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FORSCHUNG/3477: "Daedalus-Dilemma" des Immunsystems bei Infektionen (idw)


Universität Wien - 10.03.2016

"Daedalus-Dilemma" des Immunsystems


Unser Immunsystem muss ständig Bakterien und Viren abwehren und dabei eine kritische Gratwanderung zwischen Über- und Unterreaktion schaffen, ähnlich wie Daedalus und Ikarus in der griechischen Mythologie, die weder zu hoch noch zu tief fliegen dürfen, um ihrem Gefängnis zu entfliehen. ImmunbiologInnen um Pavel Kovarik erforschen, was beim Balanceakt des Immunsystems auf molekularer Ebene passiert. Die WissenschaftlerInnen zeigen, dass bei der Abwehr von Gruppe A-Streptokokken ein perfekt abgestimmtes Wechselspiel von zwei Immunstoffen eine Schlüsselrolle spielt. Die Ergebnisse bieten neue Ansätze zur Behandlung schwerer Streptokokkeninfektionen.

Was griechische Mythologie und Immunsystem gemeinsam haben

Man kann das Dilemma unseres Immunsystems mit der Geschichte von Ikarus und Daedalus aus der griechischen Mythologie vergleichen. Um ihrer Gefangenschaft zu entfliehen, baute Daedalus für sich und seinen Sohn Flügel aus Federn und Wachs. Vor dem Abflug ermahnte er seinen Sohn, dass er weder zu hoch noch zu tief fliegen dürfe, sonst würden die Hitze der Sonne bzw. die Feuchte des Meeres die Flügel zerstören und zum Absturz führen. Nach ihrer erfolgreichen Flucht wurde Ikarus jedoch übermütig und flog höher und höher, bis die Sonne das Wachs seiner Flügel zum Schmelzen brachte und er ins Meer stürzte. Ähnlich kann eine Über- oder Unterreaktion unseres Immunsystems für den Menschen lebensgefährlich werden.

Das Molekül IL-1β spielt eine Schlüsselrolle bei der balancierten Abwehr von Bakterien

Welche molekularen Schalter die Immunantwort ausbalancieren, erforschen Pavel Kovarik und sein Team an den Max F. Perutz Laboratories der Universität Wien. "Für unsere Untersuchungen haben wir Infektionen mit Gruppe A-Streptokokken nachgestellt, die als die häufigsten Erreger von Mandelentzündungen bekannt sind. In manchen Fällen können sie jedoch auch schwerwiegende invasive Infektionen verursachen. Diese als Toxisches Schocksyndrom und Nekrotisierende Fasziitis bezeichneten Erkrankungen können bis zum Tod führen", erklärt Virginia Castiglia, Doktorandin und Erstautorin der Studie. Im Rahmen eines vom Wissenschaftsfond FWF geförderten Projekts untersuchte die Nachwuchswissenschafterin, was auf molekularer Ebene bei invasiver Streptokokkeninfektion passiert. Ihre Ergebnisse zeigen, dass dem Molekül IL-1 eine Schlüsselrolle bei der Abwehr von Streptokokken zukommt: Gibt es zu wenig, nehmen die Bakterien Überhand und es kommt zur Blutvergiftung, gibt es zu viel, sind übermäßige Entzündungen die Folge. Beides kann fatal enden.

Das Zünglein an der Waage: Interferone vom Typ I

Wie aber wird die Menge an IL-1β reguliert? "Dafür sind Interferone vom Typ I (IFN-I) verantwortlich", sagt Studienleiter Pavel Kovarik: "Seit langem wissen wir, dass IFN-I bei der Abwehr von Viren helfen, ihre Rolle bei der Abwehr von Bakterien war jedoch bisher stark umstritten. Nun konnten wir in unserem Modellsystem zum ersten Mal zeigen, dass sie auch bei Bakterieninfektionen eine wichtige Rolle spielen, indem sie die Menge an IL-1β reduzieren und so eine übermäßige Entzündung verhindern".

Neue Therapien zur Behandlung invasiver Streptokokkeninfektionen

Diese Ergebnisse dürften nun die medizinische Forschung befeuern: Nach dem Modellsystem gilt es nun zu verstehen, wie die Menge an IL1-β im Patienten ausbalanciert wird und auch, wie sie mit dem Schweregrad der Infektion zusammenhängt. Virginia Castiglia erläutert: "In unserem Modell konnten wir zeigen, dass bei verminderter IFN-I Wirkung eine Behandlung mit Hemmern der IL-1β Synthese positive Effekte hat, weil die Balance wieder hergestellt wird. Hat man die Zusammenhänge zwischen IFN-I und IL-1β im Menschen verstanden, kann man solche und ähnliche Therapieansätze testen". Bisher lässt sich schwere invasive Streptokokkeninfektion nämlich nur symptomatisch behandeln. Antibiotika helfen nur im Frühstadium, und auch entzündungshemmende Mittel zeigen wenig Wirkung. Oft führt der Weg zur Heilung nicht an einer großflächigen Entfernung des entzündeten Gewebes vorbei. "Es gibt also noch viel zu tun", sagt Pavel Kovarik. Auch Virginia Castiglia widmet sich weiterhin der Infektionsbiologie. Seit Mitte Februar ist sie Postdoc am Institut Pasteur in Paris, gefördert mit einem Marie-Curie-Stipendium der Europäischen Union.


Publikation in "Cell Host & Microbe":
Virginia Castiglia, Alessandra Piersigilli, Florian Ebner, Marton Janos, Oliver Goldmann, Ursula Damböck, Andrea Kröger, Sigfried Weiss, Sylvia Knapp, Amanda M. Jamieson, Carsten Kirschning, Ulrich Kalinke, Birgit Strobl, Mathias Müller, Dagmar Stoiber, Stefan Lienenklaus & Pavel Kovarik: Type I Interferon Signaling Prevents IL-1β Driven Lethal Systemic Hyperinflammation during Invasive Bacterial Infection of Soft Tissue. In: Cell Host & Microbe (März 2016)
DOI: dx.doi.org/10.1016/j.chom.2016.02.003

Wissenschaftlicher Kontakt
Univ.-Prof. Dr. Pavel Kovarik
Department für Mikrobiologie, Immunbiologie und Genetik
Universität Wien
1030 Wien, Dr.-Bohr-Gasse 9
pavel.kovarik@univie.ac.at

Rückfragehinweise

Dr. Lilly Sommer
Max F. Perutz Laboratories
Communications
lilly.sommer@mfpl.ac.at

Mag. Alexandra Frey
Pressebüro der Universität Wien
Forschung und Lehre
1010 Wien, Universitätsring 1
alexandra.frey@univie.ac.at

• Über die MFPL
Die Max F. Perutz Laboratories (MFPL) sind ein gemeinsames Forschungs- und Ausbildungszentrum der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien am Vienna Biocenter, einem der größten Life Sciences Cluster in Österreich. An den MFPL sind rund 500 MitarbeiterInnen aus 40 Nationen in durchschnittlich 60 Forschungsgruppen mit Grundlagenforschung und Lehre im Bereich der Molekularbiologie beschäftigt.

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www.univie.ac.at

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution84

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universität Wien, Stephan Brodicky, 10.03.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2016

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