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FORSCHUNG/2313: Was die Matrix uns über die Funktion Neuraler Stammzellen erzählt (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Sonderheft 10/2010 - Junge Forschung
Ruhr-Universität Bochum

Was die Matrix uns über die Funktion Neuraler Stammzellen erzählt
Matrix reloaded again

Von Michael Karus


"Die Matrix ist allgegenwärtig!" Dieser Kultsatz, ausgesprochen 1998 im Kinofilm "Die Matrix", bezog sich auf eine fiktive Scheinwelt, die den Menschen ein normales Leben vorgaukelte, obwohl sie in der realen Welt nur biologische Energielieferanten wildgewordener Roboter waren. Im Gegensatz dazu ist die Matrix, die uns am Lehrstuhl für Zellmorphologie und Molekulare Neurobiologie unter Leitung von Prof. Dr. Andreas Faissner beschäftigt, eine vollkommen andere. Sie stellt eine Art Mikroumgebung für viele Körperzellen dar und ist Gegenstand aktueller zellbiologischer und entwicklungsbiologischer Fragestellungen unseres Labors.


Genau so, wie einzelne Steine einer Mauer durch Mörtel und Zement zusammengehalten werden, werden auch einzelne Zellen eines Organismus durch verschiedene Substanzen (s. Info 1) miteinander verbunden. Diese Substanzen bilden zusammen die Extrazellulär-Matrix (EZM). Sie stellt im Gegensatz zum Mörtel in einer Mauer nicht nur ein strukturelles Grundgerüst dar, sondern hat auch entscheidenden Einfluss auf verschiedene zellbiologische Prozesse, wie z.B. Zellteilung, Zellwanderung, programmierten Zelltod.

An unserem Lehrstuhl untersuchen wir vor allem funktionelle Aspekte der EZM im Zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark, ZNS) während seiner Entwicklung. Dies ist deswegen besonders interessant, weil man viele zellbiologische Prozesse, die während der Entwicklung stattfinden, auch nach Verletzungen wie Traumata oder Schlaganfall oder bei Erkrankungen des ZNS beobachten kann. Das heißt, dass Erkenntnisse aus der Entwicklungsbiologie neue Ansatzpunkte für therapeutische Maßnahmen liefern können.

Ein besonderes Augenmerk bei unserer Forschung gilt dem extrazellulären Matrix-Glycoprotein Tenascin C (Tnc). Es steht im Mittelpunkt einer aktuellen Studie, in der wir untersuchen, welche Rolle Tnc für die Bildung und Reifung von Astrozyten spielt. Astrozyten sind Zellen im ZNS, die sich aus Neuralen Stammzellen entwickeln und vielfältige Funktionen ausüben. Sie bilden zum Beispiel zusammen mit Endothelzellen die Bluthirnschranke und sind wichtig für die Regulation des Salzhaushalts und der Botenstoffe. Darüber hinaus haben neuere Studien gezeigt, dass Astrozyten auch aktiv an der elektrischen Informationsübertragung im ZNS beteiligt sind. Außerdem beginnen einige von ihnen, so genannte "reaktive Astrozyten", nach Verletzungen des ZNS in der direkten Umgebung der verletzten Region große Mengen von EZM-Substanzen zu bilden. Diese scheinen eine Regeneration des Gewebes einerseits zu verhindern, das umliegende, gesunde Gewebe jedoch andererseits vor weiterer Beschädigung zu schützen. Zu den gebildeten Substanzen zählt auch Tnc. Unsere Arbeit soll daher nicht nur Erkenntnisse über die Bedeutung von Tnc während der Entwicklung des Rückenmarks, sondern auch Aufschlüsse über die Biologie reaktiver Astrozyten liefern.

Für unsere Untersuchungen wenden wir vor allem moderne zellbiologische (s. Abb. 4 und 5) und mikroskopische (Fluoreszenz-Mikroskopie, Video-Mikroskopie, s. Abb. 3 und 6) Methoden an. Darüber hinaus spielen aber auch molekularbiologische und biochemische Verfahren eine große Rolle, um zum Beispiel den Aktivitätsstatus bestimmter Proteine zu untersuchen.

Zu Beginn unserer Studie haben wir zunächst systematisch das Expressionsmuster von Tnc im embryonalen Rückenmark untersucht. Das heißt: Wann gibt es Tnc überhaupt im sich entwickelnden Rückenmark? Dabei stellte sich heraus, dass Tnc erst mit dem Beginn der Astrozyten-Bildung (Embryonaltag 13 - nach etwa 18 Tagen wird eine Maus in der Regel geboren, s. Abb. 2) im Rückenmark vorhanden ist und dort von Neuralen Stammzellen gebildet wird. Auf die Bildung von Nervenzellen scheint es daher keinen Einfluss zu haben, da diese bereits zu einem früheren Zeitpunkt gebildet werden. Ganz anders sieht es im Vorderhirn aus: Dort bilden zwar ebenfalls Neurale Stammzellen Tnc, allerdings zu einem Zeitpunkt, an dem die Bildung der Nervenzellen noch nicht abgeschlossen ist.

Parallel zu dieser Expressionsstudie haben wir die Wachstumsfaktor-Responsivität (s. Info 2) im Rückenmark zu unterschiedlichen Zeitpunkten zellbiologisch untersucht und diese mit dem Expressionsmuster von Tnc verglichen. Erwartungsgemäß konnte zu Zeitpunkten der Nervenzellbildung lediglich eine Responsivität gegenüber dem "Fibroblasten-Wachstumsfaktor" dokumentiert werden. Eine Responsivität gegenüber dem "Epidermalen Wachstumsfaktor" wurde erst zu Beginn der Astrozyten-Bildung, also mit dem Auftreten von Tnc, beobachtet. Diese Korrelation weist auf eine Beteiligung von Tnc für die Astrozyten-Bildung hin und war Ausgangpunkt weiterer Untersuchungen, die wir mit Hilfe einer genetisch veränderten Mauslinie durchgeführt haben.

Da der Mauslinie das Gen für Tnc fehlt, sie also kein Tnc bilden kann, können wir durch Vergleiche mit "normalen" Geschwistertieren Aussagen über die Funktion von Tnc treffen. Im Rahmen dieser Studie haben wir bereits Untersuchungen zu verschiedenen zellbiologischen Parametern an Neuralen Stammzellen und auch an Astrozyten, die wir von genetisch veränderten und "normalen" Tieren isolieren konnten, durchgefüht. Zu diesen Parametern zählten zum Beispiel Zellteilung, Zellschicksal und Zellwanderung.

Auch wenn unsere Untersuchungen noch nicht ganz abgeschlossen sind, konnten wir Tnc bereits einige wichtige Funktionen während der Rückenmarksentwicklung zuschreiben. Bislang weisen alle Ergebnisse darauf hin, dass Tnc generell die Zellteilung Neuraler Stammzellen im Rückenmark unterdrückt und parallel dazu ihre Reifung zu Astrozyten fördert. Zudem scheint Tnc auch Einfluss auf das Wanderungsverhalten von Astrozyten zu nehmen. Im Rahmen weiterer Experimente, die teilweise auch in Kooperation mit anderen Laboren stattfinden, arbeiten wir zurzeit daran, mögliche molekulare Mechanismen aufzuklären.

Für zukünftige Arbeiten wäre es zusätzlich von großem Interesse, Verletzungsstudien an genetisch veränderten Tieren, die kein Tnc bilden können, durchzuführen. Gegebenenfalls führt das Fehlen von Tnc zu einem veränderten Regenerationsverhalten des beschädigten Gewebes. Der von uns dokumentierte Einfluss auf Zellteilung und Zellwanderung ist in diesem Zusammenhang besonders nennenswert, da beide Prozesse auch bei reaktiven Astrozyten beobachtet werden können.


info 1
Die neurale Extrazellulär-Matrix

Die neurale Extrazellulär-Matrix stellt ein buntes Gemisch aus Proteinen und langen Zuckerketten dar. Innerhalb dieses Gemisches unterscheidet man die Glycoproteine von den Proteoglycanen. Glycoproteine sind in der Regel große Proteine, die an bestimmten Stellen verschiedene Zuckerketten tragen. Häufig lagern sich Glycoproteine zu größeren Komplexen zusammen. Zu den Glycoproteinen gehört auch Tenascin C. Im Gegensatz zu den Glycoproteinen weisen die Proteoglycane einen viel größeren Zuckeranteil auf. Auch sie bestehen aus einem Kernprotein und vielen, sehr langen Zuckerketten. Zusätzlich zu den Glycoproteinen und Proteoglycanen bildet die Hyaluronsäure bekannt aus der Fernsehwerbung ein enges Zuckergrundgerüst und ist auf Grund ihrer Fähigkeit zur Wasserbindung maßgeblich für den Gel-artigen Zustand der Matrix verantworlich. Um mit den Bestandteilen der EZM in Verbindung zu treten, tragen sämtliche Zellen verschiedene Rezeptoren für EZM-Bestandteile. Durch das Wechselspiel mit zellulären Rezeptoren ist die Extrazellulär-Matrix in der Lage, auch intrazelluläre Prozesse zu beeinflussen. Insbesondere für die Stammzellbiologie ist das sehr interessant, da viele Stammzellen in einer matrixreichen Umgebung eingebettet sind.


info 2
Neurale Stammzellen und Wachstumsfaktor-Responsivität

Neurale Stammzellen bilden im Laufe der Entwicklung durch Zellteilung zunächst Nervenzellen (Neurogenese) und später Oligodendrozyten und Astrozyten (Gliogenese). Die Funktion Neuraler Stammzellen wird während der Entwicklung des ZNS durch verschiedene Signalproteine, so genannte Wachstumsfaktoren, reguliert. Der Wechsel von Neurogenese zu Gliogenese geht mit einer veränderten Bildung von Wachstumsfaktorrezeptoren einher. Sie sind Bestandteil der Zellmembran Neuraler Stammzellen und leiten das Wachstumssignal in die Zelle weiter. Die Fähigkeit, auf einzelne Wachstumsfaktoren zu reagieren, wird Wachstumsfaktor-Responsivität genannt.

Während der Neurogenese tragen Neurale Stammzellen lediglich Rezeptoren für den "Fibroblasten-Wachstumsfaktor". Zu Beginn der Gliogenese beginnen manche Neurale Stammzellen, den Rezeptor für den "epidermalen Wachstumsfaktor" zu bilden. Um die Wachstumsfaktor-Responsivität zu untersuchen, werden typischerweise Neurale Stammzellen aus einem Gewebe isoliert und in der Anwesenheit des einen oder anderen Wachstumsfaktors kultiviert. Nach etwa einer Woche bilden sich dann freischwimmende Neurosphären. Diese stellen Zellhaufen dar, die durch Zellteilung einzelner Neuraler Stammzellen entstehen. Die Anzahl und Größe der Neurosphären erlaubt Rückschlüsse über die Wachstumsfaktor-Responsivität des Ausgangsgewebes.


Den gesamten Artikel inkl. allen Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

Abb. 1: Die Matrix, ähnlich wie der Film sie zeigt - in der Biologie sieht sie anders aus, ist aber nicht minder wichtig.

Abb. 2 oben: Während der zweiten Hälfte der Embryonalentwicklung der Maus (Tag 9,5 bis 18,5) nimmt die generelle Teilungsaktivität Neuraler Stammzellen im sich entwickelnden Rückenmark kontinuierlich ab. Die Bildung der Nervenzellen findet zwischen E9.5 und E13.5 statt. Mit fortschreitender Entwicklung, auch noch nach der Geburt, werden dann die Gliazellen gebildet.
Abb. 2 unten: Mit Hilfe eines histologischen Nachweisverfahrens wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Embryonalentwicklung Astrozyten im Rückenmark markiert (schwarze/dunkelgraue Punkte). Während bei E13.5 junge Astrozyten lediglich entlang der zentralen Mittellinie des Rückenmarks zu finden sind, sind diese bei E18.5 bereits gleichmäßig im Rückenmark verteilt. Das kommt dadurch zu Stande, dass die Astrozyten zunächst nahe der Mittellinie "geboren" werden und dann im weiteren Verlauf der Entwicklung zu ihrem Bestimmungsort wandern.

Abb. 3: Mit Hilfe moderner fluoreszenzmikroskopischer Verfahren können Zellkulturen oder Gewebeschnitte analysiert werden. Hier mikroskopiert Michael Karus einen Gewebeschnitt des embryonalen Rückenmarks. Über eine Kamera kann der Bildausschnitt digital auf einen Computerbildschirm übertragen werden.

Abb. 4: Michael Karus und seine Kollegin Naila Qamar legen eine Kultur Neuraler Stammzellen an. Da dabei sehr sauber gearbeitet werden muss, tragen beide Kittel und Handschuhe und arbeiten an einer Sterilbank.

Abb. 5 oben: Neurale Stammzellen in Kultur; unten: Nach Entzug der Wachstumsfaktoren generieren Neurale Stammzellen verschiedene Zelltypen, wie zum Beispiel Oligodendrocyten (links) oder Nervenzellen (rechts).

Abb. 6: Fluoreszenzmikroskopische Aufnahmen von normalen und genetisch veränderten Zellen, die kein Tnc produzieren können (blau = Zellkern, rot = Marker für neurale Stammzellen, grün = Tenascin).


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Sonderheft 10/2010 - Junge Forschung, S. 65 - 69
Herausgeber: Ruhr-University Research School (RURS)
in Verbindung mit der Pressesstelle der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2010