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ETHIK/927: Der steuerbare Mensch? (10) Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement (Dt. Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement

Von Wolfgang van den Daele


1. Die Neurowissenschaften konfrontieren uns nicht nur mit beunruhigenden neuen Techniken. Sie konfrontieren uns auch mit beunruhigenden neuen Wahrheiten. Die beunruhigende Wahrheit ist, dass der Geist, die Seele und die Person des Menschen stärker mit dem Gehirn verbunden sind, als es unser gängiges Menschenbild wahrhaben möchte. Was wir denken, fühlen oder wollen, wird nicht nur von mitlaufenden hirnphysiologischen oder neuronalen Prozessen begleitet, es kann auch durch diese Prozesse verursacht werden. Die Einsicht in diese Kausalität zwingt uns anzuerkennen, dass die mentale Verfassung von Menschen - Wahrnehmung, Bewusstsein, Kompetenzen, Einstellungen, Orientierungen - nicht nur durch kulturelle Techniken gestaltet werden kann, die über Verstehen und Reflexion wirken, sondern auch durch physische Techniken, die gewissermaßen am Ich des Menschen vorbei wirken, indem sie den Körper manipulieren. Es erscheint uns nicht ungewöhnlich, dass man das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen durch Erziehung und durch soziale Erwartungen und Normen, durch Argumente und Überredung, durch Drohung und Versprechen, durch Leitbilder und Weltdeutung beeinflussen kann. Wir müssen uns nun offenbar daran gewöhnen, dass dies auch durch Gehirnstimulation, durch Hirnimplantate oder die Modulation des Hirnstoffwechsels, vielleicht auch durch Eingriffe ins Genom möglich ist. Diese Optionen bilden die Grundlage für mögliches Neuro-Enhancement.

2. Neuen Wahrheiten kann man nicht ausweichen, sondern muss sie über kurz oder lang zur Kenntnis nehmen. Und wenn diese Wahrheiten technische Optionen eröffnen, wird man auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass es diese Optionen gibt. Andererseits fallen neue Wahrheiten nicht vom Himmel, sondern werden in der Gesellschaft durch Forschung hergestellt, gefunden oder konstruiert. Wenn sie sich als bedrohlich erweisen, scheint es naheliegend zu fragen, ob es sie überhaupt geben muss. Entsprechend wird in der ethischen Debatte zum Neuro-Enhancement gefordert, die Existenz der technischen Optionen zur Gehirnmanipulation, die uns die Neurobiologie beschert, nicht schicksalsgleich hinzunehmen und als Ausgangspunkt zu akzeptieren, sondern zum Problem zu machen und danach zu fragen, ob sie vielleicht besser gar nicht erst entstehen sollten.

Die Frage "Was wollen wir können?" signalisiert radikale ethische Reflexion. Tatsächlich weckt sie Illusionen. Es gibt keinen politischen Ort, von dem her man die Entstehung neuen Wissens so steuern könnte, dass der Entstehung unerwünschter technischer Möglichkeiten vorgebeugt wird. In der modernen Welt weht der Geist sprichwörtlich, wo und wie er will. Nicht nur ist Erkenntniszuwachs in der Wissenschaft ein weltgesellschaftlicher Prozess, der sich jeder nationalen Regulierung entzieht: Was irgendwo auf der Welt erkannt wird, steht als Wissen überall zur Verfügung. Es ist auch völlig unvorhersehbar, in welcher Disziplin Wissen, das zu unerwünschten technischen Möglichkeiten führt, entstehen wird. Wissensverbote laufen ins Leere. Man kann bestimmte Experimente am Gehirn lebender Menschen verbieten; aber das verhindert nicht, dass das angestrebte Wissen auf andere Weise, etwa durch Experimente an Tieren oder Zellkulturen, erworben wird. Selbst wenn man die Förderung der Hirnforschung komplett einstellen oder diese Forschung überhaupt verbieten würde, hätte man keinerlei Sicherheit, dass weitere Optionen zur Manipulation des menschlichen Gehirns nicht an anderer Stelle in der biologischen Grundlagenforschung entstehen oder sich aus der medizinischen Praxis ergeben könnten. Von der Vorstellung, wir könnten, wenn wir nur wollten, kollektiv festlegen, "was wir können wollen", muss man sich verabschieden. Es kann ein individuelles Recht auf Nichtwissen geben, das den Einzelnen davor schützt, mit ungewollten Erkenntnissen über sich selbst konfrontiert zu werden. Es kann aber kein kollektives Recht auf Nichtwissen geben, das Gesellschaften und Kulturen vor unerwünschten neuen technischen Möglichkeiten schützt.

3. Wir können dem Zuwachs an Wissen über das menschliche Gehirn und den sich daraus ergebenden Optionen, technisch in das Gehirn einzugreifen, nicht ausweichen. Aber wir können der Nutzung solcher Optionen ausweichen, indem wir die Anwendung der Techniken verbieten oder uns auch ohne Verbote entschließen, keinen Gebrauch davon zu machen.

Verbote gibt es bereits, oder sie sind mit Sicherheit zu erwarten. Es ist unstrittig, dass technische Manipulationen am Gehirn, die ohne oder gegen den Willen der Betroffenen erfolgen, ethisch unzulässig sind und mit den Mitteln des Rechts wirksam unterbunden werden müssen. Allerdings kann die Regulierung nicht darauf hinauslaufen, das eigene Gehirn für andere schlechterdings undurchdringlich zu machen. Was wir denken und fühlen, kann immer von Dritten an unseren Gesten, Worten und Reaktionen abgelesen werden, auch wenn wir es vielleicht nicht wollen; ebenso kann unser Denken und Fühlen durch Information, Erziehung oder auch Werbung beeinflusst werden. Das nehmen wir hin, weil es ein unvermeidlicher Preis unserer sozialen Existenz ist und der Zugang zum Gehirn anderer über Prozesse der Wahrnehmung und des Verstehens vermittelt bleibt. Nicht hinnehmbar ist es dagegen, wenn auf der Ebene physiologischer oder neuronaler Gehirnvorgänge erhoben oder gesteuert wird, was jemand denkt und fühlt oder will. Dass man niemandem ohne seine Einwilligung einen Chip ins Gehirn pflanzen oder ihn mit Psychopharmaka behandeln darf, um sein Verhalten zu optimieren, versteht sich von selbst. Man darf auch niemanden gegen seinen Willen einer Krebsoperation oder einer Organtransplantation unterziehen, um sein Leben zu retten. Ebenso wenig darf man Personen Testverfahren aussetzen, mit denen ihr Gehirn aus der Distanz "ausgeforscht" werden kann. Schon nach geltendem Recht würde dies eine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstellen. Sollten solche Testverfahren tatsächlich jemals zur Verfügung stehen, würde ihre unbefugte Anwendung sicher ebenso verboten werden, wie heute genetische Analysen ohne Zustimmung der Betroffenen oder die Platzierung von Wanzen in fremden Wohnungen, um das Privatleben auszukundschaften. Am Recht des Einzelnen auf "neuronale" Selbstbestimmung dürfte auch der staatliche Zugriff auf das Gehirn scheitern. Selbst für an sich legitime öffentliche Interessen wie den Schutz vor Kriminalität sollte man niemanden einer Gehirnwäsche unterziehen, einem Lügendetektor aussetzen oder durch Drogen willenlos machen dürfen. Über diese Missbrauchsszenarien gibt es so gut wie keinen Streit. Ihre Bewertung ist eindeutig und insofern unproblematisch. Problematisch bleiben hier die Grauzonen, in denen die Neurotechniken zwar nicht ohne Zustimmung eingesetzt werden, aber gleichwohl irgendwie "widerwillig", weil die Betroffenen sich durch soziale Erwartungen und Anreize gedrängt fühlen, dem Einsatz zuzustimmen. Dieses Problem ist nicht spezifisch für die Neurotechniken. Ähnliches ist beispielsweise auch gegen bestimmte Optionen der Präventivmedizin, gegen die Pränataldiagnostik oder die passive Sterbehilfe (Beendigung lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen) eingewandt worden. Das Problem ist ernst zu nehmen. Es kann aber nicht dazu führen, die Anwendung der Technik wegen fehlender Zustimmung auszuschließen. Die Legitimationskraft der Selbstbestimmung entfällt nicht deshalb, weil die Betroffenen sich in einer Konfliktlage oder unter sonstigen schwierigen sozialen Umständen entscheiden müssen. Die richtige Reaktion auf das Problem besteht darin, durch Aufklärung oder Beratung die Autonomie der Betroffenen zu stärken, nicht darin, ihnen durch Verbot der Technik die Wahlfreiheit abzuschneiden, weil man ihnen eine genuine eigene Entscheidung doch nicht zutraut.

4. Die zentralen ethischen Probleme des Neuro-Enhancements liegen jenseits der klaren Missbrauchsszenarien, deren Regelung absehbar ist. Sollten wir nicht grundsätzlich auf die Optionen des Neuro-Enhancements verzichten? Und gibt es gute Gründe, einen solchen Verzicht ungeachtet einer möglichen Zustimmung der Betroffenen gesellschaftsweit verbindlich zu machen?

Dass moderne Gesellschaften den Optionen des Neuro-Enhancements faktisch ausweichen werden, weil die Menschen sich entschließen, sie einfach nicht zu nutzen, ist im Detail denkbar, aber insgesamt unwahrscheinlich. Zwar ist das Unbehagen gegenüber Manipulationen am Gehirn weit verbreitet. In einer Eurobarometer-Umfrage von 2005 lehnen 54 Prozent der Befragten Gehirnimplantate zur Steigerung der Gedächtnisleistung strikt ab, nur 6 Prozent befürworten sie uneingeschränkt. Aber man lasse sich nicht täuschen! Bei einem medizinisch indizierten Einsatz von Neurotechniken zur Korrektur von krankheitsbedingten kognitiven oder emotionalen Leistungsverlusten und Verhaltensstörungen wird sich der Widerstand verflüchtigen. Dasselbe dürfte gelten, wenn altersbedingte Funktionseinschränkungen kompensiert werden sollen. In diesen Bereichen aber werden die neuen Techniken erprobt, eingeübt und als legitime Option in der Gesellschaft etabliert. Bei der Anwendung der Techniken auf Gesunde scheiden sich die Geister. Eine stabile Mehrheit mag dagegen sein. Fraglich ist jedoch, ob sie gute Gründe hat, diejenigen, die dafür sind, davon abzuhalten, für sich selbst von den Techniken Gebrauch zu machen. Die drei am häufigsten gegen das Neuro-Enhancement vorgebrachten Argumente sind: Es verletze den moralischen Respekt vor der menschlichen Natur; es zerstöre die Authentizität der Person; und es führe zu sozialer Ungerechtigkeit, indem es dem Nutzer unfaire Vorteile im gesellschaftlichen Wettbewerb verschaffe. Mit allen drei Argumenten gerät man in erhebliche Begründungsnöte.

5. Es ist leicht, moralischen Widerstand gegen technische Eingriffe in die menschliche Natur zu provozieren, die uns intuitiv als monströs oder abartig erscheinen. Solche Intuition wird man jenen Genetikern entgegenhalten können, die auf dem berüchtigten CIBA-Symposium in den 1960ern fantasierten, Menschen herzustellen, die mit Chlorophyllzellen auf dem Rücken Sonnenlicht in Körperenergie umwandeln können. Dasselbe Verdikt dürfte die sogenannten Transhumanisten treffen, wenn sie davon träumen, das menschliche Gehirn mit ungeheuren Rechenkapazitäten oder mit der Fähigkeit, Infrarotlicht wahrzunehmen, auszustatten. Jenseits solcher Science-Fiction aber erweisen sich moralische Intuitionen, die Respekt vor der Integrität der menschlichen Natur einfordern, als unsicher und instabil. Vor allem medizinische Zwecke haben Grenzüberschreitungen, die prima facie als Tabubruch erschienen, am Ende immer gerechtfertigt; man denke an die Organtransplantation oder die In-vitro-Fertilisation. Implantate von Elektroden oder Computerchips im Gehirn sind gewiss außerordentlich "unnatürlich". Sie sind gleichwohl zweifellos legitim, um Leiden der Betroffenen zu lindern oder abzuwehren. Neuro-Enhancement kann jedenfalls nicht deshalb moralisch geächtet werden, weil die Techniken, die ihm zugrunde liegen, die menschliche Natur verändern.

6. Das Argument des Authentizitätsverlusts macht geltend, dass Menschen ihr wahres Selbst verfehlen und gewissermaßen ihrer Identität untreu werden, wenn sie ihr Gehirn manipulieren und Neuroprothesen nutzen, um ihre intellektuellen Leistungen, ihren Gefühlshaushalt oder ihre sozialen Beziehungen zu steigern bzw. zu steuern. Die Person, die sie auf diese Weise würden und darstellten, seien sie eigentlich gar nicht selbst; sie lebten nicht das eigene Leben, sondern ein von Psychopharmaka und Gehirnchips geliehenes. Nun kann man sich Fälle denken, die ein solches Urteil rechtfertigen - etwa, wenn jemand sich der Trauer über den Tod eines geliebten Menschen entzieht, indem er Prozac® einnimmt, oder eine Liebesbeziehung, an der er zu zweifeln beginnt, durch vertrauensbildende Pharmaka stabilisiert.[1] Eine moralische Grenze ist zweifellos auch überschritten, wenn sich jemand durch Manipulationen am eigenen Gehirn selbst als Person auslöscht, also etwa sein Gedächtnis zerstört oder sich zu einem willenlosen Körper macht. Jenseits solcher Extreme aber gibt es keine Grundlage, auf der man über die Authentizität der Person und des Lebens anderer Menschen als Beobachter von außen urteilen kann.

Authentizität ist keineswegs belanglos. Im Gegenteil: Selbstfindung und Selbstverwirklichung sind geradezu Daueraufgaben des modernen Menschen geworden, weil kollektive Leitbilder und religiöse oder moralische Normen, die ein festgefügtes Ethos der Lebensführung vorgeben und Sinnfragen gar nicht erst aufkommen lassen, ihre normative Kraft weitgehend eingebüßt haben. Man weiß, dass sie historischem Wandel unterliegen, und sieht in ihnen keine Verpflichtungen, sondern eher Angebote, die man annehmen oder ausschlagen kann. Zwar führen die meisten Menschen ein konventionelles Leben, in dem sie vorherrschenden sozialen Erwartungen entsprechen und in Berufsarbeit und Familie maßgebliche Sinnanker finden. Aber es wird allgemein zugestanden, dass man auch anders leben kann. Letztlich muss also jeder für sich selbst entdecken und festlegen, was er in Wahrheit ist oder sein will und ob er sich zu dem, wie er ist, bekennen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint jedes Urteil darüber, ob jemand, der sich durch Neuro-Enhancement mit veränderten Eigenschaften und Fähigkeiten ausstattet, noch authentisch sein oder leben kann, als Anmaßung. Das heißt nicht, dass Fragen der Authentizität und des "guten Lebens" nicht Thema einer allgemeinen, öffentlichen Debatte werden können. Aber es heißt, dass es hier nichts allgemeinverbindlich zu regulieren gibt.

7. Selbstbestimmung ist ein zentraler Wert in der moralischen und rechtlichen Ordnung liberaler Gesellschaften; sie ist Kern der in Artikel 1 unserer Verfassung absolut geschützten Menschenwürde. Anerkennung von Selbstbestimmung bedeutet, dass dem Einzelnen Techniken des Neuro-Enhancements nicht gegen den eigenen Willen aufgedrängt werden dürfen. Sie bedeutet aber auch, dass ihm der Zugang zu diesen Techniken nicht ohne guten Grund verwehrt werden darf, wenn er nach eigener Entscheidung von ihnen Gebrauch machen will. Es kann allerdings gute Gründe für Zugangsbeschränkungen geben. Selbstbestimmung ist keine Blankovollmacht, die eigenen Interessen und Ziele ohne Rücksicht auf die Kosten durchzusetzen. Es gibt eine moralische und rechtliche Verantwortung für die Folgen selbstbestimmten Handelns. Dieses darf weder die gleichen Rechte anderer verletzen noch Schäden an wichtigen Gütern der Gemeinschaft anrichten. Unter dem Gesichtspunkt der Folgenverantwortung kann (und muss möglicherweise) dem Einzelnen die Nutzung von Optionen des Neuro-Enhancements verwehrt werden. Das setzt voraus, dass die Folgen wahrscheinlich sind, dass sie einen relevanten Schaden darstellen, und dass die Einschränkung der Selbstbestimmung geeignet und notwendig ist, den Schaden abzuwenden. Es ist zweifelhaft, ob diese Voraussetzungen bei den in der ethischen Debatte gegen das Neuro-Enhancement ins Spiel gebrachten Folgeszenarien erfüllt sind.

8. Es wird beispielsweise befürchtet, dass die Verbreitung von Neuro-Enhancement das Spektrum des Verhaltens, das individuell und gesellschaftlich als "Leistung" geschätzt und zugerechnet wird, nachhaltig verschieben werde. Das ist mit Sicherheit zu erwarten. Man kann niemandem die Lösung eines Sachproblems oder die Kontrolle sozialwidriger Handlungsimpulse als eigene "Leistung" zurechnen, wenn er sie der pharmakologischen oder elektronischen Aufrüstung seines Gehirns verdankt und nicht seiner kognitiven oder moralischen Anstrengung. Aber ist diese Verschiebung ein relevanter Schaden? Oder ist es nicht vielleicht ein Nutzen, weil auf diese Weise knappe Leistungen, die ungewiss sind und erheblichen Aufwand voraussetzen, mit großer Verlässlichkeit billig zur Verfügung gestellt werden können? Wenn man sich - was Science-Fiction ist - Fremdsprachenkompetenz dadurch "einverleiben" könnte, dass man sein Gehirn mit einem Übersetzungschip kurzschließt, wäre solche Kompetenz schlagartig banal und keine Leistung mehr; sie wäre aber nach wie vor sehr nützlich. Dass etwas nicht mehr als Leistung zählt, weil es sich gewissermaßen von selbst ergibt oder buchstäblich zum Kinderspiel wird, kann als Verlust erlebt werden. Aber Verlusterfahrungen dieser Art sind in modernen Gesellschaften, die durch ein schnelles Innovationstempo charakterisiert sind, ohnehin vorprogrammiert. So sind viele traditionelle Leistungen des technischen Zeichnens durch die Einführung von computer-aided design (CAD) keine Leistungen mehr und eignen sich nicht mehr für eine berufliche Tätigkeit und Identifikation. Damit müssen die Betroffenen umgehen lernen. Es gibt keine moralische Pflicht, das, was gerade in der Gesellschaft als Leistung geschätzt und individuell zugerechnet wird, im eigenen Handeln zu respektieren. Und es gibt kein Mandat der Politik, den Status quo solcher Wertschätzung rechtlich festzuschreiben. Mit dem Argument, dass andernfalls entwertet wird, was heute noch als Leistung zählt, wird man die Nutzung von Neuro-Enhancement kaum gesellschaftsweit unterbinden können.

9. Der am häufigsten gegen Neuro-Enhancement erhobene Einwand ist der Verstoß gegen die soziale Gerechtigkeit. Man verschaffe sich eine günstigere Ausgangsposition im schulischen oder beruflichen Wettbewerb gegenüber denjenigen, die sich Neuro-Enhancement entweder finanziell nicht leisten können oder es ablehnen, weil sie es als unvereinbar mit ihren Vorstellungen von authentischer Lebensführung empfinden. Gehirndoping sei ebenso unfair wie Doping im Leistungssport. Das Argument erscheint prima facie plausibel. Zweifellos wäre es ungerecht und stellte eine Verletzung der Chancengleichheit dar, wenn in einer Mathematikprüfung die Nutzung eines Taschenrechners erlaubt würde, aber nicht alle Schüler den gleichen Zugang zu diesem Hilfsmittel hätten. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich jedoch unsere moralischen Urteile darüber, was in Bezug auf Chancengleichheit fair und sozial gerecht ist, als unsicher und inkonsistent. So erregt es im Allgemeinen keinen Anstoß, wenn sich jemand einen Wettbewerbsvorteil durch besonders qualifizierte Vorbereitung verschafft, also gewissermaßen durch Aufenthalt in einem Trainingslager. Der Vorteil bleibt in diesem Fall an den Nachweis einer eigenen Leistung gebunden, aber das macht ihn nicht in jeder Hinsicht gerecht. Der Zugang zum "Trainingslager" ist ein Privileg, keine eigene Leistung. Liberale Gesellschaften sind voll von Ungleichheit, die Ungleichheit gebiert. Politische Korrekturen mit dem Ziel, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen, sind denkbar und können moralisch geboten sein. Im Allgemeinen aber zielen sie darauf ab, Chancengleichheit dadurch herzustellen, dass sie Benachteiligte mit besseren Ressourcen ausstatten, nicht aber darauf, deren relative Position zu verbessern, indem sie Bessergestellte mit einem Handicap belegen und deren Chancen verschlechtern. Auf Letzteres läuft es jedoch hinaus, wenn Neuro-Enhancement verboten werden soll, um zu verhindern, dass die Schere der Ungleichheit im gesellschaftlichen Leistungswettbewerb weiter auseinandergeht. Die Forderung nach einem solchen Verbot ist kaum konsistent, wenn andererseits hingenommen wird, dass jemand im Wettbewerb davonzieht, weil die Eltern ihn auf eine gute Privatschule oder ein Elite-College geschickt haben. Dass die Forderung gleichwohl auf Resonanz stößt, dürfte vor allem auf das Unbehagen an der Technizität und Künstlichkeit des Neuro-Enhancements zurückzuführen sein. Dieser Grund aber liegt jenseits von Erwägungen der sozialen Gerechtigkeit.

Die Kritik, dass die Nutzung von Neuro-Enhancement soziale Ungerechtigkeit erzeugen werde, muss sich der Tatsache stellen, dass der Status quo der Gesellschaft keineswegs durch Chancengleichheit gekennzeichnet ist. Sozialer Status wird "vererbt". Das Bildungswesen reproduziert bestehende Ungleichheitsstrukturen. Das mag ausweislich der Pisa-Studien für das deutsche Schulsystem in besonderer Weise gelten. Es gilt aber auch, wenn in den formalen Bildungsgängen Gleichheit hergestellt ist. Dann schlagen die Vorteile durch, die man aus dem durch das Elternhaus repräsentierten kulturellen und sozialen "Kapital" zieht. Würde man im Ernst die Folgen für die Entwicklung von gesellschaftlicher Ungleichheit zum Bewertungskriterium machen, müsste man Neuro-Enhancement nicht verbieten, sondern selektiv erlauben; und zwar für Menschen aus bildungsfernen Schichten, die nicht schon durch ihre Erziehung Leistungsorientierung und Leistungswillen verinnerlicht haben. Sie könnten davon profitieren, dass sie sich durch Manipulation ihrer Gehirne mit Kapazitäten und Kompetenzen ausstatten, die ihnen ansonsten dauerhaft verschlossen bleiben würden. Das ist natürlich kein seriöser Vorschlag. Er macht aber deutlich, dass Kriterien der sozialen Gerechtigkeit keineswegs zu einem eindeutigen moralischen Verdikt des Neuro-Enhancements führen.

10. Die ethische Debatte über die Perspektiven des Neuro-Enhancements ist notwendig. Aber sie ist abgesehen von den klar zu definierenden Missbrauchskonstellationen keine Debatte darüber, was man moralisch und rechtlich verbieten oder erlauben sollte. Sie ist eine Debatte darüber, was die Menschen sein wollen und in welcher Gesellschaft sie leben wollen. Die Vorstellungen darüber gehen in der Bevölkerung auseinander. Menschenbilder und Ideale der Lebensführung kann man unter einer liberalen Verfassung nicht mit rechtlichem Zwang durchsetzen. Man muss sich auf das einlassen, was sich in der Gesellschaft als kollektives Resultat individueller Wahl und Entscheidung einstellt. Dabei kann man die Menschen durch öffentliche Diskussion und Aufklärung beeinflussen. Und man kann das gesellschaftliche Umfeld gestalten, in das die technischen Möglichkeiten des Neuro-Enhancements fallen. Wenn man dem sich in modernen Gesellschaften ausbreitenden Leistungs- und Optimierungswahn entgegentreten will, muss man die Ausbildungs- und Berufsstrukturen ändern. Das ist sicher nicht einfach. Aber man darf nicht glauben, hier schon etwas erreicht zu haben, wenn man stattdessen Neuro-Enhancement verbietet.

Im Ergebnis gibt es keine hinreichenden Gründe, um zu verhindern, dass Menschen von den technischen Möglichkeiten des Neuro-Enhancements nach eigener Entscheidung und auf eigene Rechnung, also gewissermaßen in Konsumentenhaltung, Gebrauch machen können. Man muss am Ende darauf bauen, dass sie selbst dabei ein Maß und eine Mitte finden.


Wolfgang van den Daele, geb. 1939, Prof. (em.) Dr. jur., Soziologe, ehemaliger Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und ehemaliger Direktor der Abteilung "Zivilgesellschaft und transnationale Netzwerke" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.


Anmerkung

[1] In meiner Studienzeit wurden verhaltenstherapeutische Strategien diskutiert, die untreue Ehemänner auf den Pfad der Tugend zurückführen sollten, indem sie ihnen Bilder ihrer Geliebten vorführen und dazu Elektroschocks verabreichen.


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INHALT

Vorwort von Christiane Woopen
Barbara Wild - Hirnforschung gestern und heute
John-Dylan Haynes - Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens
Tade Matthias Spranger - Das gläserne Gehirn? Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren
Isabella Heuser - Psychopharmaka zur Leistungsverbesserung
Thomas E. Schläpfer - Schnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation
Henning Rosenau - Steuerung des zentralen Steuerungsorgans - Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn
Ludger Honnefelder - Die ethische Dimension moderner Hirnforschung
Dietmar Mieth - Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte
Wolfgang van den Daele - Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn
© 2009 - Seite 107 - 114
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2011