhagen, Denmark,
http://www.euro.who.int/document/ceh/parma_eh_conf_gdoc05-1rev2.pdf [letzter Zugriff: 5.5.2010].

WHO (2010b): Soziale und geschlechtsbezogene Ungleichheiten im Bereich Umwelt und Gesundheit, WHO Regional Office for Europe, Scherfigsvej 8, DK-2100 Copenhagen, Denmark, http://www.euro.who.int/document/ceh/parma_eh_ conf_pb1_ger.pdf [letzter Zugriff: 5.5.2010].

WHO (2010c): Der Prozess Umwelt und Gesundheit in Europa (2010-2016): Der institutionelle Rahmen, WHO Regional Office for Europe, Scherfigsvej 8, DK-2100 Copenhagen, Denmark, http://www.euro.who.int/document/ceh/parma_eh_conf_gdoc07.pdf [letzter Zugriff: 5.5.2010].

WHO (2010d): The Journey to Parma: a tale of 20 years of environment and health action in Europe, WHO Regional Office for Europe, Scherfigsvej 8, DK-2100 Copenhagen, Denmark, http://www.euro.who.int/Document/E93535.pdf [letzter Zugriff: 5.5.2010].


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Eröffnung der 1. Europäischen Konferenz Umwelt und Gesundheit am 7.12.1989 in Frankfurt/Main

Abb. 2: Titelseiten zur Veröffentlichung des Aktionsplan Umwelt und Gesundheit der NGOs

Abb. 3: Eröffnung der 5. Ministerkonferenz 2010 durch Zsuzsanna Jakab, seit 2009 WHO Regional Direktorin für Europa.


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Quelle:
umwelt · medizin · gesellschaft Nr. 2/2010, (Juni 2010)
23. Jahrgang, S. 91 - 96
Verlag: UMG Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2010